Jan Erhorn, Jürgen Schwier (Hrsg.): Die Eroberung urbaner Bewegungsräume
Rezensiert von Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt, 14.01.2016

Jan Erhorn, Jürgen Schwier (Hrsg.): Die Eroberung urbaner Bewegungsräume. Sportbündnisse für Kinder und Jugendliche. transcript (Bielefeld) 2015. 270 Seiten. ISBN 978-3-8376-2919-4. D: 34,99 EUR, A: 36,00 EUR, CH: 45,90 sFr.
Thema
Bewegung, Spiel
und Sport eröffnen Kindern und Jugendlichen vielfältige Potenziale
für bedeutsame Bildungs- und Erfahrungsprozesse: Sie lernen ihren
eigenen Körper kennen und nutzen, sie lernen sich mit anderen zu
verständigen und etwas gemeinsam zu machen, sie verbessern ihre
motorischen Fähigkeiten und trauen sich mehr zu. Freilich bleibt
dies nicht voraussetzungsfrei, müssen doch oft erst die Bedingungen
gestaltet werden, dass solche Prozesse in städtischen Räumen
(wieder) möglich werden.
Die Beiträge des vorliegenden Bandes
(der aus Mittel des BMBF-Programm „Kultur macht stark. Bündnisse
für Bildung/Programm Sport:Bündnisse! Bewegung – Bildung –
Teilhabe“ und mit Unterstützung der Deutschen Sportjugend
ermöglicht wurde) behandeln die Grundlagen und konkrete Maßnahmen
der Eroberung urbaner Bewegungsräume durch und mit Kindern und
Jugendlichen. Dabei wird deutlich: Insbesondere in urbanen Kontexten
müssen Bewegungsräume nicht nur vorhanden sein, sondern von den
Kindern und Jugendlichen auch angeeignet und genutzt werden können.
Das verweist auch auf eine solche Aneignungsprozesse ermöglichenden
Sozialen Arbeit, die Kinder und Jugendliche – auch im Konflikt mit
den Nutzungserwartungen und -gewohnheiten Erwachsener – ermächtigt
und befähigt, begleitet und unterstützt, in diesem Sinne
raumerobernd teilzuhaben.
Herausgeber
Dr. Jan Erhorn ist Juniorprofessor für Sportwissenschaft; seine Forschungsschwerpunkte bilden die Schulsportforschung, die frühkindliche Bewegungserziehung sowie Bewegung, Spiel und Sport in der Stadt.
Dr. Jürgen Schwier lehrt als Professor für Sportwissenschaft an der Europa-Universität Flensburg; seine Forschungsschwerpunkte sind die bewegungs- und sportbezogene Jugendforschung, Schulsportforschung sowie Sportkommunikation.
Aufbau und Inhalt
Der Sammelband präsentiert in erster Linie Befunde sportpädagogische Forschung zur Entwicklung, Umsetzung und Evaluation von Bewegungsangeboten für Heranwachsende in so genannten Brennpunkt-Stadtteilen der Stadt Flensburg. Zwar ist offenkundig, dass innerstädtische Räume vielförmige Möglichkeiten zum Spielen, Sich-Bewegen und Sportreiben auch für Kinder und Jugendlichen aus sozial ausgeschlossenen Familien bieten. Allerdings finden sie oftmals kaum Zugang zu solchen Bewegungs- und Sportgelegenheiten. Am Beispiel von lokalen Sportbündnissen in der Stadt Flensburg skizzieren die Herausgeber mögliche Wege einer institutionenübergreifenden Kinder- und Jugendarbeit, die das Sich-Bewegen im Freien nachhaltig fördert sowie gemeinsam mit den Heranwachsenden Prozesse der Erkundung und Gestaltung von Bewegungsräumen initiiert.
Dazu ist der Band systematisch in drei Themenblöcke gegliedert:
Den ersten thematischen Block bilden vier Beiträge zu aktuellen Fragen der sportwissenschaftlichen Kindheits- und Jugendforschung. Ahmet Derecik (Professor für Sport und Gesellschaft an der Universität Osnabrück) beschäftigt sich in seinem Beitrag „Sozialräumliche Aneignung von Räumen durch Jugendliche. Theoretische Grundlagen und beanspruchte Raumtypen in öffentlichen Räumen“ (S. 13 – 29) mit der sozialräumlichen Aneignung von Räumen durch Jugendliche und betont in diesem Zusammenhang unter anderem die Bedeutung des informellen Lernens für die Lebensbewältigung von Heranwachsenden, wobei zugleich die Frage einer jugendgemäßen Raumgestaltung in den Blick gerät. Weitere Beiträge von Michael Kolb (Professor für Bewegungs- und Sportpädagogik an der Universität Wien) zu Freestyle-Bewegungskulturen ( S. 31 – 46), Ina Hunger (Professorin für Sport und Erziehung an der Universität Göttingen) zur Verfestigung dualer Geschlechterbilder in der frühkindlichen Bewegungspraxis (S. 47 - 60) und Clemens Töpfer, Sebastian Liebl sowie Ralf Sygusch (alle drei Mitarbeiter des Instituts für Sport und Sportwissenschaft an der Universität Erlangen) zur Erschließung von Räumen mit Bewegung, Spiel und Sport (S. 61 – 85) vervollständigen den Theorieabschnitt des Bandes.
Das zweite Themenfeld umfasst fünf Beiträge von Jan Erhorn zu pädagogischen Maßnahmen, die sich (am Beispiel der Flensburger Stadtteilen Neustadt und Nordstadt) an Kinder aus den sozial benachteiligten richten: „Urbane Bewegungsräume mit Kindern erobern. Theoretische Vorüberlegungen“ (S. 89 – 107), „Bewegungsräume in der Kindertagesstätte gestalten. Offene Bewegungsangebote inszenieren“ (S. 109 – 127), „Bewegungsräume des Vereinssports mit Kindern erkunden. Institutionalisierte Formen von Sport und Bewegung erleben“ (S. 149 - 169) und (gemeinsam mit den Studentinnen Anna Grohmann und Lisa Sophie Lüthje) „Nicht alltägliche Bewegungsräume mit Kindern erkunden. Ausflüge vorbereiten, begleiten und nachbereiten“ (S. 171 – 191). Auch in seinem Beitrag „Bewegungsräume im Quartier mit Kindern erkunden. Spiel und Bewegung im Wohnumfeld fördern“ (S. 129 – 147) dringt Erhorn tief in die ursprünglich (sozialpädagogisch begründete) Domäne der Kinder- und Jugendarbeit ein, Kinder bei der Raumaneignung zu unterstützen: Nutzungsmöglichkeiten (theoretisch angeschlossen an Dieter Baackes sozialökologisches Zonenmodell und die Übergänge im ökologischen Nahraum) ergeben sich aus sozialräumlichen Erkundungsprozessen (wie sie unter anderem Richard Krisch beschrieben und methodisch ausgebreitet hat, vgl. z. B. „Sozialraumanalyse als Methodik der Jugendarbeit“ „Sozialraumanalyse als Methodik der Jugendarbeit“), die – begleitet durch pädagogische Profis – aufgesucht und erobert werden (vgl. S. 135 – 144). Aufschlussreich sind Erhorns (freilich nur knappen) Hinweise darauf, bei solchen Prozessen in nachfolgenden Interventionen „ein verstärktes Augenmerk auf der Ebene des Exosystems“ zu richten, vor allem „die Einstellungen und das damit verbundene Anregungs- oder Verbotsverhalten der Eltern“ (S. 145), also deren Unterstützung noch stärker zu berücksichtigen.
Die Beiträge des dritte n Themenfeldes kreisen um die Erkundung und Aneignung von urbanen Bewegungsräumen durch Jugendliche. Zunächst geht Jürgen Schwier in seinem Beitrag (S. 247 – 267) detailliert auf die für diesen außerschulischen Lernort charakteristischen Muster der Peer-Education ein und porträtiert die im Rahmen des Teilprojekts durchgeführten Kursangebote (BMX Girls Camp, Rampenbau-Schule, Trend-Sport-Tage). Mit der Orientierung am Ansatz der Peer-Education verbindet Schwier vor allem die „Anerkennung der Bedeutung sozialisatorischer Gleichaltrigenbeziehungen für die weitere Persönlichkeitsentwicklung“ und den „Respekt vor der Bewegungs- und Sportbiografie von Jugendlichen und ihrer Expertise in einer oder mehrerer Trendsportarten“ (S. 251). Die Nähe zu den vor allem von Martin Nörber und anderen entwickelten Perspektiven der Peer-Education (Peer Education. Bildung und Erziehung von Gleichaltreigen durch Gleichaltrige, Weinheim 2003, vgl. Rezension) ist nicht nur offenkundig und explizit gegeben, der Beitrag liefert auch weiteres Material zur Verdeutlichung des Konzepts. Zwei weitere Beiträge von Jürgen Schwier und Dirk Dillmann zu „Jugendarbeit und Medienpraxis im Feld des Trendsports“ (S. 195 - 216) und von Sara Karstens zur Raumaneignung als informellem Lernprozess, am Flensburger BMX- und Skateparks Schlachthof beispielhaft illustriert (S. 217 – 245), vervollständigen die Beleuchtung dieses Feldes.
Zielgruppen
Die vorliegende Veröffentlichung ist an Vertreter/innen der Sportwissenschaft, der Erziehungswissenschaft, der Soziologie und Praktiker/innen aus dem Bereich Sportpädagogik adressiert, kann aber ebenso von Akteur/inn/en der Sozialen Arbeit – insbesondere der Kinder- und Jugendarbeit – zu Anreicherung ihrer Praxis herangezogen werden.
Diskussion
Mit der Veröffentlichung liegt eine Art Forschungsbericht vor, dessen Befunde (jedenfalls in Zusammenhängen der Sozialen Arbeit) keine Überraschung auslösen dürften, sondern die Diskussionslage aus sportpädagogischer Perspektive anreichern werden. In einer aneignungsgeprägten Kinder- und Jugendarbeit sollte vieles davon selbstverständlich sein; nicht ohne Grund beziehen sich die Beiträge wiederholt z. B. auf Ulrich Deinet (vgl. dazu unter anderem „Das Aneignungskonzept als Praxistheorie für die Soziale Arbeit“, Rezension), der das Aneignungskonzept für die Kinder- und Jugendarbeit ganz nachdrücklich mitentwickelt hat.
Und doch: Gerade weil vieles zu vertraut klingt, lassen doch Feststellungen, wie sie z. B. Ahmed Derecik in seinem Beitrag formuliert, sicher nicht aufhorchen, aber sie vertiefen die Befundlage. Es ist nicht nur daran, festzustellen, dass Trendsportarten „in den wenigsten Kommunen durch eine Bereitstellung von Räumen gewürdigt und anerkannt“ (S. 23) werden. Auch werden „Rückzugs- und Kommunikationsnischen… im Zusammenhang mit der Gestaltung von öffentlichen Plätzen für Jugendliche … kaum berücksichtigt“, sondern „(i)m Gegenteil, bereits bestehende institutionalisierte öffentliche Räume wie Jugendeinrichtungen werden teilweise sogar geschlossen“ (S. 24): „Die empirischen Ergebnisse zu den dominanten Tätigkeiten von Jugendlichen legen nahe, dass dem Arrangieren von Treffpunkten und Szeneplätzen, in Form von abgeschotteten Aktivitätsinseln sowie Rückzugs- und Kommunikationsnischen, eine besondere Bedeutung zukommt. Allerdings fehlen derartige Räume für Jugendliche oftmals im öffentlichen Raum.“ An die Stelle der alten Parkbank, der Bushaltestelle oder der Grünanlage sind zunehmend und wachsende bedeutsam kommerzielle öffentliche Räume getreten (Shoppingsmalls, Schnellrestaurants u. ä.), die für Jugendliche interessant sind und „als geschätzte Treffpunkte … die Möglichkeit (bieten) zu sehen und gesehen zu werden“ (S. 25). Vor diesem Hintergrund stellen die Befunde, Projektskizzen und Anregungen des vorliegenden Bandes auch interessante Beiträge zu einer Diskussion dar, die die Kinder- und Jugendarbeit in Bezug auf ihre künftige Funktion, ihren künftigen Stellenwert im Prozess des Aufwachsens junger Menschen und nicht zuletzt auch ihrer urbanen (Handlungs-) Orte dringend zu führen hat.
Fazit
Auch wenn der Band – jedenfalls für die Soziale Arbeit – auf den ersten Blick keine wesentlichen Überraschungen enthält (sondern niveauvoll das vorhandene Wisse um Aneignungsprozesse junger Menschen in urbanen Räumen erweitert), so kann er doch für die Anreicherung der beruflichen Praxis auch dort von Interesse sein, weil gerade die im zweiten und dritten Teil enthaltenen Beispiele anregend sind. Sportfachliche und sportbezogene Angebote haben in der Vergangenheit immer wieder eine Rolle in der Weiterentwicklung von Projekten der Kinder- und Jugendarbeit gespielt: Hierin liegt der Reiz, den „Die Eroberung urbaner Bewegungsräume“ auch für sie haben kann. Kurzum: Ein lesenswerter Band.
Rezension von
Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt
Professur für Grundlagen und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule Magdeburg
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