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Marc Lehmann, Marcus Behrens et al. (Hrsg.): Gesundheit und Haft

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Klug, 09.05.2016

Cover Marc Lehmann, Marcus Behrens et al. (Hrsg.): Gesundheit und Haft ISBN 978-3-89967-897-0

Marc Lehmann, Marcus Behrens, Heike Drees (Hrsg.): Gesundheit und Haft. Handbuch für Justiz, Medizin, Psychologie und Sozialarbeit. Pabst Science Publishers (Lengerich) 2014. 609 Seiten. ISBN 978-3-89967-897-0. D: 60,00 EUR, A: 61,70 EUR, CH: 79,00 sFr.

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Thema

„Gefängnisinsassen sind meist vor, während und nach der Haft verschiedensten gesundheitlichen Risiken ausgesetzt – somatisch und psychosozial. Mit Haftantritt und Haftende wechseln jeweils die zuständigen Leistungsträger und Versorgungseinrichtungen; die Betreuung wird daraufhin oft verändert, unterbrochen oder abgebrochen. Der Strafvollzug hat den Auftrag, die Gefährlichkeit von Tätern zu minimieren und eine Resozialisierung anzubahnen. Eine qualifizierte Gesundheitsversorgung trägt wesentlich dazu bei. Am Beispiel Substanzabhängigkeit wird dies bereits auf den ersten Blick deutlich.

Ein rein medizinisch ausgerichteter Ansatz verbietet sich in den meisten Fällen. Ein multiprofessionelles Engagement ist in der Regel indiziert. Die Gesundheitssorge wird maßgeblich vom Personal bestimmt – seiner Qualifikation, seiner Einstellung und seinem Menschenbild.

Ziel dieses Buches ist es, alle in diesem Feld arbeitenden Akteure zu sensibilisieren. Die Handlungsempfehlungen sollen dazu beitragen, Versorgungsschwierigkeiten zu minimieren und generell die gesundheitliche Situation der Gefangenen zu verbessern – vor, während und nach der Haft. Das Buch adressiert Leitungen und Entscheidungsträger, den allgemeinen Vollzugsdienst, die sozialen, psychologischen und medizinischen Dienste sowie die Bewährungshilfe.

Die Beiträge – aus unterschiedlichen, teils konträren Perspektiven verfasst – regen zu kritisch-konstruktiven Reflexionen an und dienen gleichzeitig der alltagspraktischen Handlungskompetenz. Sie informieren ausführlich über den Lebensraum Haft mit dem besonderen Blickwinkel auf die gesundheitlichen (sic!) Versorgung.“ (http://www.pabst-publishers.de/Medizin/buecher/9783899678970.htm)

Aufbau

Der Band ist entstanden als Ergebnis einer Fachtagung zum gleichen Thema, er gliedert die Tagungsbeiträge in drei Kapitel und versammelt darunter thematisch entsprechende Artikel.

Zu I. Allgemeiner Teil/Strukturen

Unter der Überschrift „Vor der Haft“ werden zunächst verschiedene Perspektiven zum Thema „Haftvermeidung“ beleuchtet:

  • Aus politischer Sicht (laut Inhaltsverzeichnis) oder „kriminalpsychologischer bzw. kriminalpolitischer Sicht“ (laut Artikelüberschrift) nimmt Steffen Bieneck die Präventionsthematik unter die Lupe. Er erläutert primäre, sekundäre und tertiäre Präventionsansätze und schließt bezüglich des Übergangsmanagements mit der These: „Die kriminologische Forschung und einschlägige Erfahrungen haben gezeigt, dass Wohnraum und ein Arbeitsplatz […] wesentliche Voraussetzungen für eine gelungene Wiedereingliederung in die Gesellschaft darstellen.“ (S. 32) Wenn von „kriminologischer Forschung“ gesprochen wird, wäre ein entsprechender Beleg wünschenswert.
  • Das Thema „Haftvermeidung? eine Abhandlung aus juristischer Sicht“ erläutert Bill Borchert anhand verschiedener Topics (Aufschiebung einer Vollstreckung von Freiheitsstrafen z. B. bei „Geisteskrankheit“ oder lebensbedrohender Erkrankung).
  • Ursula Groos befasst sich mit „Zurückstellung der Strafe gemäß §§ 35, 36 BtMG und Antrag auf Gnade“.
  • Aus medizinischer Sicht berichten Jörg Gölz und Katharina Liebau über Erfahrungen als substituierende Ärzte (Titel: „Haftvermeidung/Vor der Haft“). Sie belegen eindrücklich und mit Fallbeispielen ihre These der Sinnlosigkeit von der Bestrafung Drogenabhängiger und die Notwendigkeit einer Abkehr von der Abstinenztherapie. Ein großes Problem dabei ist, dass die beteiligten Institutionen (Justiz/Therapie) unkoordiniert nebeneinanderher arbeiten.
  • Elke Bahl beschreibt die sozialarbeiterische Sicht („Haftvermeidung aus gesundheitlichen Gründen – Welche Möglichkeiten bietet die Soziale Arbeit?“) mit einigen Projekten, die als Alternative zur Freiheitsstrafe und Untersuchungshaft entwickelt wurden. Das Fazit der Autorin: „Die dargestellten Beratungs- und Unterstützungsangebote zur Vermeidung von Haft machen deutlich, dass es der Sozialarbeit nicht an Phantasie und Engagement mangelt, der Justiz mit ihren Verwahrungs- und Strafansprüchen Alternativen zu bieten.“ (S. 74)
  • Ein weiteres Unterkapitel zur Überschrift „Vor der Haft“ widmet Jan Winkler dem Thema „Haftvorbereitung aus psychosozialer Sicht“. Es werden die Sichtweisen verschiedener Professionen angeboten, aber auch die strukturellen, organisatorischen und prozessualen Voraussetzungen für eine gelingende Haftvorbereitung erläutert. Der Autor legt hierbei das allerdings schon in den 60erJahren veröffentlichte entwicklungspsychologische Phasenmodell von Erikson zugrunde, und wendet dieses Modell auf die Personengruppe mit einer Reihe von (allerdings nicht genau belegten) Ergebnissen aus der Forschung an. Inwieweit z. B. das fehlende „Urvertrauen“ als Erklärung für Kriminalität (theoretisch und noch mehr praktisch) hilfreich ist, steht aus Sicht des Rezensenten doch sehr infrage. Als „verbindliche Handlungsgrundlage“ wird Case Management vorgeschlagen (S. 86).
  • Aus medizinischer Sicht beschreibt Marc Lehmann zunächst klassische Vorgehensweisen (medikamentöse „Triebdämpfung“, Substitution, Zwangsmedikation), um sich dann der Vollzugsvermeidung durch Begutachtung zu widmen (z. B. bei konkreter Lebensgefahr durch die Vollstreckung). „Wichtig ist, dass die Gutachter die gesundheitlichen Risiken und Belastungen in einer Haftanstalt kennen und über gute Informationen der spezifischen medizinischen Möglichkeiten der einzelnen Haftanstalten verfügen.“ (S. 96)

Es folgen eine Reihe Artikel unter der Überschrift: „Während der Haft“.

  • Der erste von ihnen ist von Karin M. Meissner mit „Juristische Aspekte der Medizin in Haft“ überschrieben. Er behandelt gesundheitliche Aspekte der Untersuchungshaft und des Justizvollzugs (z. B. Selbst- und Fremdgefährdung), sowie Einzelaspekte wie Menschenwürde, Beschwerde, Mitwirkungspflicht, Gesundheitsfürsorge in der Haft und Schweigepflicht.
  • Die folgenden Unterkapitel gliedern die Artikel analog der Haft eines Gefangenen. Zunächst werden Gesichtspunkte zur Phase „Frühe Haftphase/Zugang U-Haft“ erörtert: Aus sozialarbeiterischer Sicht nimmt Jörg Troike („Untersuchungshaft – Vollzugliche Handlungsfelder in einer Wartesituation“) zur Untersuchungshaft Stellung. Er skizziert das Zugangsgespräch, Sicherheitsaspekte, den Haftverlauf bis zur Urteilsverkündung und die Arbeitsgruppe Suizidprophylaxe. Es folgen (mit Spiegelstrichen dargestellte) Angebote externer Anbieter und ein kurzer Artikel über „wohngruppenanalogen“ Vollzug. Er fordert (nicht ganz passend zu seinem Thema) mehr Anstrengungen im „Übergangsmanagement“.
  • Stefanie Behrens und Marc Lehmann skizzieren die medizinische Versorgung in der Untersuchungshaft und der frühen Haftphase.
  • Das Unterkapitel „Im Laufe der Haft“ wird mit einem Artikel von Michaela Stiepel („Psychische Gesundheit im Gefängnis“) begonnen. Interessanterweise steht zunächst nicht die psychische Gesundheit der Inhaftierten im Vordergrund, sondern die der Bediensteten. Unter Bezugnahme auf den Essay des Germanisten Christoph Bartmann („Leben im Büro. Die schöne neue Welt der Angestellten“ von 2012) behauptet die Autorin, dass „mittlerweile im Strafvollzug wie auch im gesamten öffentlichen Dienst, flächendeckend das NPM [New Public Management] „eingeführt“, besser gesagt „übergestülpt wurde“ (S. 137). Unter Bezug auf den Objektbeziehungstheoretiker Bion wird betont, dass damit „Aspekte der Bindungs- und Beziehungsarbeit mit den Inhaftierten und der ihr eingeschriebenen Qualitäten des ‚Containment’ gleichsam verworfen“ (ebd.) würden. „Containment“ meint die Vorstellung, dass eine Helferbeziehung analog der Mutter/Kind-Dyade konstruiert werden müsse. Der Helfer müsse gleichsam die belastenden psychischen Qualitäten des Klienten in sich aufnehmen (Container) und umwandeln. Statt dieser im Beziehungskontext zu verstehenden Umwandlungsprozesse würden unter den Vorzeichen von NPM mit Zielvereinbarungen, Case Management und Projekten, vorrangig „Verfahrensfragen“ bearbeitet (S. 138). Das führe zu einem „induzierten managerialen Stress“ (ebd.). Der Rezensenten zweifelt sehr, dass die behaupteten Zusammenhänge tatsächlich empirisch nachprüfbar sind und noch mehr daran, dass man mit psychoanalytischen Denkmodellen im Strafvollzug so unterkomplex operieren kann.
  • Um die medizinische und ärztliche Versorgung geht es Thomas Menn in seinem Beitrag. Diskutiert werden Versorgungsfragen unter dem Aspekt aktueller Entwicklungen (z. B. Schließung von Vollzugskrankenhäusern, Föderalismusreform). Eine Reihe von weiteren Detailproblemen (z. B. Heil- und Hilfsmittel, Medizinische Rehabilitation, Sexualtherapie, Erstbelehrung nach dem Infektionsschutzgesetz, Kostverordnung) kommen zur Sprache.

„Vor der Entlassung“ ist das nächste Unterkapitel überschrieben.

  • Karola Kroworz betitelt ihren Artikel mit „Gesundheit vor dem Hintergrund einer nachfolgenden Bewährungs- und Führungsaufsicht“. Sie befasst sich mit dem Aufgabenspektrum des SozGJ (Sozialer Dienst der Justiz Berlin), beschreibt dort die Aufgabenfelder Gerichtshilfe, Bewährungshilfe, Führungsaufsicht, um dann (etwas unvermittelt) auf das Thema „Gesundheit“ einzugehen. Ihre These: „Betrachtet man Gesundheit als ein prozesshaft verlaufendes und ganzheitliches Entwicklungsgeschehen, müssen vielfältige Einflüsse und Verflechtungen berücksichtigt werden. Eine gezielte Einflussnahme auf solche Prozesse steht im Fokus Sozialer Arbeit.“ (S. 174) Dieser weit reichende Ansatz einer „Balance zwischen Risiko- und Schutzfaktoren“ wird in der Sozialarbeit verwirklicht: „Die Bewährungshilfe wendet Methoden der Einzelfallhilfe in Anlehnung an psychotherapeutische Konzepte in einem standardisierten Verfahren probandenorientiert an. Standards der Sozialen Arbeit wie z. B. ein ganzheitlicher Ansatz, Ressourcenorientierung, Hilfe zur Selbsthilfe, Hilfeplanung gelten auch für die Arbeit der Bewährungshilfe. Einer besonderen Aufmerksamkeit unterliegt die Arbeit mit hoch rückfallgefährdeten Gewalt- und Sexualstraftätern. Eine aus sozialpädagogischer Sicht vorzunehmende Einschätzung des möglichen Rückfallrisikos dieser Straftäter einschließlich Erkennen und Bewerten von Rückfall befördernden bzw. Rückfall reduzierenden Faktoren, ist derzeit ein interner Fortbildungsschwerpunkt in der hiesigen Bewährungshilfe.“ (S. 175) Diesen Einsichten schließt sich der Rezensent gerne an.
  • Ein sehr kurzer Beitrag von Thomas Menn, „Vor der Haftentlassung aus medizinischer Sicht“, behandelt kaleidoskopartig Fragestellungen wie „Gefangener verstirbt in Haft“ oder „Haftende während eines stationären Krankenhausaufenthaltes“. Bemerkenswert ist, dass er zwar aus medizinischer Sicht berichten will, dies aber fast ausschließlich sozialrechtlich tun.

Es folgen drei Beiträge unter der Teilüberschrift „Nach der Haft“.

  1. Gisela Seeger berichtet aus ihrer langjährigen Erfahrung aus der Praxis der Bewährungshilfe beim Haftaustritt und bei der Haftentlassung: „Für die Phase der Haftentlassungsvorbereitungen, dem sogenannten Übergangsmanagement, hat sich in Berlin seit vielen Jahren eine Kooperationsvereinbarung zwischen den Justizvollzugsanstalten und den Sozialen Diensten der Justiz des Landes Berlin […] bewährt“ (S. 189 f). In diesem Zusammenhang erhält die Bewährungshilfe positive Stellungnahmen der Haftanstalten zur Aussetzung der Reststrafe. Die Autorin reflektiert den offenen Vollzug, die gesetzlichen Grundlagen der Führungsaufsicht, die Abschiebehaft, die „Vollverbüßer“ und (ausführlich) das „Arbeitspensum“ eines Bewährungshelfers. Es folgen noch detaillierte soziometrische Daten und anschließend, statt einer Methodik der Bewährungshilfe, hauptsächlich Informationen darüber, was diese nicht kann (Beschaffung von Wohnung und Arbeit) und welche Probleme ihre Klientel machen (Widerstand, geringe Frustrationstoleranz, keine Motivation). Da man sich von Professionellen gemeinhin professionelle Lösungen für die von ihnen zu erfüllenden Aufgaben erhofft, hätte man wohl mehr methodische Substanz erwarten können.
  2. Ebenfalls aus Sicht der Bewährungshilfe schreiben Bettina Rienth und Jenny Binscheck, die sich im Wesentlichen auf die Darstellung von Fallbeispielen aus einem Frauenprojekt im Rahmen der Gerichtshilfe beschränken.
  3. Der Artikel von Martin Czarnojan und Michael Wedekind „Gesundheit und Haft“ (im Inhaltsverzeichnis betitelt: „Aus der Praxis eines Freien Trägers“) schließt den allgemeinen Teil ab. Er berichtet zunächst über die wichtigsten Probleme der Haftentlassenen (Wohnen, materielle Existenz, Gesetzliche Krankenversicherung). Unter der Überschrift „Gesundheit im Alltag – eine Daueraufgabe für Klienten und Betreuer“ werden besondere Krankheiten von Haftentlassenen beschrieben, anschließend erfolgt die „Vermittlung in gesonderte Hilfsangebote (Netzwerkarbeit, Case Management)“ (S. 219). Abgesehen davon, dass Case Management mit „Vermittlung“ kaum hinreichend beschrieben ist, wäre über die Schilderung der Beratungsformen (Schuldnerberatung, Suchtberatung, Eingliederung in Arbeit) hinaus interessant, was der „Freie Träger“ außer der Vermittlung tut und wie seine „Netzwerkarbeit“ konkret aussieht.

Zu II. Spezieller Teil

Der zweite Teil gliedert sich in zwei Unterkapitel, die mit „Problemfelder“ und „Zielgruppen“ überschrieben sind.

Zu: „Problemfelder“

  • Gundula Barsch und Astrid Leicht führen mit dem Artikel „Drogenkonsum und Abhängigkeit/Sucht – Begrifflichkeiten und Diagnostik“ sachkundig in das Thema „Sucht“ ein, liefern eine begriffliche Klärung, widmen sich der Frage, wo die Ursachen des Drogenkonsums liegen und erörtern ausführlich Abgrenzungsfragen von alltäglichem Gebrauch-Missbrauch und Abhängigkeit. Schließlich finden sie noch Raum für das Thema Schädigung durch Drogen und den Nutzen von Diagnostik der Drogenabhängigkeit.
  • Substitution in Haft“ ist der Artikel von Karlheinz Keppler überschrieben. Er beklagt die Überregulierung des Substitutionsverfahrens, referiert den Nutzen der Substitutionsbehandlung und legt einen sehr informativen Überblick über Substitution im Justizvollzug in den einzelnen Bundesländern vor. Anschließend beschreibt er einige Probleme von Substitution im Strafvollzug (z. B. geringe Akzeptanz beim Personal).
  • Das Gegenstück dazu, nämlich „Substitution in Freiheit“, wird von Chaim Jellinek und Bernd Westermann dargestellt. Sie beginnen mit dem wenig überraschenden Ergebnis einer Umfrage unter mit Substituierten befassten „Notdienst-Mitarbeiter/-innen“, die das Rückfallrisiko nur bei unter 10 % sehen; danach folgen ausführliche Fallgeschichten. Der Artikel schließt mit, wahrscheinlich nur für Insider verständlichen Forderungen wie z. B.: „Alles organisatorisch Mögliche sollte unternommen werden, um ein Ankommen ohne ‚Brückentage’ zu unterstützen. (Ein Zurück zur früher gern gesehenen ‚Eskortierung’ löst das nicht wirklich.).“ (S. 289)
  • Mit dem Thema „Tabakgebrauch in Gefängnissen: ein neues altes Thema“ beschäftigen sich Heino Stöver und Catherine Ritter. Die traurige Aktualität des Themas (derzeit sind 79 % der Inhaftierten nikotinabhängig) und die mangelnde Unterstützung bei der Tabakprävention nimmt der Artikel zum Anlass, eine ebenso kompakte wie schlüssige Präventionsstrategie für Häftlinge und Bedienstete vorzulegen. Diesem Artikel ist eine weite Verbreitung bei Verantwortlichen der JVA zu wünschen.
  • Norbert Konrad befasst sich mit dem Thema „Psychische Störungen/Erkrankungen in Haft“. Der herausragend informative Artikel klärt, warum ein psychisch Kranker in Haft kommt und welche Problematik durch die Wechselwirkung von Haft und psychischen Erkrankungen entsteht (Haftpsychosen). Sein Fazit legt er in einer Reihe von Forderungen dar, die darin münden, eigene, in das Justizsystem eingebundene psychiatrische Abteilungen zu etablieren, die „eine eindeutig therapeutische Orientierung erhalten“ sollten. (S. 315) Ein sehr lesenswerter Artikel!
  • Eine verwandte Problematik nimmt sich Katharina Bennefeld-Kersten in ihrem Beitrag „Suizidalität – Ereignisse und Nichtbewältigung im Gefängnis“ vor. Sie zeigt beispielhaft an einem Fall auf, welche von außen gesehen oft banalen Ursachen in Haft zu einem Suizid führen, sie diskutiert die „üblichen“ Maßnahmen (z. B. Unterbringung im besonders gesicherten Haftraum, abgekürzt „bgH“) und deren sehr häufige Folgen („Aus der Gruppe derjenigen, die sich getötet haben, waren Gefangene mit Hinweisen auf Suizidgefahr signifikant häufiger im bgH untergebracht worden als Gefangene, für die man keine Anhaltspunkte für eine suizidale Entwicklung erhalten hatte.“ (S. 325) ). Überlegungen zu einer Verbesserung der Situation komplettieren die Themenbehandlung.
  • Gewalterfahrungen bei Inhaftierten“ (in Inhaltsverzeichnis steht als Titel: „Gewalt und Aggression, Psychotrauma“) ist das Thema von Jens Wittfoot. Er geht auf biografische Gewalterfahrungen von Inhaftierten ein, führt aus, dass diese Traumatisierungen Risikofaktoren für einen möglichen Rückfall darstellen, und gibt daraus ein mögliches Erklärungsmodell für dissoziale Störungen. Er konstatiert einen erheblichen Nachholbedarf hinsichtlich Erkennung und Behandlung von Traumafolgestörungen in Haft. Des Weiteren wird das Thema „Gewaltausübung unter Inhaftierten“ auch unter besonderer Berücksichtigung der Haftbedingungen erörtert.
  • Somatik in der Gefängnismedizin“ lautet der Beitrag von Jochen Woltmann. Hier geht es um Erkrankungen „im Krankengut eines Gefängniskrankenhauses“. (S. 343) Die ganze Palette von Infektionskrankheiten über Kreislauferkrankungen bis Hauterkrankungen und chirurgisch-orthopädische Krankheiten kommen zur Sprache.
  • Eine sehr ähnliche Thematik verfolgt Jukka Hartikainen („Infektionskrankheiten“) und legt einen Schwerpunkt hierbei auf HIV und Hepatitis.
  • Oliver Kaiser überschreibt seinen Artikel mit „Die Brücke nach draußen – Gelingendes Überleitungsmanagement und Nachsorge am Beispiel des Nachsorgeprojektes Chance“. Hier werden die Prinzipien des Nachsorgeprojektes Chance beschrieben, die in einigen anderen Publikationen schon ausführlich dargelegt wurden. Interessant ist der Hinweis auf die erfolgte Evaluation und das angekündigte nunmehr regelfinanzierte Nachsorgeprojekt in Baden-Württemberg.
  • Versorgungsstrukturen bei Entlassung aus dem Vollzug“ sind das Thema von Regina Schödl und Matthias Lauter. Hier geht es um Probleme nach der Haftentlassung und sozialrechtliche Ansprüche auf der Grundlage der Sozialgesetzbücher.
  • Mit einem Beitrag zu „Patientenrechte in Haft“ von Mario Bachmann und Ferdinand Goeck wird das Unterkapitel der „Problemfelder“ abgeschlossen. Die Autoren begründen ihre Ausführungen mit der sog. „Genfer Erklärung“, die von den Teilnehmern der 6. Europäischen Konferenz zur Gesundheitsförderung in Haft (2012) verabschiedet wurde und die weitgehend mit den Empfehlungen des Europarates über die ethischen und organisatorischen Aspekte der gesundheitlichen Versorgung in Vollzugsanstalten (1998) übereinstimmen. Sie vergleichen diese Forderungen mit der Wirklichkeit in deutschen Gefängnissen und kommen zu dem Schluss, „dass die in der ‚Genfer Erklärung’ zum Ausdruck kommenden Mindeststandards der intramuralen Gesundheitsfürsorge auch in Deutschland bisher nicht hinreichend gewährleistet sind.“ (S. 403) Sie plädieren für die eine unabhängige Patientenvertretung.

Zu: „Zielgruppen“

  1. „Migration“ steht im Inhaltsverzeichnis, „Psychisch kranke Patienten mit Migrationshintergrund im Justizvollzug“ lautet der Artikel. Vom Justizvollzug ist allerdings in dem gesamten Text von Meryam Schouler Ocak kaum die Rede, bis auf einige wenige Sätze, wie z. B. dieser: „ […] dass alle Mitarbeiter in den Justizvollzugseinrichtungen entsprechend sensibilisiert und in der interkulturellen Kompetenz geschult werden müssen. Dies ist auch deshalb von großer Bedeutung, da die inhaftierten Patienten mit Migrationshintergrund keine Alternative in der Auswahl der Behandler haben.“ (S. 414) So informativ der Artikel in Bezug auf psychische Erkrankungen von Menschen mit Migrationshintergrund ansonsten ist (mit großem Literaturverzeichnis), so wenig trägt er zum Verständnis dieser Zielgruppe im Justizsystem bei.
  2. Marcus Behrens überschreibt seinen Beitrag mit: „‚Wozu verteilen Sie denn hier Kondome?’-Sexuelle Orientierung in Haft als Anknüpfungspunkt für Gesundheitsprävention“. Er beschreibt die Situation schwuler Männer im Allgemeinen und in Haft im Besonderen. Auch hier werden viele Seiten mit dem Thema „homosexuelle Orientierung“ ohne jeden Bezug zum Haftthema gefüllt (z. B. Ehegattensplitting, Adoption, Lebenspartnerschaftsgesetz). Glücklicherweise kommen im zweiten Teil Erfahrungen mit schwulen Männern im Berliner Strafvollzug zur Sprache. Aus der Perspektive des schwulen Informations- und Beratungszentrums werden die verschiedenen Probleme schwuler Männer geschildert (z. B. Diskriminierung, Coming-Out, Sexualität), die Angebote beschrieben und es wird empfohlen, „dieser Gruppe mehr Aufmerksamkeit zu widmen.“ (S. 439)
  3. Im Themenbereich „Gender“ schreiben Marcus Behrens und Susanne Reuter über „Geschlechtsspezifische Gesundheitsvorsorge und -versorgung in Haft“. Sie schreiben: „Entsprechend des geschlechterdifferenzierten Ansatzes gliedert sich der Beitrag nach einer kurzen Einleitung in einen frauenspezifischen und einen männerspezifischen Teil.“ (S. 441) Der frauenspezifische Teil befasst sich mit „Trauma und Sucht“. Darin wird die „stärkere Betonung des Re-Sozialisierungsgedanken[s] bei gleichzeitiger Ermöglichung von mehr Lockerungen für Frauen während der Haft und der Einführung von Selbstversorgungssystemen zum Erhalt und Ausbau der Selbstständigkeit“ (S. 450) gefordert. Ebenso sollte „der Einsatz genderspezifischer Trainings für das Personal im Frauenvollzug […] selbstverständlich sein.“ (S. 449) Auch der männerspezifische Aspekt im Strafvollzug verlangt eine „grundlegende Auseinandersetzung mit Männlichkeitsbildern sowohl seitens des Personals in einer JVA als auch der inhaftierten Männer allgemein“. (S. 453) Die Autoren schlagen ein psycho-edukatives Training mit einem Modul „Mann-Sein“ vor. Bleibt allerdings zu fragen, ob Verhaltensweisen wie ungesundes Essen und Rauchen „typisch männliche Verhaltensweisen“ (S. 458) sind (die im gleichen Band von Stöver/Ritter vorgelegten Zahlen legen den gegenteiligen Schluss nahe) oder anders gefragt, inwieweit die Reflexion typisch männlichen Verhaltens automatisch auch gesundheitsfördernd ist.
  4. Petra Hinzmann skizziert Gedanken zum Thema „Alter im Vollzug“. Sie stellt fest: „Aufgrund der veränderten Bedürfnisse im Alter und der vorhandenen gesundheitlichen Einschränkungen werden besondere Anforderungen an die Räumlichkeiten und das Personal einer Vollzugseinrichtung für ältere und pflegebedürftige Inhaftierte gestellt.“ (S. 462)
  5. Die gesundheitlichen Probleme von Jugendlichen im Vollzug beleuchtet Andreas Schindler in seinem Beitrag „Jugendvollzug“. Er konstatiert einen sehr hohen Bedarf an psychiatrisch-psychologischer Behandlung von Jugendlichen in Haft, da ein hoher Prozentsatz von ihnen an psychotischen Störungen und Persönlichkeitsstörungen leidet, die meist einhergeht mit Drogenmissbrauch. Als Möglichkeiten werden die psychiatrische Therapie, die Drogensubstitution, die allgemeinmedizinische Betreuung und die Betriebsmedizin vorgestellt. Aus Sicht des Rezensenten ein wichtiger Beitrag!
  6. Mit „Sexualpädagogik und Gesundheitsförderung im Jugendarrest – Befunde einer explorativen Studie“ im Berliner Jugendarrest, überschreiben Thomas Wilke, Jochen Drewes, Phil C. Langer und Uwe Koppe ihren Artikel. Sie untersuchen den Wissenstand insbesondere zu HIV und Frühschwangerschaften und kommen zu dem Fazit: „Die Untersuchung zeigt, dass es sich bei den Arrestanten um eine besonders vulnerable Zielgruppe handelt, nicht nur in Bezug auf HIV/STIs, sondern auch in Bezug auf frühe Elternschaft. So ist bei den Jugendlichen ein vielfach diffuser, teilweise sehr gering ausgeprägter Wissensstand zu vermerken, der insbesondere die Übertragungswege von HIV betrifft.“ (S. 495) Insofern sei die „systematische Förderung sozialer Kompetenzen in entsprechenden Gruppenangeboten wie in sozialen Trainingskursen im Berliner Jugendarrest […] in dieser Hinsicht bedarfsgerecht zu nennen.“ (S. 496) Für die (gewagte) Behauptung, diese Trainingskurse seien geeignet, dass die Jugendlichen „den umfassenden gesellschaftlichen Anforderungen zukünftig mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als zuvor […] entsprechen“ oder gar zu „einer substanziellen Verbesserung der Lebenschancen der Jugendlichen an gesellschaftlicher Teilnahme und -habe“ führten (S. 496), fehlen allerdings die empirischen Nachweise.
  7. Einen großen Forderungskatalog birgt der Artikel „Drogen, Tätowieren und Sex in Haft – warum können wir Realitäten nicht (an)erkennen und entsprechend handeln?“ von Bärbel Knorr. Sie fordert die Freigabe der Drogen in Haft, deren Entkriminalisierung, zumindest aber Spritzenvergabe, Substitution und Therapie, des Weiteren das Ende des Tätowierungsverbotes, Kondom- und Gleitmittelvergabe sowie Langzeitbesuchsräume, „in denen Gefangene mit ihren Partner/-innen gemeinsamen Sex erleben können“. (S. 509)
  8. Mit der „Rolle der Bediensteten“, wie im Inhaltsverzeichnis zu lesen steht, befassen sich Jürgen Herzog und Bernd Künecke zwar auch, aber überschrieben ist ihr Artikel „Die Bedeutung des Allgemeinen Vollzugsdienstes (AVD) für die gesundheitliche Situation der Gefangenen“. Ihre Fragestellungen: „Welchen direkten und indirekten Einfluss nehmen oder könnten die Bediensteten des AVD auf die gesundheitliche Lage der Gefangenen nehmen? Wie sind sie hierfür qualifiziert und welche Bedingungen des Vollzugsalltages behindern diese gesundheitlichen Versorgungsleistungen?“ (S. 510) Das Dilemma des AVD wird schnell sichtbar: Er soll Suizidgefahren erkennen, sensibel sein für Entzugssymptome, vertraut sein mit psychischen Erkrankungen, soll zur Körperhygiene und zum Sport animieren, gleichzeitig aber bei Ausführungen aus medizinischen Gründen „ein Entweichen, zum Beispiel bei vorgetäuschter Erkrankung […], verhindern. […] In der Praxis bedeutet dies beispielsweise über die geeignete Art der Fesselung zu entscheiden.“ (S. 515 f.) Die aus dieser Doppelrolle entstehenden Konflikte werden ebenso beschrieben wie die (Berliner) Ausbildungskonzeption und die alltäglichen Probleme des AVD.
  9. Mit dem Beitrag „Gesundheit in Haft aus Sicht der Forschung, Wissenschaft und ausgewählter Institutionen“ von Katrin Erbacher und Heike Drees wird das zweite Kapitel („Spezielle Themen“) beendet. Dieser Überblicksartikel mit einer großen Liste an weiterführender Literatur zeigt auf, wie umfangreich mittlerweile die Forschung im Bereich Drogen, Infektionskrankheiten und psychische Störungen ist. Im Folgenden werden verschiedene Institutionen vorgestellt, die sich für die Gesundheitsfürsorge in Gefängnissen einsetzen (z. B. UN, WHO). „Good-Practice-Projekte“ in punkto Implementierung aber auch im Qualitätsmanagement sollen als Vorbild für wissenschaftliche Forschung dienen. Ein Ländervergleich rundet diesen sehr lesenswerten und gelungenen Artikel ab.

Zu III. Ausblick

Das Beispiele aus der Schweiz von Hans Wolff ist betitelt „Gute Versorgung in Haft!? Betrachtungen außerhalb deutscher Zwänge: Genf, Schweiz“. Der Autor berichtet, dass in Genf die Forderungen verwirklicht sind, die auch die deutschen Autoren in diesem Band erheben (z. B. Spritzentausch), muss aber einräumen, dass das Genfer Beispiel auch in der Schweiz einmalig ist, also in den meisten Schweizer Kantonen kein Spritzentauschprogramm implementiert wurde. Offenbar sind es nicht spezifisch „deutsche Zwänge“, die zu einer restriktiven Drogenpolitik führen. Weshalb der Artikel dann doch so überschrieben ist, erläutert der Autor nicht.

Jörg Pont beschreibt „einige internationale Aspekte“ zum Thema „Gesundheit und Haft“. Neben einigen interessanten Details aus verschiedenen Ländern, findet man in dem Artikel die bereits vielfach erörterten Forderungen nach Maßnahmen zur Gesunderhaltung in der Haft.

Die italienische Sicht schildern Robert Monarca et al. im Beitrag „Die Kontinuität der gesundheitlichen Betreuung im italienischen Gefängnissystem“. Leider widmet sich dieser Artikel lediglich die ersten Seiten dem eigentlichen Thema – allerdings in sehr interessanter Weise. Danach referiert er nur noch sehr allgemein den Nutzen der Substitutionstherapie, die Prävalenz infektiöser Erkrankungen, antivirale Kombinationstherapie, Überleitungsprogrammen aus den USA etc., und leitet über zum „Soll-Zustand“. Typische Sätze lauten: „Ein geeignetes Protokoll für die Behandlungskontinuität sollte…“ oder „Der Koordinator des medizinischen Personals sollte…“ oder „Bei der Überstellung in andere Gefängnisse sollte…“ oder „Bei der Freilassung des Gefangenen sollte…“ (alle Zitate S. 588) – sprich: Der Artikel wechselt (leider) von der konkreten Beschreibung des italienischen Gefängnissystems in einen recht allgemeinen normativen Forderungskatalog. Dabei hätte man gerne etwas mehr über die italienischen Verhältnisse erfahren.

Der letzte Artikel stammt von Fabio Sternberg und befasst sich aus spanischer Sicht mit dem Thema: „Throughcare im Vollzug: Wie Throughcare in Spanien funktioniert“. Wer es bis hierhin geschafft hat, erhält einen kompakten, sehr informativen, mit vielen Zahlen und Fakten belegten Beitrag zum Thema.

Diskussion

Wenn man die Aufgaben eines Herausgebers mit den „4-S“ beschreibt: Sammeln-Sichten-Selektieren-Strukturieren, ergibt sich aus Sicht des Rezensenten folgende Bewertung:

Sammeln: Bei einer 600-Seiten(!)-Texte-Sammlung muss man natürlich zunächst Lob zollen, denn jeder, der Ähnliches unternommen hat, weiß, wie schwierig es ist, so viele Autoren unter einen Hut zu bringen. Es ist erkennbar, dass die Herausgeber viel im Berliner Raum gesammelt haben, was interessant, manchmal aber auch schwierig ist, denn der eine oder andere Berliner Autor ahnt offenbar nicht, dass es Leser außerhalb Berlins gibt. Einen Satz wie „Rechtspflegerinnen der Berliner Staatsanwaltschaft demonstrieren in Sachen § 35 ff. BtMG gelegentlich wenig informierte, dafür aber umso kühnere Ideen“ (S. 278), versteht jedenfalls der Rezensent aus Bayern nicht. Andererseits ist die Schwierigkeit natürlich nicht zu verkennen, die das föderale System im Justizsektor mit sich bringt. Jede Aussage zu einem Bundesland kann mit einer Gegenthese aus einem anderen Bundesland konterkariert werden. Insofern kann man das Vorgehen der Autoren durchaus nachvollziehen.

Sichten: Zur Sichtung gehört es natürlich, die Schwerpunkte und den Charakter des Bandes festzulegen. Hier ist Teil II deutlich stärker am Rahmenthema orientiert als Teil I, der sich eher an einer chronologischen Abfolge (vor-während-nach der Haft) orientiert. Es zeigt sich insbesondere in Teil II, dass die Themen Sucht-Drogen-HIV-Gender stark vertreten sind, andere Themen wie psychische Erkrankungen weniger stark, wobei andererseits letztere mit dem Artikel von Norbert Konrad herausragend behandelt werden. Die Themen „Alter“ und „Suizidalität“ sind mit je einem Artikel vertreten, was qualitativ in Ordnung geht. Insgesamt wäre es durchaus möglich gewesen, beispielsweise die Gender-Thematik etwas zu reduzieren, die bisweilen etwas zwanghaft zum Gesundheitsthema gemacht wird. Zum Charakter eines Buches gehört die Frage der Zielgruppe. Das Buch ist nach Bekunden der Herausgeber an Leitungen und Entscheidungsträger, den allgemeinen Vollzugsdienst, die sozialen, psychologischen und medizinischen Dienste sowie die Bewährungshilfe adressiert. Was fehlt, ist die Wissenschaft. Infolgedessen sind ausgesprochen wissenschaftliche Artikel rar, die wenigen vorhandenen aber sehr gut. Was das Buch ausmacht, ist das engagierte Vertreten von gemeinsamen Anliegen (z. B. Substitution, Spritzentauschprogramme), die in ihrer Berechtigung allerdings nicht hinterfragt werden. Ohne diese hier bestreiten zu wollen, vermisst der Rezensent bisweilen kritische Stimmen, denn – um die Überschrift von Bärbel Knorr aufzugreifen („warum können wir Realitäten nicht (an)erkennen und entsprechend handeln?“) – in jedem Diskurs sollten als Basiskonsens akzeptiert werden, dass es „die Realität“ als solche nicht gibt, sondern nur die jeweils als solche wahrgenommene. Gerade die eigenen Selbstverständlichkeiten mit kritischen Positionen zu hinterfragen, wäre für das Buch eine schöne Ergänzung gewesen.

Selektieren: Zu den undankbaren, aber trotzdem notwendigen Tätigkeiten eines Herausgebers gehört das Aussortieren oder zumindest Korrigieren von Artikeln, die über die festgelegte (thematische) Bandbreite hinausgehen. Bisweilen sehen Herausgeber diese Aufgabe als überflüssig an und verstehen sich eher als Sammler, denn in der aktiven Rolle des Gestaltenden. Es scheint dem Rezensenten, dass dies auch in vorliegendem Werk das Verständnis der Herausgeber ist. Jedenfalls ist die „Toleranz“ der Herausgeber offenbar so groß, dass sie selbst Artikel in ihren Band hinein nehmen, die wenig oder gar nichts zum gemeinsamen Thema „Gesundheit und Haft“ zu sagen haben, sondern nur um ein mit der Zielgruppe verwandtes Thema mäandern. Dies bläht das Buch unnötig auf und bringt wenig neuen Erkenntnisgewinn. Auch sind nach Meinung des Rezensenten die oft seitenlangen Fallbeschreibungen für die angestrebte Zielgruppe des Buches wenig relevant. Für dringend überarbeitungsbedürftig hält der Rezensent (einige wenige) Artikel, die nicht sehr einleuchtende Zusammenhänge ohne den Hauch eines empirischen Beleges konstruieren oder mit kaum brauchbaren theoretischen Modellen operieren. Wenn tatsächlich Entscheidungsträger zur Diskussion angeregt werden sollen, bedarf es diskussionswürdiger Thesen. Ebenfalls wäre es nicht schlecht, Autoren, die einen medizinischen Artikel ankündigen, diesen aber sozialrechtlich verfassen, auf ihr gegebenes Thema hinzuweisen.

Strukturieren: Letzte Aufgabe ist das Strukturieren des gesamten Materials, um dem Leser die Zusammenhänge des Gesamtthemas und seine einzelnen Facetten zu erleichtern. Klassischerweise werden von Herausgebern hierzu Gliederungen, ausführliche Vorworte mit Einordnung jedes einzelnen Artikels, Autorenverzeichnisse und – im günstigsten Fall – kurze Einleitungstexte der großen Kapitel verwendet. Leider verzichten die Herausgeber auf fast alle diese Elemente, lediglich eine Gliederung legen sie vor, und die hat ein echtes Problem, weil sie nicht mit den tatsächlichen Artikelüberschriften (und in einem Fall nicht mit dem genannten Autor) übereinstimmt, ja nicht einmal die Gliederung selbst findet sich exakt in den Texten wieder. Zum Teil sind es komplett andere Inhalte als in dem Inhaltsverzeichnis („kriminalpsychologisch“ statt „aus politischer Sicht“), zum Teil sind die Themen der Artikel nicht mit dem Inhaltsverzeichnis verwandt („Gesundheit und Haft“ heißt der Artikel, im Inhaltsverzeichnis betitelt: „Aus der Praxis eines Freien Trägers“). Hier wäre dringend ein Fachlektorat notwendig gewesen, wenn schon den Herausgebern diese Fehler offenkundig nicht aufgefallen sind. Sehr hilfreich hingegen ist das ausführliche Stichwortverzeichnis.

Fazit

Wie bei einem Mammutwerk von 600 Seiten mit einem so weiten Thema wie „Gesundheit und Haft“ nicht anders zu erwarten, ist die Bandbreite der Artikel sehr groß. Sie reicht von hochwissenschaftlichen und gut recherchierten Artikeln bis zu bloßen Falldarstellungen bei weitgehendem Verzicht auf fachliche Reflexion. Spürbar ist das Anliegen fast aller Autoren, mit ihren Forderungen zur Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Haftinsassen beizutragen, die in nahezu allen Artikeln als höchst defizitär eingestuft wird. Das in dieser Hinsicht „anwaltschaftliche“ Engagement zeichnet dieses Buch aus und macht es wichtig für Fachkräfte, die sich mit Haft und Haftbedingungen auseinandersetzen. Die Schwerpunkte dabei sind Sucht-Drogen-HIV-Gender, aber auch andere Themenfelder werden angesprochen wie z. B. Alter, Suizidalität, Gewalt, Trauma. Daneben finden sich detailreiche Abhandlungen über somatische und rechtliche Spezialthemen, die sich eher an einschlägiges Fachpersonal richten.

Die Artikel sind meistens nicht allzu lange und in der Regel in einer verständlichen Sprache verfasst, was das Buch gut lesbar macht. Kritisch anzumerken bleibt die mangelhafte Wahrnehmung von Herausgeberaufgaben.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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Es gibt 56 Rezensionen von Wolfgang Klug.

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ISSN 2190-9245