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David Harvey: Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus

Rezensiert von Sabine Hollewedde, 06.10.2015

Cover David Harvey: Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus ISBN 978-3-550-08089-0

David Harvey: Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus. Ullstein Verlag (München) 2015. 373 Seiten. ISBN 978-3-550-08089-0. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR, CH: 30,90 sFr.

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Thema

Das Buch von Harvey widmet sich einer Verknüpfung von theoretischer Analyse der Grundstrukturen der globalen, kapitalistischen Wirtschaft mit daraus abzuleitenden politischen Folgerung. Es geht Harvey darum, theoretisch fundiert Handlungsmöglichkeiten für eine internationale linke Politik darzulegen und diese zu begründen, was er anhand der Herausarbeitung von siebzehn Widersprüchen entwickelt, welche das Kapital produziert: „Falsche Maßnahmen, die auf falscher Theoriebildung beruhen, verschärfen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und das daraus resultierende gesellschaftliche Elend. Für die antikapitalistische Bewegung, die sich gegenwärtig formiert, ist es unabdingbar, nicht nur besser zu verstehen, wogegen sie opponiert, sondern auch, klar zu artikulieren, was sie verändern kann und warum dies zwingend erforderlich ist, damit die Mehrheit der Menschheit in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ein angemessenes Leben führen kann.“ (S. 28)

Durch eine Analyse der politischen Ökonomie sollen „politische Konsequenzen und Handlungsspielräume“ (S. 16) aufgezeigt werden, um Alternativen zu sowohl konservativen als auch bestimmten linken Ansätzen herauszuarbeiten, womit Harvey die Bedeutung von Gesellschaftstheorie für richtige Praxis hervorhebt. Einleitend stellt er klar, dass und warum es sich von einer radikalen Linken abzugrenzen gilt, welche sich dem Poststrukturalismus zurechnen lasse und auf eine Theorie des Ganzen verzichte, in der Hoffnung, dass „begrenzte Aktionen und lokaler Aktivismus“ […] „sich eines Tages zu irgendeiner Form von befriedigender Makroalternative aufaddieren“. (S. 15) Gegen solche Ansätze positioniert Harvey sich ausdrücklich und setzt dagegen die weiter virulente Bedeutung von Klassenanalyse und der Kritik der politischen Ökonomie. Er selbst distanziert sich aber auch von einem ‚konventionellen‘ Marxismus: „Die gewählte Vorgehensweise ist insofern unkonventionell, als ich mich an Marx´ Methode halte, aber nicht unbedingt an seine Rezepte – was manchen Leser irritieren mag.“ (S. 15 f.)

Aufbau und Inhalt

Neben einem Prolog, einer Einleitung sowie einem Schluss und Epilog gliedert sich der Band in drei Teile („Grundwidersprüche“, „Bewegliche Widersprüche“ und „Gefährliche Widersprüche“), welche die von Harvey dargestellten siebzehn Widersprüche des Kapitalismus enthalten.

Im Prolog mit dem Titel „Die jetzige Krise des Kapitalismus“ leitet Harvey durch die Darstellung der aktuellen Krise und Parallelen zu früheren Wirtschaftskrisen ein und zeigt dabei die systemische Bedeutung von Krisen im Kapitalismus auf. Auf diese Weise begründet er zugleich seine methodische Vorgehensweise und theoretische Fokussierung. (s.o.) Ein Verweis auf einen „beweglichen Widerspruch“ findet sich bereits hier, wenn er anmerkt, dass die „100 wohlhabendsten Milliardäre der Welt […] allein im Jahr 2012 ihr Vermögen um 240 Milliarden Dollar auf[stockten] (genug, wie Oxfam errechnet hat, um die Armut in der Welt von einem Tag auf den anderen zu beenden). Im Gegensatz dazu stagniert das Wohlstandsniveau der breiten Bevölkerung – oder es verschlechtert sich dramatisch, wie in Griechenland oder Spanien.“ (S. 13) Solche offenkundigen Gegensätze in ihrer systematisch widersprüchlichen Einheit zu begreifen, die „uns also eine Menge über die wirtschaftlichen Probleme verraten, die uns so zu schaffen machen“ (S. 16), um dadurch Alternativen zu entwerfen, sei Ziel des Buches.

Die Einleitung „Über Widersprüche“ widmet sich der begrifflichen Klarstellung und thematischen Orientierung des Buches. So stellt der Autor eingangs heraus, dass er nicht den ausschließenden Widerspruchsbegriff der aristotelischen Logik verwendet, sondern den dialektischen favorisiert, „da der dialektische Begriff mehr Möglichkeiten bietet und […] sich leichter mit ihm arbeiten lässt.“ (S. 21) Dieser das Buch leitende Widerspruchsbegriff zeichne sich dadurch aus, dass er anwendbar ist, wenn „zwei scheinbar gegensätzliche Kräfte wirken.“ (S. 18) Diese gegensätzlichen Kräfte schließen sich demnach nicht einfach logisch aus, sondern sind in der Lage ein Potenzial zu entfachen, welches innovativ genutzt werden kann. Deutlich macht das Harvey an Bespielen sowohl aus der alltäglichen Lebenspraxis (Familie – Beruf) sowie anhand von wirtschaftlichen Problemen wie deren Lösungen.

Als wichtigsten Widerspruch identifiziert Harvey den zwischen Sein und Schein, wobei er auf Marx´ Begriff des Fetisch verweist und deutlich macht, dass der Fetisch und damit der nicht dem Sein entsprechende Schein „keine verrückte Einbildung, keine bloße Illusion und kein Spiegelkabinett“ (S. 23) ist, sondern Realität in gesellschaftlichen Handlungszusammenhängen besitzt. Auch, wenn wir das ‚Sein‘ des Geldes nicht begreifen, können und müssen wir mit ihm handeln: „Wir sind tatsächlich in der Lage, mit Hilfe von Geld Waren zu kaufen, also ist die Frage, wie viel Geld wir haben und wie viel wir für dieses Geld im Supermarkt kaufen können, von einiger Bedeutung.“ (S. 23)

Die zweite wichtige begriffliche Einordnung, welche der Autor vornimmt, ist, dass er klarstellt, dass es nicht um Widersprüche des Kapitalismus, sondern um solche des Kapitals gehen soll. Erstere könnten auch für andere historische Gesellschaftsformationen gültig und im Kapitalismus aufgegriffen und wirksam sein. Solche (wie Patriachat, Rassismus) sollen aber ausgeschlossen werden, „weil sie innerhalb des Kapitalismus zwar allgegenwärtig sind, aber nicht spezifisch für jene Form der Zirkulation und Akkumulation, die den Kapitalismus ausmacht.“ (S. 25) Sein Anspruch dagegen ist: „mittels Abstraktionen entwerfe ich ein Modell, das zeigt, wie die Wirtschaft im Kapitalismus funktioniert. Mit Hilfe dieses Modells werde ich erforschen, warum und wie es zu periodischen Krisen kommt und ob es auf lange Sicht bestimmte Widersprüche gibt, die sich für die Fortsetzung des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, als fatal erweisen könnten.“ (S. 25)

Im Folgenden sollen Harveys siebzehn Widersprüche, welche im Original oft weit ausholend und mit empirischen Material untermauert dargestellt werden, in ihrer Essenz knapp zusammengefasst werden.

Teil eins: Grundwidersprüche

Im ersten Teil befasst sich Harvey mit sieben „Grundwidersprüchen“, welche sich dadurch auszeichnen, dass „das Kapital ohne sie seine Aufgabe nicht erfüllen kann. Außerdem sind sie so eng miteinander verflochten, dass es nicht möglich ist, einen von ihnen aufzulösen, ohne die anderen ebenfalls anzugehen.“ (S. 29)

Den ersten Widerspruch „Gebrauchswert und Tauschwert“ legt Harvey vor allem anhand des Immobilienmarktes dar, auf welchem der Tauschwert zum bestimmenden Aspekt bei der Entwicklung von Wohnraum wird, wogegen der Gebrauchswert in den Hintergrund tritt, was zu Problemen führe: „In dem Maße, in dem sie sich als unverträglich erweisen, bilden sie einen Widerspruch, der gelegentlich eine Krise hervorrufen kann.“ (S. 32) Die Nutzungsmöglichkeiten von Gegenständen hängen von der Verfügung über den entsprechenden Tauschwert ab. Wird dieser (die Profitabilität) bestimmend für die Herstellung von Gebrauchswerten, so kann dies zu Krisen führen, indem sich die Werte nicht auf dem Markt realisieren bei gleichzeitigem Bedarf.

Werden Gebrauchswerte über den Tausch vermittelt, wird „ein unabhängiges Maß für den Wert aller Waren auf dem Markt […] unabdingbar“ (S. 42), womit der Übergang zum zweiten Widerspruch eingeleitet ist, dem zwischen dem gesellschaftlichen Wert der Arbeit und seiner Repräsentation durch Geld. Die grundlegenden Funktionen von Geld sind, dass es ein „Medium der Zirkulation“ ist, eine „Skala für den Wert von Waren“ liefert und dazu dient, „Wert aufzubewahren“. (S. 43) „Doch wofür steht das Geld, wieso ist es so wichtig und warum scheint der Wunsch nach mehr Geld das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben zu regieren?“ (ebd.) Geld als Repräsentant von Wert wird selbst zu einer Ware, wodurch sich eine „Lücke zwischen dem Geld und dem Wert, den es repräsentiert“ (S. 45), auftut. Preis und Wert einer Ware entsprechen sich nicht, bestimmbar sind aber auf dem Markt nur die Preise von Waren, welche somit für Kapitalisten handlungsweisend sind. Diese Preise können aber vom Wert abweichen, was sich erst im Nachhinein herausstellt. Indem Geld die besondere Ware ist, die „den allgemeinen Tauschwert“ repräsentiert, „repräsentieren wir einen ursprünglich gesellschaftlichen Wert (die Arbeit) dergestalt, dass er sich von Privatpersonen angeeignet werden kann.“ (S. 52) Damit wird die Möglichkeit geschaffen, dass gesellschaftliche Macht durch die Anhäufung von Geld angeeignet wird. Die Folgerungen für den politischen Kampf sei daher, dass es gelte, „eine Quasi-Geldform zu etablieren, die den Tausch erleichtert, aber die private Akkumulation von Reichtum und gesellschaftlicher Macht verhindert.“ (S. 54)

Im dritten Widerspruch befasst sich Harvey dann mit dem Verhältnis von Privateigentum und staatlicher Macht. „Individualisierte Eigentumsrechte sind Grundlage und notwendige Bedingung der Kapitalwirtschaft.“ (S. 62) Zugleich wird dieses individuelle Eigentumsrecht aber durch eine Ausweitung staatlicher Macht begleitet, welche zu „der angeblich ‚freien‘ Ausübung von individuellen privaten Eigentumsrechten“ im Widerspruch zu stehen scheint, was auch dazu führe, dass „das Kapital in vielen Wirtschaftsbereichen nicht mehr frei operieren“ kann und „es zur Konfrontation zwischen öffentlichem und privaten Sektor, zwischen Staat und Markt kommt“. (S. 68) Staat ist, wie Harvey hervorhebt, nicht der Staat der Kapitalisten, sondern staatliche Interessen können mit Kapitalinteressen in Konflikt geraten, was gerade in ‚demokratisch‘ organisierten Staaten zu nicht aufhebbaren Konflikten führe, welche über neoliberale bis anarchistische Diskurse sich äußerten. „Allein die umfassende Überführung privater Eigentumsrechte in kollektiv verwaltete Gemeingüter und die Umwandlung autokratischer und despotischer staatlicher Macht in demokratische Strukturen versprechen hier Abhilfe zu schaffen.“ (S. 72) Zudem gelte es, die Macht des staatlichen Währungsmonopols zu brechen, damit „der Staat keine Möglichkeit mehr [hätte], militärische Gewalt gegen die eigene widerspenstige Bevölkerung einzusetzen.“ (ebd.)

Was im Widerspruch des Geldes bereits herausgestellt wurde, tritt nun im vierten Widerspruch als demjenigen zwischen privater Aneignung und gemeinsamem Reichtum hervor. Der gesellschaftliche Reichtum (Gebrauchsgegenstände, welche durch gesellschaftliche Arbeit hergestellt werden) lässt sich über das Geld privat aneignen. Dies kann „auf außergesetzliche Weise“ geschehen oder durch rechtlich sanktionierte Tauschprozesse. (S. 74) Dass beides nicht voneinander zu trennen ist, das Kapital also immer auch Raub und Enteignung zur Grundlage hatte und hat, hebt der Autor auch unter Verweis auf die Analyse Polanyis hervor. Dennoch wird herausgestellt, dass „die widersprüchliche Art, in der Geld soziale Arbeit (und damit Wert) repräsentiert“, „Kern“ der privaten Aneignung im Kapitalismus ist. Dies ist sie aber auf der Grundlage historischer Prozesse von Raub und Enteignung sowie der Installierung einer staatlichen Zwangsgewalt zur Konsolidierung der dadurch geschaffenen Eigentumsverhältnisse: „Wir müssen begreifen, dass die scheinbar ‚objektive‘, aber völlig fiktive Rechtfertigung der Monetarisierung, Kommodifizierung und Privatisierung von nichtwarenförmigen Gütern wie Land, Arbeit und Kapital […] zum festen Bestand der Heuchelei kapitalistischer Rechtsstaatlichkeit gehört.“ (S. 83)

Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit (der fünfte), welcher insbesondere von Marxisten oft als „Hauptwiderspruch“ (S. 88) bezeichnet und behandelt werde, könne „weder analytisch noch politisch die einzige Erklärung der Krisen sein.“ (S. 89) Wenngleich das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital das „besondere Kennzeichen unserer Produktionsweise ist“ (S. 86) und damit die spezifisch kapitalistische Form der Ausbeutung darstellt, dürfe nicht auf diesen fokussiert werden, da er „mit den anderen Widersprüchen des Kapitals so eng verknüpft ist.“ (S. 89) „Eine Linke, die zwanghaft auf den Fabrikarbeiter als Träger des Klassenbewusstseins und als Inkarnation sozialistischer Bestrebungen fixiert ist, wird kaum in der der Lage sein, hinreichend flexibel zu agieren.“ (S. 91)

Ist das Kapital Prozess oder Ding? Sowohl als auch – und dies stellt für Harvey den sechsten Grundwiderspruch des Kapitals dar: Kapital ist zum einen ein „ständige[r] Wertstrom durch die Zeit, der sich im fortwährenden Übergang von einer materiellen Form in die andere befindet.“ (S. 96) Zum anderen muss es sich in Dingen, Gebrauchsgegenständen fixieren, um sich als Wert zu erhalten und zu verwerten. „Fixes und zirkulierendes Kapital stehen zwar im Widerspruch zueinander, aber keines kann ohne das andere sein.“ (S. 99) Kapital muss sich akkumulieren und es muss zirkulieren, was es zunächst von der Akkumulation ausschließt, damit es sich als Wert realisieren kann. „Die Frage lautet also: Wann und warum wird diese Spannung zwischen Beständigkeit und Bewegung und zwischen Ding und Prozess so stark, dass sie sich zum absoluten Widerspruch steigert?“ (S. 101) Hier geht es darum, dass Kapital als akkumuliertes in Eigentumstiteln zur gesellschaftlichen Macht wird, welche sich als Herrschaftsstruktur verfestigt. Daher lautet eine politische Folgerung Harveys, dass „ein vorrangiges Ziel […] sicherlich darin bestehen [muss], die Macht der Grundeigentümer zu beschneiden“ und sie dagegen denjenigen Menschen zu geben, „die sie [Land, Ressourcen und die amortisierte bauliche Umwelt; S.H.] nutzen und brauchen“ (S. 102) „Auf diese Weise können die zugegebenermaßen schwierigen Beziehungen zwischen Prozessen und Dingen sowie zwischen Beständigkeit und Bewegung so organisiert werden, dass sie dem Gemeinwohl statt der endlosen Akkumulation von Kapital dienen.“ (ebd.)

Der siebte und letzte Grundwiderspruch, welchen Harvey ausmacht, ist der zwischen „Produktion und Realisierung des Wertes“. Wert wird einem Produkt im Arbeitsprozess gegeben. Dieser Wert muss sich aber auf dem Markt realisieren, d.h. das Produkt muss auf ein gesellschaftliches, zahlungsfähiges Bedürfnis treffen. Anhand der Gegenüberstellung des ersten und zweiten Bandes des ‚Kapital‘ von Marx legt Harvey dar, dass diese beiden Stationen des Wertes in einem Widerspruch stehen, welcher erhalten bleibt, so lange „die Widersprüche zwischen Gebrauchs- und Tauschwert und zwischen Geld und der gesellschaftlichen Arbeit, die durch das Geld repräsentiert wird, fortbestehen“ (S. 106). In der Produktion des Wertes ist das Kapital darauf aus, den Wert der Ware Arbeitskraft möglichst zu senken. Die Realisation des Wertes hängt dagegen von der Kaufkraft der Arbeiter ab. Die politische Folgerung aus diesem Widerspruch ist die Umkehrung des Verhältnisses von Produktion und Realisation von Wert. (S. 109) Dies bedeutet, dass sich Produktion an gesellschaftlichen Bedürfnissen organisieren und die Realisation des Wertes „durch die Erkundung und Beschreibung der Gebrauchswerte ersetzt werden“ müsste. (S. 109 f.)

Teil zwei: Bewegliche Widersprüche

Der zweite Teil befasst sich mit sieben beweglichen Widersprüchen, welche unbeständiger und wechselhafter seien als die in Teil eins dargestellten Grundwidersprüche, die „das Grundgerüst der Kapitalakkumulation“ (S. 111) bildeten.

Im achten Widerspruch „Technologie, Arbeit und menschliche Verfügbarkeit“ stellt Harvey die Verbindung der Entwicklung neuer Technologien mit dem Kapitalismus heraus. Zwar verdanke „der Kapitalismus […] die Innovationen (die die Profitrate ansteigen lassen) ganz verschiedenen Akteuren und Institutionen“ (S. 118), dennoch bestehe ein Bestreben des Kapitals, durch technologische Innovationen die Profitrate zu erhöhen und Arbeitsplätze bei der Produktion wegzurationalisieren. Der Widerspruch, der sich hier auftut, ist: „Wenn gesellschaftliche Arbeit letztlich der Ursprung von Wert ist, dann ist es politisch wie wirtschaftlich vollkommen sinnlos, sie durch die Arbeit von Maschinen oder Robotern zu ersetzen.“ (S. 129) Diesen Widerspruch sieht Harvey als für das Kapital sogar gefährlich an, da so „ein Absturz des Kapitals in Gesetzlosigkeit“ zu befürchten sei, wenn „gesellschaftliche Arbeit als ein fundamentales Regulationsprinzip“ (S. 136) abgeschafft und durch technisierte und automatisierte Produktion ersetzt wird, welche immer „größere Teile der Weltbevölkerung […] aus Sicht des Kapitals als überflüssig und verzichtbar“ erscheinen lässt (S. 131). Dennoch böten die technischen Innovationen auch „ein emanzipatorisches Potential, das für den antikapitalistischen Kampf mobilisiert werden muss.“ (S. 136)

Widerspruch neun ist mit „Arbeitsteilung“ betitelt, welche „zu Recht als ein Hauptmerkmal des Kapitalismus“ gelte (S. 138). Als Hauptwiderspruch macht Harvey hier die ‚Entfremdung‘ geltend, welche „nicht technischer, sondern gesellschaftlicher und politischer Natur“ sei (S. 151). Unter den Bedingungen kapitalistischer Produktion führt die Arbeitsteilung zu Individualisierung und Isolierung der Arbeiter. So entfremden sie sich sowohl von den gesellschaftlichen ‚Mitarbeitern‘ als auch von dem Produkt ihrer Arbeit. „Außerdem sind wir zunehmend einer Expertokratie ausgeliefert“ (S. 147), was zu „autokratischen und hierarchischen Tendenzen in der Arbeitsteilung“ führt (S. 148). Die politische Folgerung daraus ist eine, welche die Verfilzung von Kapital und Arbeitsteilung (Technik) zu bedenken hat: „Sich aus den Ketten einer internationalen Arbeitsteilung zu befreien, die zum Nutzen des Kapitals und der imperialistischen Mächte organisiert wird, ist eine Sache, aber sich im Namen der Antiglobalisierung vom Weltmarkt abzukoppeln, ist eine potentiell selbstmörderische Alternative.“ (S. 150)

Widerspruch zehn befasst sich mit „Monopol und Wettbewerb“ und zeigt auf, dass im Begriff des Privateigentums dieser Widerspruch angelegt ist, welcher „das Monopol auf die Nutzung eines bestimmten Gutes verschafft“ (S. 161) und zugleich den freien Wettbewerb ermöglichen soll. Daher meint Harvey, „dass die Monopolmacht ein grundlegendes Prinzip und keine Anomalie des Kapitals ist und dass sie sich in einer widersprüchlichen Einheit mit dem Wettbewerb befindet.“ (S. 161) Zu betonen sei außerdem die „klassenspezifische Monopolmacht“ (ebd.), worunter das Monopol der kapitalistischen Klasse auf Eigentum an Produktionsmitteln zu verstehen ist, was eine Bedingung kapitalistischer Produktion darstellt. Zu „lernen“ hätte eine Linke hier vom Kapital, ihre Angst vorm Monopol zu überwinden und dagegen dies für ihren Kampf gegen das Kapital zu nutzen: „Die antikapitalistische Opposition wird durch eine übertriebene Furcht vor Zentralisierung und Monopolisierung gelähmt und versäumt es so, die dialektische, aber widersprüchliche Beziehung zwischen Monopol und Konkurrenz für den antikapitalistischen Kampf zu mobilisieren.“ (S. 173)

„Geographische Ungleichheit“ ist der elfte Widerspruch in Harveys Analyse. Sie verweist auf Produktionsverlagerungen des Kapitals mit allen Folgen für Bevölkerung und Umwelt: „Regionale Beschäftigungs- und Produktionskrisen verweisen in der Regel auf Machtverschiebungen der Kräfte, die die geographische Landschaft des Kapitals produzieren.“ (S. 179) Der „unausweichliche“ (S. 181) Widerspruch, welcher hier auszumachen sei, ist, dass das Kapital, indem es nach einem Investitions- und Produktionszyklus weiterzieht, entweder „eine Spur der Verwüstung und des Wertverfalls“ hinterlässt (S. 181) „oder es bleibt, wo es ist, und erstickt an den Überschüssen, für die es keine profitable Verwendung findet.“ (ebd.) Die Rolle, die der Staat bei solchen Kapitalströmen lenkend einnehmen kann, wird dabei kritisch hinterfragt (S. 185 ff.), wobei festzuhalten sei: „Staatliches Handeln dient mehr und mehr dazu, die Forderungen der Unternehmen und Aktionäre zu erfüllen, häufig zu Lasten der Bürger.“ (S. 188) Außerdem maskiere „die ungleiche geographische Entwicklung“ „das Gesicht des Kapitals“ (S. 189), insofern die Maske von potentiellem Wachstum in prosperierenden Gebieten aufgezogen werden könne. Für die politische Aktion bedeute dies alles, dass „eine eigene Dynamik ungleicher geographischer Entwicklung entfalte[t] und koordinier[t]“ werden müsse, „um kreative und regionale Alternativen zum Kapital zu schaffen.“ (S. 192)

„Soziale Ungleichheit“ ist grundlegend für das Kapital und damit ein Widerspruch (der zwölfte), der systematisch mit dem Kapital verbunden ist: „Tatsächlich sind bestimmte Verteilungsungleichheiten eine Voraussetzung für die Entstehung des Kapitals.“ (S. 202) Zentral ist zunächst die klassenspezifische Ungleichheit zwischen Kapital und Arbeit, welche Voraussetzung für kapitalistische Produktion ist. Außerdem aber bilden sich auch innerhalb der Arbeiterklasse Ungleichheiten heraus und eine „industrielle Reservearmee“ (S. 204) entsteht. Die Frage sei nun, „welches Maß an gesellschaftlicher Ungleichheit innerhalb des Kapitalismus akzeptabel und wünschenswert ist.“ (S. 207) Die Ungleichheit hat Folgen für die Realisierung des Wertes (s. Widerspruch sieben), was zu einer Krise führen kann. Die politischen Folgerungen daraus seien „einfach, aber weitreichend“ (S. 211): „Wenn die Theorie von den notwendigen Ungleichheiten des Kapitals richtig ist, wird es einen Punkt geben, an dem der Abbau von Vermögens- und Einkommensungleichheiten die Reproduktion des Kapitals bedroht.“ (S. 212) Daher gelte es beim Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung anzusetzen und Profite zu begrenzen und für mehr soziale Gerechtigkeit zu kämpfen.

Widerspruch dreizehn ist mit „Gesellschaftliche Reproduktion“ überschrieben und befasst sich mit dem „latent“ widersprüchlichen Verhältnis der Reproduktion von Arbeit und Kapital sowie dem zwischen „einem potentiell entfremdenden Konsumexzess und dem für eine angemessene gesellschaftliche Reproduktion erforderlichen Konsum“ (S. 226). Es geht hier zum einen um Bildung und darum, wie Arbeiter wettbewerbsfähig reproduziert, d.h. gebildet werden, dabei aber nicht gefährlich für das Kapital werden. Hier verweist Harvey auf die Theorie vom „Humankapital“, „die zum Schlimmsten gehört, was sich die Wirtschaftswissenschaft je ausgedacht hat.“ (S. 216) Zum anderen geht es um den Umschlag des Konsumverhaltens in „zügellose Gier“, welches dann nicht der Reproduktion der Arbeiter dient, sondern der des Kapitals. Um diesem abzuhelfen und mehr Unabhängigkeit zu ermöglichen, sei es sinnvoll, „die Haushalte zu einem sozialen Netzwerk zusammenzuschließen, innerhalb dessen ein gemeinschaftliches Leben organisiert und gefördert werden kann, das sich an ‚zivilisierten‘ Werten orientiert.“ (S. 231) Wichtig ist Harvey festzuhalten, dass eine solche Umgestaltung nicht auf eine Monetarisierung von Lebensbereichen hinauslaufen darf, sondern die Menschen ihre gesellschaftliche Reproduktion jenseits der Marktmechanismen organisieren müssen, um sich von Zwängen des Kapitals zu befreien.

Den vierzehnten Widerspruch sieht Harvey zwischen „Freiheit und Herrschaft“, und dieser sei grundlegend für jede politische Bewegung, da gerade emanzipatorische Bestrebungen nur allzu oft durch eine neue Installierung von Herrschaft aufgehoben würden: „Es gibt keine Freiheit, die nicht in irgendeiner Weise zu neuer Herrschaft führt. Herrschaft über die eigenen Ängste angesichts minimaler Erfolgsaussichten, Herrschaft über Zyniker und Zweifler in den eigenen Reihen oder äußere Feinde.“ (S. 237) Die bürgerliche Freiheit, welche nicht vom Kapitalismus zu trennen ist, sei inwendig verknüpft mit der verinnerlichten „Beherrschung und Disziplinierung des Selbst“ (S. 238), was vor allem Foucault herausgearbeitet habe. Auch mit Bezug auf Marcuses „repressive Toleranz“ stellt Harvey die Verknüpfung von individueller Freiheit und Herrschaft durch soziale Codes heraus. Grund sei eine grundsätzlich „ambivalente Bedeutung von ‚Freiheit‘“ (S. 240), welcher man nicht entgehen könne, egal „welche politische Richtung wir favorisieren“ (ebd.): „Die einzige Antwort, die aber weit jenseits des offiziellen Diskurses liegt, ist ein revolutionärer Humanismus, der einem kapitalistischen System entschlossen entgegentritt, das mit der linken Hand die Menschen unterdrückt, während es mit der rechten Almosen verteilt.“ (S. 248)

Teil drei: Gefährliche Widersprüche

„Gefährliche Widersprüche“ sind für Harvey solche, welche aufgrund ihrer Auswirkungen auf Mensch und Umwelt der Möglichkeit nach den „revolutionäre[n] Geist“ der Menschen entfachen und so dem Kapital ‚gefährlich‘ werden können. Diese Widersprüche sind „gefährlicher für das Kapital und die Menschen als andere“, aber zeugen dennoch nicht von „Unvermeidlichkeit, Zerfall und Apokalypse“ (S. 256), wie es eine deterministische Deutung Marxscher Theorie annähme. Harvey dagegen sieht Marx als einen „revolutionären Humanisten“ (S. 256) und fordert, dass eine daran anschließende „antikapitalistische Politik die Widersprüche sichten und bei ihrem Entwurf einer alternativen Welt die vorhandenen Ressourcen und Ideen nutzen muss.“ (S. 255)

In Widerspruch fünfzehn befasst sich Harvey mit dem Wachstum des Kapitals, welches „notwendigerweise exponentiell“ (S. 258) sei, aber dadurch Probleme der Realisierung des Wertes schaffe. Wachstum braucht, auch wenn es sich in Geld ausdrückt und damit scheinbar aus bloßen Zahlen besteht, eine materielle Basis. „Was machen wir also angesichts der Notwendigkeit eines ewigen exponentiellen Wirtschaftswachstums ohne eine erkennbare materielle Basis?“ (S. 282) Die Verlagerung hin zu immaterieller Produktion und zum „Konsum von Spektakeln“ (S. 275) kann auf die Dauer keine Lösung für das Problem der Verwertung bieten und geht auf „das verzweifelte Bemühen des Kapitals zurück, permanentes exponentielles Wachstum zu ermöglichen.“ (S. 277)

Der zweite als für das Kapital gefährlich eingestufte Widerspruch (bei Harvey der sechzehnte) ist der zwischen Kapital und Natur. Dabei hält Harvey fest, dass der Kapitalismus nicht zwangsläufig zu einer ökologischen Krise führen wird, aber dennoch aufgrund des exponentiellen Wachstums „eine besonders hohe ökologische Belastung und Zerstörung mit sich bringt.“ (S. 296) So genannte „Naturkatastrophen“ seien nichts Natürliches, sondern auf „politisches, institutionelles und ideologisches Versagen“ zurückzuführen (S. 302) und daher auch durch Politik zu ändern. Dabei muss es darum gehen, den zerstörerischen Tendenzen der kapitalistischen Wirtschaftsweise durch politische Maßnahmen zu begegnen, welche nicht auf Verwertung ausgerichtet sind und sich gegen die „Reduzierung der Natur und des Menschen auf die reine Warenform“ richten. (S. 306)

Der siebzehnte Widerspruch ist betitelt mit „Die Revolte der menschlichen Natur: Universelle Entfremdung“ und schließt insofern an den vorherigen an, als herausgestellt wird, dass die Entfremdung von der Natur mit der vom Menschen und von sich selbst in einem Zusammenhang steht. Es werden verschiedene Formen der Entfremdung vorgestellt (in sozialen Beziehungen, der Psychologie) und ihre Ursachen im kapitalistischen Produktionsprozess aufgewiesen, wobei gerade die Bündelung unterschiedlicher Erscheinung unter dem Begriff der Entfremdung hier von einer „einheitlichen antikapitalistischen Opposition“ (S. 312) angestrebt werden sollte, auch um „rechtsextreme[n] Antworten“ (S. 327) keinen Raum zu lassen.

Harvey betont, dass der Kapitalismus nicht von selbst an seinen Widersprüchen zugrunde gehen wird. Es muss sich eine Bewegung entwickeln, welche durch die Aufklärung der Widersprüche des Kapitals motiviert für eine andere Welt kämpft. Im Schlussteil seines Buches „Aussichten auf eine glückliche Zukunft: Revolutionärer Humanismus“ führt Harvey diesen Gedanken weiter aus und grenzt diesen vom „bürgerliche[n] und liberale[n] Humanismus“ ab, welcher „nur eine verschwommene ethische Basis für das weitgehend folgenlose Moralisieren über den traurigen Zustand der Welt“ (S. 333) biete. In Abgrenzung zu Althusser, welcher Marxismus ohne Verbindung zu einem Humanismus sieht, stellt Harvey eine Beziehung zwischen dem „Humanismus des jungen Marx“ und den Forderungen heraus, welche sich aus der Analyse der Kritik der politischen Ökonomie ergeben können. Daran möchte der Autor mit einem revolutionären Humanismus anschließen: „Dieser Humanismus vereint den Marx des Kapital mit dem der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844 und setzt sich unmittelbar mit den Widersprüchen auseinander, mit denen es alle humanistischen Programme zu tun bekommen, wenn sie die Welt verändern wollen.“(S. 335) Dabei kann auch die Frage der Gewalt nicht ausgeklammert werden, was Harvey unter Bezug auf den algerischen Psychiater Frantz Fanon aufgreift, welcher im Kampf um die „Wiederherstellung der Menschlichkeit“ „notwendige Gewalt befürwortet und Kompromisse ablehnt“. (S. 337) Gewalt wird eine Rolle spielen, sollen Herrschaftsstrukturen tatsächlich überwunden werden. Harvey sieht die Aufgabe eines revolutionären Humanismus aber darin, auf Grundlage einer Analyse gesellschaftlicher Strukturen philosophische Antworten darauf zu geben, wie gehandelt werden kann. „Die einzige Hoffnung besteht darin, dass wir diese Gefahr [einer bevorstehenden Gewaltwelle angesichts dessen, dass dem Kapital ein Ende droht; S.H.] erkennen, bevor die Fäulnis so weit fortgeschritten ist, dass Mensch und Umwelt irreparablen Schaden genommen haben.“ Und er schließt mit Worten Bertold Brechts: „Widersprüche sind unsere Hoffnung […]. Wie gesehen, weist das Kapital genügend Widersprüche auf, um diese Hoffnung zu nähren.“ (S. 242)

In einem Epilog „Ideen für die politische Praxis“ leitet der Autor aus den siebzehn Widersprüchen hervorgehende Forderungen an eine politische Praxis ab. Diese sind im Wesentlichen Zusammenfassungen der Ergebnisse seiner im Hauptteil angestellten Analyse. Er hält fest, dass der Kampf um eine emanzipierte Menschheit auf vielen Ebenen stattfinden muss: „Wir werden Allianzen schmieden müssen.“ (S. 347)

Diskussion

Harveys siebzehn Widersprüche provozieren Widersprüche, doch ist sein Ansatz, Krisenphänomene und langfristige Entwicklungen in Gesellschaften, die kapitalistisch produzieren, durch eine Analyse der politischen Ökonomie aufzudecken und so aufzuklären, um dann im weiteren Schritt daraus Folgerungen für politisches Handeln zu ziehen, richtig und wichtig. Dies zeigt sich gerade angesichts dessen, dass sich Kritik zumeist auf das beschränkt, was Harvey ‚bürgerlichen Humanismus‘ nennt. Es geht ihm darum, den Ursachen von Problemen unserer Gesellschaft auf den Grund zu gehen und nicht an Phänomenen kosmetisch anzusetzen, wodurch das System aus Widersprüchen sich stabilisiert und reproduziert. Insofern ist seiner Aussage zuzustimmen, dass „falsche Interpretationen […] fast mit Sicherheit zu falscher Politik führen, die die Akkumulationskrisen und das daraus resultierende Elend vertiefen, statt sie zu lindern.“ (S. 28) Die Fokussierung auf Theorie und Interpretation ist daher von enormer Bedeutung für die Praxis. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.“ (Marx) Diesen bekannten Satz von Marx greift auch Harvey auf und macht deutlich, dass er ihn nicht in einem oft vorgebrachten Sinne der Verabschiedung von der Philosophie liest, sondern seine Interpretation an einer ‚anderen‘ Praxis ausrichten möchte, zugleich die Aufgabe eines „revolutionären Humanismus“ darin sieht, analytisch und kreativ Möglichkeiten aufzuzeigen, die sich nur aus der Interpretation des Bestehenden ergeben können: „Wie Marx glaube ich, dass die Zukunft bereits weitgehend in der Welt um uns herum enthalten ist und dass es bei der politischen Innovation darum geht, vorhandene, aber bislang isolierte und unzusammenhängende politische Möglichkeiten zu vereinen.“ (S. 255)

Harvey ist sich des Problems bewusst, dass die vielen von ihm analysierten ‚Widersprüche‘ viele verschiedene Ansätze bieten und dass sie in eine Systematik gebracht werden müssen, um für ein revolutionäres Bewusstsein wirksam zu werden, worum es ihm geht. Dieses systematische Bündeln gelingt ihm allerdings nicht überzeugend. Er wendet sich gleich eingangs gegen poststrukturalistische Ansätze, welche nicht in der Lage sind zu erklären, wie es von den vielen einzelnen Kämpfen um Emanzipation zu einem vernünftigen Ganzen kommen soll. Der Autor selbst sucht über den Begriff der Entfremdung (Widerspruch siebzehn) eine Perspektive zu eröffnen, und zwar „ein umfassendes Programm, das politisches Handeln motivieren und bündeln“ soll und so eine „kollektive Subjektivität“ schaffen kann. (S. 310) Hier zeigt sich auch, dass die übrigen Widersprüche mit diesem zentralen Begriff im Zusammenhang stehen und sie nicht, wie Harvey auch immer wieder erwähnt, unabhängig voneinander sind.

„Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt.“ So heißt es bei Marx in den ‚Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie‘. Harvey setzt aber eben nicht begrifflich an, sondern an aktuellen und historischen gesellschaftlichen Entwicklungen und ökonomischen Krisen. In der Einleitung geht es um Widersprüche, nicht darum, was ein Widerspruch ist. Es wird deutlich gemacht, wie sich die systemischen Widersprüche im Leben verankern und wie sie ausagiert werden müssen. Dieses Vorgehen führt im Hauptteil dazu, dass einzelne dargestellte Folgen kapitalistischer Produktion zunächst aufgelistet erscheinen, wobei sich im weiteren Verlauf des Buches immer wieder scheinbar Überlappungen und Beeinflussungen einzelner angeführter Widersprüche auftun und deutlich wird, dass diese keinesfalls zufällig sind. Dies ist daher kein Manko, sondern ermöglicht gerade die Darstellung von Theorie in Bezug auf die Lebenspraxis. Es wäre jedoch eine genauere Bestimmung des dialektischen Begriffs des Widerspruches, welcher ja zentral für Harvey ist, hilfreich gewesen, um Erscheinungen von Widersprüchen von deren systemischer Ursache zu unterscheiden und so den „wohl wichtigsten Widerspruch überhaupt“, den „zwischen Sein und Schein“ (S. 21), auch in Bezug auf die uns begegnenden Widersprüche selbst immer vor Augen zu haben. Die Begründung Harveys dafür, dass er den dialektischen Widerspruchsbegriff zugrunde legt und nicht den logisch-aristotelischen, ist, dass er „finde[t], dass der dialektische Begriff mehr Möglichkeiten bietet und dass sich leichter mit ihm arbeiten lässt.“ (S. 21) – Dies könnte (mit Marx) überzeugender begründet werden, indem klargestellt würde, dass sich über einen in sich widersprüchlichen Gegenstand nur in dieser Weise reden lässt und dass die Dialektik, welche Prozess und Manifestation als Einheit fasst, daher der Sache immanent ist. Wenn das Kapital die Einheit von Arbeit und Nicht-Arbeit oder von Nicht-Kapital und Kapital ist, dann ist hier objektiv der dialektische, damit bewegliche und gefährliche Widerspruch verwurzelt mit all seinen Folgen, welche der Autor auflistet und erklärt.

Dies lässt sich exemplarisch auf die in Widerspruch zwölf dargestellte „Soziale Ungleichheit“ anwenden. Harvey erklärt: „Ein ausreichender Anteil gesellschaftlich produzierten Werts muss den Kapitalisten zufließen, damit sie (a) jenen demonstrativen Konsum pflegen können, der einer müßigen Klasse gebührt, und (b) ihre Mitglieder den Wirtschaftsmotor des Kapitals ankurbeln und für eine kräftige und gleichmäßige Expansion sorgen können. […] Ein unverhältnismäßiger Teil des Mehrwerts wird deshalb immer dem Kapital zufallen. Nur so kann es reproduziert werden.“ (S. 202) Hier wäre eine Klärung dessen, was Mehrwertproduktion eigentlich bedeutet und dass sie nur unter der Bedingung kapitalistischer Verhältnisse stattfindet, sinnvoll. Dass das Kapital (Wert) sich überhaupt nur reproduzieren kann, wenn es (absoluten oder relativen) Mehrwert aus dem Gebrauch der Arbeit ‚herauspresst‘, d.h. auch, dass Mehrwert nur für das Kapital existiert und keine Eigenschaft von menschlicher Arbeit überhaut ist, wäre anzumerken: „Es folgt daher, daß in dem Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß.“ So bringt Marx im ‚Kapital‘ auf den Punkt, dass die Produktion von Mehrwert Bedingung für die Reproduktion des Kapitals und eben auch für die der Arbeiter unter kapitalistischen Verhältnissen ist, woraus auch zu schließen wäre, dass das Kapital „daher die überflüssige [Arbeit; S.H.] als Bedingung […] für die notwendige [setzt].“ (Marx) Mehrwert wird in der kapitalistischen Produktion nicht produziert, damit die Kapitalisten demonstrativ konsumieren können, sondern die Mehrwertproduktion und die Aneignung des Mehrwerts durch das Kapital ist in erster Linie ein systemischer Zwang, der mit dem Kapitalverhältnis gesetzt ist. Ebenso ist es nicht „Ziel [der Produktivitätssteigerung; S.H.], Arbeitszeit und Kosten zu sparen“ (S. 317), sondern Surplusarbeit und damit die Mehrwertproduktion zu erhöhen. Diese Überlegungen wären auch in Bezug auf den achten Widerspruch „Technologie, Arbeit und menschliche Verfügbarkeit“ einzubringen, wodurch deutlich würde, warum gesellschaftliche Arbeit „durch Maschinen und Roboter[…]“ ersetzt wird, wenngleich sie „letztlich der Ursprung von Wert und Profit“ ist (S. 129), und warum dadurch immer „größere Teile der Weltbevölkerung […] aus Sicht des Kapitals als überflüssig und verzichtbar betrachtet“ werden. (S. 131) „Der Wert der Waren“, schreibt Marx im ‚Kapital‘, „steht in umgekehrtem Verhältnis zur Produktivkraft der Arbeit. Ebenso, weil durch Warenwerte bestimmt, der Wert der Ware Arbeitskraft. Dagegen steht der relative Mehrwert in direktem Verhältnis zur Produktivkraft der Arbeit.“ Hier ansetzend ließe sich durch einen direkten Bezug auf Marx das scheinbar paradoxe Verhältnis von Produktivkraftentwicklung und Wert der Arbeitskraft erklären, wobei ein Verweis auf den „tendenziellen Fall der Profitrate“ (Marx) den Widerspruch, der sich hier auftut, hätte erklären können. Harvey fasst diese ‚Paradoxie‘ empirisch auf und bleibt damit auf der Ebene der Erscheinungen dieses Widerspruchs, zeigt aber damit, dass dies nicht vernünftig zu begründen, sondern „politisch wie wirtschaftlich vollkommen sinnlos“ ist. (S. 129)

Wie werden die Arbeiter „in eine Lage gebracht, in der sie durch ihre Arbeit nur noch die Bedingungen ihrer eigenen Unterwerfung reproduzieren können“? (S. 87) Dies ist die zentrale Frage, die Harvey mit dem Begriff der Entfremdung beantwortet, welcher sowohl unter dem Widerspruch zwischen „Kapital und Arbeit“ als auch als eigenständiger Widerspruch (der siebzehnte) aufgeführt wird. Wenn so spezifisch „die Freiheit unter der Herrschaft des Kapitals“ aussieht (S. 87), ist fraglich, warum es „keine Freiheit [gibt], die nicht in irgendeiner Weise zu neuer Herrschaft führt.“ (S. 237) Die Frage wäre hier, welcher Begriff von Freiheit gemeint ist. Denn fraglos ist der bürgerliche Freiheitsbegriff immanent mit Herrschaft auch „über die eigenen Ängste […]“ (S. 237) verbunden und, wie Kant in der ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘ in Bezug auf die Möglichkeit der Freiheit des Willens gezeigt hat, kann Freiheit „nicht gar gesetzlos“ sein, sondern muss eine „Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen“ der Vernunft sein. Diese Möglichkeit einer ‚vernünftigen Freiheit‘ jedoch gleichzusetzen mit Herrschaft und mit Freiheit unter dem Kapital, würde einen anthropologischen Fehlschluss bedeuten, wessen Harvey sich sicher verwahren würde. Das „Konzept von individueller Freiheit“ (S. 238), welches Grundlage des bürgerlichen Liberalismus ist, muss genau untersucht werden, was Harvey angeht und zu dem Ergebnis kommt, dass es eine „ambivalente Bedeutung von ‚Freiheit‘“ gibt (S. 240). Diese ‚Ambivalenz‘ erklärt sich daraus, dass die individuelle bürgerliche Freiheit stets die Freiheit des Kapitals ist. Dieser „innere […] Zusammenhang zwischen Freiheit und Kapital“ (S. 241) geht auf die Entwicklung bürgerlicher Subjektivität zurück, welche sich durch die Umwälzung der Herrschaftsstrukturen ausformte, die zur Entwicklung des ‚doppelt freien Lohnarbeiters‘ (Marx) auf der einen Seite und zur Akkumulation von Kapital auf der anderen Seite führte. Diese kritische Betrachtung des bürgerlichen Freiheitsbegriffs ist daher in direktem Zusammenhang mit „Widerspruch 5: Kapital und Arbeit“ zu sehen, bzw. wäre aus diesem heraus zu erklären. Daher kann unter kapitalistischen Bedingungen „der Zweck […] nicht im Namen der Freiheit in Frage gestellt werden, weil die Freiheit schon Teil des Prozesses ist.“ (S. 245) Das Potenzial, welches auch in diesem Widerspruch hin zur freiheitlichen Entwicklung der Menschheit sich abzeichnet, besteht darin, dass diese Bedingungen in einen Begriff von Freiheit mit einbezogen werden, sodass auch hier, in Harveys Sinn, Möglichkeiten erfasst werden können. Es gilt aber auch für diesen in der bürgerlichen Freiheit steckenden Widerspruch, was Marx in den ‚Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie‘ über die Entwicklung der Produktivkräfte sagt: „Die Produktivkräfte und gesellschaftlichen Beziehungen […] erscheinen dem Kapital nur als Mittel und sind für es nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren. In fact aber sind sie die materiellen Bedingungen, um sie in die Luft zu sprengen.“

Auch wäre genau zu hinterfragen, ob nicht der Begriff des Fetischs, welchen Marx erst im ‚Kapital‘ verwendet und welchen Harvey in seiner Einleitung als einen zentralen Begriff einführt, dem der Entfremdung ‚vorzuziehen‘ wäre, da sich darin bereits die ökonomischen Studien und Einsichten manifestiert haben und eben von einer ‚humanistischen‘ Forderung zu einer polit-ökonomischen Erklärung fortgeschritten werden kann, die jene wiederum in sich aufnehmen kann. Der Begriff der Entfremdung kann, wie sich bei Harvey auch abzeichnet, ein Platzhalter für viele Erscheinungen sein und wird in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und theoretischen Richtungen unterschiedlich verwendet, was seine Erklärungsreichweite ehr mindert als ausdehnt und es ist daher fraglich, ob die „Bedeutungsvielfalt […] nützlich“ ist (S. 311). Der philosophische, hegelsche Kontext, in welchem Marx diesen Begriff entwickelte, müsste allenfalls ausgeführt werden, denn auch hier steht er nicht als eine bloße humanistischen Forderung, sondern wird dialektisch entwickelt.

Die eingängige und sehr verständlich geschriebene Darlegung der siebzehn Widersprüche samt der daraus abgeleiteten Forderungen für eine emanzipatorisch orientierte politische Praxis und der Positionierung eines „revolutionären Humanismus“ hätte durch eine stärker theoretisch elaborierte Fundierung vielleicht an Potential verloren, ein links orientiertes Publikum anzusprechen und mit äußerst schlüssigen Argumenten Impulse für die Praxis zu geben. Dennoch hätte durch eine systematischere Arbeit mit den Begriffen verhindert werden können, dass sich, wie hier skizziert, einige Dopplungen und Ungenauigkeiten in der Argumentation ergeben.

Fazit

Harveys Buch überzeugt durch seine kenntnisreiche und detaillierte Erklärung ökonomischer Prozesse und deren Auswirkungen und Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen Entwicklungen und Bewegungen. Hervorzuheben ist, dass sein Ansatz, Gesellschaftskritik als Ökonomiekritik zu formulieren und verständlich zu machen, dabei nicht bei ‚Auswüchsen‘ des Kapitalismus stehenzubleiben, sondern diese als systematisch produzierte aufzudecken, ein aufklärerisch ambitioniertes Vorgehen ist, bei welchem der Autor den Finger in die Wunde eines ins Affirmative driftenden linken Spektrums legt. Es geht ihm nicht um abstrakte utopische Gegenentwürfe zum Bestehenden, sondern er macht deutlich, dass und warum Kritik und die Suche nach Möglichkeiten am Bestehenden und dessen Widersprüchen anzusetzen hat. Ganz im Sinne des (jungen) Marx werden hier die Verhältnisse zum Tanzen gebracht, indem ihnen ihre eigene Melodie vorgesungen wird.

Zu empfehlen ist dieses Buch einem breiten Publikum, welches jenseits des ‚bürgerlichen Humanismus‘ nach Erklärungen für Gewalt, Krieg und Hunger in dieser Welt sucht und Lösungen finden will. Es ist insofern nicht bloß für Studierende der Sozialwissenschaften interessant, sondern für jeden, der ernsthaft begreifen möchte, wie unsere globale Gesellschaft funktioniert. „Wenn wir in der Welt sinnvoll handeln wollen, müssen wir hinter die Erscheinungsformen der Dinge kommen. Ein Handeln, das auf irreführenden, oberflächlichen Signalen beruht, ruft in der Regel katastrophale Ergebnisse hervor.“ (S. 21)

Rezension von
Sabine Hollewedde
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Zitiervorschlag
Sabine Hollewedde. Rezension vom 06.10.2015 zu: David Harvey: Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus. Ullstein Verlag (München) 2015. ISBN 978-3-550-08089-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19571.php, Datum des Zugriffs 21.03.2023.


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