Burkhard Meyer-Sickendiek, Gunnar Och (Hrsg.): Der jüdische Witz
Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Hansen, 05.01.2016

Burkhard Meyer-Sickendiek, Gunnar Och (Hrsg.): Der jüdische Witz. Zur unabgegoltenen Problematik einer alten Kategorie. Wilhelm Fink Verlag (München) 2015. 2015. Auflage. 317 Seiten. ISBN 978-3-7705-5892-6. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 48,70 sFr.
Aufbau
Neben der Einleitung der Herausgeber enthält das Buch 19 Aufsätze, die auf fünf Kapitel verteilt sind:
- Zur Theorie des jüdischen Witzes
- Zur Soziologie des jüdischen Witzes
- Jüdischer Witz in der westeuropäischen Moderne
- Jüdischer Witz in Amerika
- Jüdischer Witz nach der Shoa
Entstehungshintergrund
Vierzehn Beiträge des Bandes gehen auf Vorträge einer Berliner Fachtagung zurück, die im Mai 2013 an der Freien Universität stattgefunden hat. Fünf weitere Beiträge sind älteren Datums. Sie stammen aus dem englischsprachigen Raum und liegen hier erstmals in deutscher Übersetzung vor.
AutorInnen und Herausgeber
Von den Autorinnen und Autoren fehlt jede biobibliografische Notiz.
Zu den beiden Herausgebern sei gesagt, dass Burkhard Meyer-Sickendiek Literaturwissenschaftler und Privatdozent für Neuere deutsche Literatur an der FU Berlin ist, während Gunnar Och als Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg lehrt.
Zur Theorie des jüdischen Witzes
Der „jüdische Witz“, wie wir ihn im Nachkriegsdeutschland vor allem durch die Sammlung jüdischer Erzählwitze von Salcia Landmann kennen (Jüdische Witze, München 1963), wurzelt, so lernten wir es bei Landmann, in der abgeschotteten Lebenswelt des jiddischen Shtetls in Osteuropa und versucht als Habitus und Befindlichkeit eine heiter hingenommene Trauer über die Antinomien und Aporien des Daseins in der Diaspora zu vermitteln. (vgl. S. 9)
Neben dem „jüdischen Witz“ als einem äußerst gewandten Spiel mit der Polysemie der Wörter und Wendungen thematisiert das Buch den „Judenwitz“, mit dem antisemitische gesinnte Bevölkerungskreise das Wesen des stereotypen Juden mit seinem „angeborenen Geld- und Wucher-Instinkt“ brandmarken wollten.
Begegnete man dem jüdischen Witz mit einem gewissen Wohlwollen, war das Wort „Judenwitz“ eine Schmähvokabel.
In einer weiteren Begriffsauslegung versteht das Buch unter jüdischem Witz keine Textsorte („jokes“), sondern ein Talent („Esprit“): das Vermögen zu intellektueller Gewitztheit und Brillanz, das von der sarkastischen Ironie Heinrich Heines, des „Dichterjuden“, bis zur dialektischen Unerbittlichkeit Michel Friedmans und der polemischen Impertinenz Henryk M. Broders in unseren Tagen reicht. Der Esprit der Juden ist bekannt und gefürchtet; ihn einen „jüdischen Esprit“ zu nennen, wäre allerdings rassistisch, denn dann schriebe man ihn einer Ethnie oder Religion zu – und nicht jahrhundertelanger Verfolgung und dem Versuch der Selbstbehauptung in feindlicher Umgebung. „Jüdischer Humor ist nicht von Natur aus jüdisch“, heißt es auf Seite 105. Um „jüdischen Humor“ zu haben, genügt also die sprichwörtliche Mutter oder Großmutter nicht. (vgl. S. 325), das Diaspora-Schicksal gehört unbedingt dazu.
Der jüdische Erzählwitz, Produkt des jüdischen Humors, ist, wie immer er aufgefasst wird, in der Verspottung Anderer „stachlig und bissig“, wie schon die Gebrüder Grimm schrieben, und im Verlachen seiner selbst, der Selbstverspottung, gnadenlos. Letzteres gilt als sein Spezifikum. Schon Freud schrieb in seiner berühmten Witz-Abhandlung von 1905 zum Witz der Juden: „Ich weiß übrigens nicht, ob es sonst noch häufig vorkommt, dass sich ein Volk in solch einem Ausmaß über sich selbst lustig macht.“ (zit. S. 16) Ist auch diese Selbstironie ein Ausdruck des „Diaspora-Humors“? Im Buch gehen darüber die Meinungen auseinander.
Yekkesjokes
Das Kapitel zur Soziologie des jüdischen Witzes enthält u. a. eine interessante Studie über „ethnischen Humor und Immigranten-Assimilation“ am Beispiel der „Yekkesjokes“. Jüdische Einwanderer aus Mitteleuropa, vor allem Deutschland, die von 1930 an nach Palästina kamen, wurden „Jeckes“ genannt. In ihrer neuen Heimat trafen die Jeckes auf die Pioniere der Besiedlung, die bereits seit Jahrzehnten ansässigen osteuropäischen Juden. In einer großen Anzahl von Witzen karikierten die Alteingesessenen die Assimilationsprobleme der Neuen. Im Spiegel der Jekkes-Witze erscheint der in Palästina gestrandete deutsche Jude als ein Mensch mit vier Merkmalen:
- Er ist starr und stur, was das Festhalten an mitgebrachten Ritualen und Regeln betrifft;
- er ist sprachstutzig, was das Erlernen des Hebräischen angeht;
- er fremdelt, träumt sich zurück in die deutsche Kultur und mag nur schwer Wurzeln in der neuen Umgebung zu schlagen;
- er zeigt eine enorme Autoritätshörigkeit, was den Respekt vor Rang, Status und Titeln betrifft.
Dass das dem jüdischen Witz eigentümliche „Lachen über sich selbst“ auch eine psychologische Seite hat, wird mit Verweis auf Gordon W. Allports Vorurteils-Theorie aufgehellt. In seiner Arbeit „The Nature of Prejudice“, 1958, weist Allport darauf hin, dass eine unterdrückte Minderheit sich in selbstironischen Humor flüchtet, um dem negativen Image zu entrinnen, das die Gesellschaft ihr zuschreibt. Fremdbilder werden zu einem gewissen Grad verinnerlicht und, halb scherzhaft, in Selbstbilder überführt oder auf andere, noch weniger privilegierte Gruppen innerhalb der eigenen Minderheit verschoben. (vgl. S. 155) In dieser, Anna Freud folgend, „Identifikation mit dem Aggressor“ wird ein Mittel der Selbstverteidigung der schlecht beleumundeten Minderheit gegenüber der ablehnend eingestellten Mehrheitsgesellschaft erkannt.
Herrnfeld-Humor und satirischer Angriffswitz
Das Kapitel „Jüdischer Witz in der europäischen Moderne“ widmet sich der Popularisierung des jüdischen Witzes in den unterschiedlichsten Medien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, vom Feuilleton über Theater, Kabarett, Karikatur bis hin zu Revue und Spielfilm.
Der Terminus „Herrnfeld-Humor“ benennt eine spezifische jüdische Ethno-Komik, die von den Gebrüdern Anton und Donat Herrnfeld auf die Volkstheaterbühne im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts gebracht wurde. In ihren Figuren, die sie selbst verkörpern, karikieren die Gebrüder Herrnfeld oft eine „präadulte Komik“ (vgl. S.177), die gern unter die Gürtellinie geht. Die fehlende Lust zu arbeiten wird durch rabulistisch geschilderte Sexualaktivitäten grandios kompensiert.
In dem Aufsatz „Heines Witz im polemischen Urteil von Karl Kraus“ werden die Äußerungen von Karl Kraus über den Witz und die Satire bei Heinrich Heine gesichtet und bewertet. Das Urteil ist wenig schmeichelhaft: Heines Wortwitz wird von Kraus als „asthmatischer Köter“ denunziert. (S. 191)
Heinrich Heine ist überhaupt der meist wiederholte Name in dem Buch. Er und Ludwig Börne tragen die spöttische Kritik und den satirischen Angriffswitz ins deutsche Zeitungsfeuilleton, ein Genre, das im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert entsteht. Die Satire wird zuweilen als „spezifisch jüdische Diskursform“ (S. 205) gebrandmarkt, bei der „sprachlicher und stilistischer Bluff“ (S. 204) über fehlenden Inhalt hinwegtäusche. Die Satire zerstöre „das Ideelle, Erhabene, Rührende“ durch den „Zusammenstoß mit dem Komischen, Gemeinen und Cynischen“ (S. 211) – Typisch „jüdische Zersetzungsarbeit“ in den Augen der Antisemiten. Dass die jüdischen Autoren mit ihrem Spott und ihrer Kritik auch vor Juden nicht Halt machten, wird dabei übersehen.
Amerika
Das Kapitel „Jüdischer Witz in Amerika“ geht der Frage nach, weshalb das Ansehen des jüdischen Witzes in allen seinen Schattierungen – vom karnevalesken Klamauk bis zur satirischen politischen Opposition - bei uns in Europa so viel anders ist als in den USA. Sowohl das us-amerikanische Selbstverständnis eines Einwanderungslandes spielt hier eine Rolle, mehr aber noch das Ausbleiben der Zäsur, die der Zweite Weltkrieg und die Judenvernichtung in Europa bedeutet haben. Während der jüdische Witz in Europa durch die Shoa nahezu vernichtet wurde, findet sich in den USA eine ungebrochene Tradition, berühmt verkörpert etwa durch Eddie Cantor und die Marx Brothers, Lenny Bruce und Woody Allen.
Hollywood und überhaupt die amerikanische Unterhaltungsindustrie der Nachkriegsjahre war von jüdischen Schauspielern und Regisseuren geradezu dominiert, während diese in Deutschland nicht mehr vorhanden waren.
Jüdischer Humor und Witz nach 1945
Das Kapitel „Der jüdische Witz nach der Shoa“ widmet sich der Nachkriegszeit im deutschsprachigen Raum.
Die Darstellung von Juden und jüdischem Witz im zeitgenössischen deutschen Spielfilm wird untersucht und dem Film „Alles auf Zucker“ (2004) von Regisseur Dani Levy eine gewisse exemplarische Bedeutung zugeschrieben.
Ausführlicher als über Filme reflektiert man über Theaterproduktionen und Romane. Bei den älteren jüdischen Theater- und Romanautoren, George Tabori („Die Kannibalen“, 1969) und Edgar Hilsenrath („Nacht“, 1961) vor allem, ist es die komisierende Darstellung der Shoa, die in der Gesellschaft Skandale auslöste. Mit dem Entsetzlichen Scherz zu treiben und daraus Lachnummern des Schwarzen Humors zu machen, war im „Post-Holocaust-Deutschland“ der 1960er und 1970er Jahre eine Provokation.
Bei den jüngeren jüdischen Autoren – Robert Menasse, Robert Schindel und Doron Rabinovici werden hervorgehoben, Jurek Becker und Maxim Biller am Rande erwähnt – wird der inzwischen routinierte Mainstream-Umgang mit der entsetzlichen Vergangenheit aufs Korn gekommen. Die stereotype Betroffenheits-Rhetorik, mit der man in Deutschland angehalten ist, über Shoa und Holocaust zu sprechen, erfährt beißenden Spott. Die Vergangenheitsbewältigungs-Folklore der Tätergesellschaft kommt ebenso unters satirische Messer wie die pathetische Pflege des Opfer-Status durch die jüdischen Verbände und Organisationen. Der penetrant vorgetragene Philosemitismus in Deutschland wird mitunter eines verkappten Antisemitismus verdächtigt.
Fazit
Versucht man anhand des vorliegenden Sammelbandes die Frage zu beantworten, woher jüdischer Humor und Witz kommen, erhält man zahlreiche „sachdienliche Hinweise“. Demnach hat jüdischer Humor seine Quellen
- in der jüdischen Religion und jiddischen Folklore samt ihrer Bräuche und Riten;
- in der Erfahrung des jahrhundertelangen Unterwegsseins, des „nie endenden Aufbruchs“ (S. 268), dem der Zweifel an der Endgültigkeit von allem und jedem eingeschrieben ist, bis hin zum radikalen Selbstzweifel;
- im diskriminierten Minderheitenstatus der Juden in den jeweiligen Aufnahmegesellschaften, durch die der Witz zu einer „Waffe der Unterdrückten“ wurde;
- im Bildungs- und Status-Dünkel der Mehrheitsgesellschaften und den Fassadentechniken, mit denen der Anschein von enzyklopädischer Allwissenheit und Überlegenheit aufrechterhalten werden sollte. Hier fand der jüdische Witz viele seiner Sujets: „Johann Sebastian oder Offen-?“, war die Antwort eines jüdischen Pianisten in Wien, als er vom bildungsbürgerlichen Publikum gebeten wurde, „Bach zu spielen“.
Das vorliegende Buch leistet erstmals eine Zusammenschau des jüdischen Humors und des aus ihm hervorgehenden Erzählwitzes als eines mindestens dreidimensionalen Phänomens – Stichworte: „jüdischer Witz“, „Judenwitz“, „Esprit“ – von dessen westeuropäischen Anfängen zu Beginn des 19. Jahrhunderts über die klassische Wiener und Berliner Moderne bis zur europäischen und amerikanischen Postmoderne des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts.
Rezension von
Prof. Dr. Klaus Hansen
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