Jochen Fahrenberg: Theoretische Psychologie
Rezensiert von Dr. Alexander N. Wendt, 12.05.2016
Jochen Fahrenberg: Theoretische Psychologie. Eine Systematik der Kontroversen. Pabst Science Publishers (Lengerich) 2015. 829 Seiten. ISBN 978-3-95853-077-5. D: 75,00 EUR, A: 77,10 EUR, CH: 99,00 sFr.
Thema
Die wissenschaftliche Psychologie lässt sich nicht nur geschichtlich als Spannungsfeld diverser Forschungsgegenstände, -methoden und -ansprüche beschreiben. Jochen Fahrenberg begreift die Theoretische Psychologie als „gemeinsamen Bezugsrahmen“ (S. 69) dieser Teilgebiete der Psychologie. Im vorliegenden Werk stellt er die Frage, weshalb es keine „kontinuierlich fortschreitende Konstruktion einer Theoretischen Psychologie“ (S. 9) gibt, und an Stelle der fehlenden Einheit der Psychologie vielmehr eine krisenhafte Permanenz von Kontroversen zu finden ist. Dabei stellt er die antagonistischen Positionen des Diskurses ausführlich im Kontext ihrer historischen Entstehung vor und porträtiert die „schwierige Lage der Psychologie, in der sich die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Strömungen und Richtungen der Psychologie deutlich kundtut oder zuspitzt“ (S. 534).
Autor
Jochen Fahrenberg studierte Psychologie, Philosophie und Soziologie in Freiburg, London und Hamburg. Nach seiner Promotion 1962 arbeitete er als Forschungsassistent im Gollwitzer-Meier-Institut in Bad Oeynhausen. Er habilitierte 1966 in Freiburg und gründete 1970 mit Michael Myrtek die Forschungsgruppe Psychophysiologie. Er wurde 1973 auf den Lehrstuhl für Psychologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg berufen und 2002 emeritiert.
Entstehungshintergrund
Der Pabst Science Publishers Verlag veröffentlicht wissenschaftliche Literatur, Bücher wie Fachzeitschriften, zu Psychologie, Pädagogik und Medizin. Das vorliegende Buch ordnet sich keiner Buchreihe zu und wurde als Monographie gebunden veröffentlicht.
Auf seiner Homepage (http://www.jochen-fahrenberg.de) stellt Fahrenberg zahlreiche Publikationen zu Themen der psychologischen Anthropologie, Geschichte der Psychologie, Psychophysiologie und Theoretischen Psychologie zur freien Verfügung.
Aufbau
Das Werk gliedert sich in sieben Kapitel:
- Einleitung
- Begriffliche Grundlagen
- Hauptrichtungen und Strömungen der Psychologie
- Krise der Psychologie – Einheit der Psychologie?
- Empirisches zu Richtungen, Krisen, Trends und Interessendynamik
- Theoretische Psychologie
- Zusammenfassung
Das dritte Kapitel nimmt mit mehr als 400 Seiten etwa die Hälfte des Buchumfangs ein. Es handelt sich um die historische Abhandlung der Entwicklung hin zu einem kontroversen Positionsgefüge der Psychologie. Ihm ist im zweiten Kapitel eine Einführung in die Lage und Schlüsselbegriffe vorangestellt. Es folgen Kapitel zur Darstellung und Beurteilung der Situation der Psychologie und insbesondere der Theoretischen Psychologie. Ergänzt ist ein Sach- und ein Personenregister.
Inhalt
Mit der Einleitung stellt Fahrenberg heraus, welche Fragestellungen in seiner Arbeit im Vordergrund stehen. Programmatisch betont er von vornherein, dass es die allgemeine Absicht sei, „über die Gründe fehlender Einheit der Psychologie nachzudenken“ (S. 21). Als maßgebliche Konzepte, mit denen er diese Situation zu beurteilen sucht, stellt er „Schlüsselbegriffe“ und „Schlüsselkontroversen in der Ideengeschichte“ (S. 18) zur Verfügung, die als Gegenstand des zweiten und dritten Kapitels elaboriert werden.
Die Begrifflichen Grundlagen lassen sich nach Fahrenbergs Auffassung nicht als einheitliche Terminologie begreifen, sondern sind durch generelle Mehrdeutigkeit ausgezeichnet, die sich aus der Heterogenität der begriffsgeschichtlichen Kontexte ergibt. Er stellt eine Liste von mehr als 20 Einträgen vor, die für das Verständnis der Theoretischen Psychologie und ihrer Geschichte mandatorisch seien, darunter etwa Empirie, Pluralismus, Kausalität oder Weltanschauung. Ihnen ergänzt er eine Vorstellung der wesentlichen Methodentypen der Psychologie wie Introspektion, Verhaltensbeobachtung, Experiment, Messung, Test und Interpretation, sowie Anmerkungen Explikation, Operationalisierung und Adäquatheit. Außerdem stellt er heraus, welche eigene wissenschaftstheoretische Positionierung er vornimmt. Fahrenberg stellt seine Gedanken in die Tradition Immanuel Kants und Wilhelm Wundts (S. 28) und bekennt sich somit zum sog. Kritischen Rationalismus.
Die Ausführung zu den Hauptrichtungen und Strömungen der Psychologie nimmt den größten Umfang innerhalb der Arbeit ein. Die 19 Unterkapitel lassen sich durch drei Schwerpunkte kennzeichnen. In 1-6 stellt Fahrenberg die Psychologiegeschichte vor, indem er auf Vordenker der akademischen empirischen Psychologie eingeht, vor allem auf Immanuel Kant. In 7-11 charakterisiert er detailliert die seines Erachtens maßgeblichen Psychologen der Gründungsphase der akademischen empirischen Psychologie, Wilhelm Wundt, Franz Brentano und Sigmund Freud und stellt sie zueinander ins Verhältnis. In 12-19 führt er in die einflussreichsten Strömungen innerhalb der Psychologie nach ihrer Gründungsphase ein und stellt sie in den Zusammenhang der wesentlichen Schlüsselkontroversen. Im Fokus steht der Begriff der Kontroverse allerdings insgesamt, da für das Gros der vorgestellten Psychologen der Bezug zu zeitgenössisch virulenten Fragen der Disziplin gesucht wird, wie das Leib-Seele-Problem, das Theorie-Praxis-Problem oder die Abgrenzung der Psychologie zur Philosophie.
Auf Grundlage der terminologischen und historischen Ausführungen der ersten Kapitel spezifiziert Fahrenberg im folgenden Kapitel den Begriff der Krise der Psychologie. Er diskutiert, inwiefern sich die fehlende Einheit der Psychologie als krisenhaft erklären lässt. Dabei gelte es, den historisch mehrdeutigen Begriff als Aufbaukrise, also eine Entwicklungsphase, Revolution, also den Wechsel eines Paradigmas, als Vorherrschaft einer Richtung oder als Strukturkrise, also immanente Widersprüchlichkeit zu nuancieren (S. 535). In Rückgriff auf prominente Stellungnahmen zum Schlagwort der Krise der Psychologie, insbesondere Karl Bühlers Schrift von 1927, skizziert der Autor, dass sich die Krisendiskussion „als eine von Anfang an bestehende Unzufriedenheit mit dem Status der empirischen Psychologie“ (S. 592) begreifen lasse, letztlich aber aus ihm keine systematische Klärung der Frage nach mangelnder Einheit der Disziplin resultiere. Vielmehr bedürfe es einer empirischen der Lage der Psychologie, die im folgenden Kapitel thematisiert wird.
Demgemäß greift Fahrenberg im Folgenden auf Empirisches zurück, um den historisch ungenügend als Krise polemisierten Stand der Psychologie als einheitlicher Wissenschaft zu beleuchten. Er schlägt vier Gesichtspunkte vor, nach denen die Entwicklung der Psychologie in ihrer Schwerpunktsetzung wissenschaftssoziologisch beurteilt werden könne. Zunächst biographisch orientierte Untersuchungen, die Leben und Werk, in erster Linie aber die Rezeptionsgeschichte eines einzelnen Autors erforsche. Dann die Einstellungsforschung, die sich der Forschungsgemeinschaft als Gegenstand zuwendet, und repräsentative Einstellungen zu Schlüsselkontroversen etwa mit Fragebogendesigns in Erfahrung zu bringen habe. Des Weiteren die Untersuchung fachlicher Trends mit bibliometrischer Analyse, in der z. B. die Präsenz zentraler Begriffe in fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen erfasst würde. Zuletzt bestehe die Möglichkeit die Schlüsselkontroversen selbst scientometrisch nachzuvollziehen, bei der die begrifflichen Gegensatzpaare wie Leib und Seele berücksichtigt würden, z. B. auf Grundlage digitalisierter Lexika (S. 686).
Der letzte Abschnitt wendet sich der Theoretischen Psychologie selbst zu. Fahrenberg diskutiert dabei, inwiefern eine Theoretische Psychologie nach dem reduktionistischen Vorbild Theoretischer Physik denkbar wäre. Er kommt zu dem klaren Verdikt, dass es sich bei dieser Vorstellung um eine Unmöglichkeit handelt, weil keine konsistente Grundlage bestehe und die disziplinäre Situation in erster Linie divergent bestimmt sei. Alternativ artikuliert er ein Plädoyer für die Theoretische Psychologie als „Systematik der Schlüsselkontroversen der Psychologie“ (S. 765), die als ein philosophisch geordneter Überblick über die fünf Formen von Kontroversen fungieren könne: ontologische, erkenntnistheoretische, wissenschaftstheoretische, strategische und empirische Kontroversen. Gleichermaßen habe als Aufgabe der Theoretischen Psychologie zu gelten, die intradisziplinären Positionen systematisch zu artikulieren sowie sie dem interdisziplinären Diskurs zugänglich zu machen.
Diskussion
Fahrenbergs Werk ist zunächst als psychologiehistorische Abhandlung zu lesen, auch wenn er herausstellt, dass er keine geschichtswissenschaftliche Neutralität einholen kann und die „Geschichtsschreibung über Kontroversen, Krisen und Erneuerungen der Psychologie pauschalen, verallgemeinernden Beurteilungen ausgesetzt“ (S. 20) sei. Wenngleich er herausstellt, dass „[e]ine umfassende Darstellung der Strömungen, Richtungen und speziellen Schulen der Psychologie vorzulegen, […] heute einem einzelnen Autor nicht mehr möglich“ (S. 140) sei, ist der Schwerpunkt der Arbeit in der ausführlichen Wiedergabe historischer Positionen anhand der Vorstellung „herausragende[r] Psychologen“ (S. 326) als methodischer Schwerpunkt zu betrachten. Dabei bedient er sich oftmals sorgfältig recherchierter Zitatreihen (vgl. S. 280f, S. 538f).
Hinsichtlich der Forschungsfrage der Arbeit nach der Möglichkeit disziplinärer Einheit der Psychologie wird die historiographische Methode durch eine Öffnung zum Methodenpluralismus ergänzt, der sich auf Kants Konzept des „Perspektiven-Wechsel[s]“ (S. 35) gründet: „Die Psychologie […] hat grundsätzlich andere Fragestellungen und erfordert eigenständige Kategorien und Erkenntnisprinzipien, die den Naturwissenschaften fremd sind“ (S. 51). Dementsprechend bezieht er gegenüber reduktionistischen Methoden der empirischen Praxis wie der Triangulation einen skeptischen Standpunkt (S. 123) und artikuliert eine „wissenschaftstheoretisch fundierte Kritik am psychologischen Experiment“ (S. 96).
Diese beiden methodologischen Schwerpunkte, die historische Elaborierung der Lage in der Psychologie, sowie die Öffnung zu methodischer Vielfalt, markieren den Umriss des Werkes. Sie präfigurieren auch das Ergebnis der Betrachtung, das keine Dogmatik riskiert, aber auch kein kämpferisches Plädoyer für die Bedeutung der Theoretischen Psychologie zulässt. Vielmehr wird vieles historisch relativiert und der Theoretischen Psychologie zuletzt eine Aufgabe der Vermittlung zugewiesen, die sich vorrangig aus Wissenschaftstheorie und -geschichte rekrutiert.
Seinen Impetus zum Urteil über die Psychologiegeschichte gewinnt Fahrenberg aus seiner Anlehnung an den Kritischen Realismus, den er von Kant und Wundt ableitet, und der „die genetische Subjektivität der unmittelbar zugänglichen Erfahrung von der objektiven Erfahrung eines anschaulichen Objektes, beispielsweise eines Stuhls, der nicht etwa nur ‚subjektive‘ Erscheinung ist“ (S. 358), voneinander scheidet. Aus der Sphäre dieses Konzepts gewinnt der Autor seine Urteilskriterien, sowie häufig den Blickwinkel auf die Kontroversen innerhalb anderer Strömungen, sodass zu sagen ist, dass sein Urteil über z. B. phänomenologische oder psychoanalytische Konzepte kritisch realistisch gefärbt bleibt und eine bisweilen oppositionelle kritische Distanz aufrechterhält. Dennoch ist zu sagen, dass diese positionelle Orientierung für den Zweck einer weitgehend vermittelnden Darstellung der Psychologiegeschichte in der Vielfalt ihrer Facetten sachdienlich ist, weil der Kritische Realismus sich als anschlussfähig gleichermaßen für natur- wie geistes- und sozialwissenschaftliche Bezüge erweist.
Die Emphase, mit der der Autor seine „gründlichere Lektüre von Kants (1798) Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (S. 28) hervorhebt und deren Unbekanntheit unter Psychologen und Philosophen wiederholt moniert (Vgl. z. B. S. 80, S. 197), markiert indes einen merklichen Einfluss der theoretischen Selbstzuordnung Fahrenbergs. Die Auswahl der Vordenker der akademischen empirischen Psychologie ist stark auf Kant fokussiert und übersieht unterdessen andere Bewegungen, die auf das akademische Klima der Gründung der Disziplin Einfluss genommen haben. Zu nennen wären etwa der Neurealismus und Positivismus, die Lebensphilosophie und der Existentialismus, Neukantianismus oder auch der Hegelianismus. Somit geht ein markanter Einfluss auf die Arbeit klar von den beiden Protagonisten Kant und Wundt aus, wobei dieser als zeitgenössisch vernachlässigt und fehlinterpretiert dargestellt wird (Vgl. z. B. S. 207). Als gegenwartspsychologischen Referenzpunkte nimmt Fahrenberg etwa auf Harald Walachs jüngere Publikation „Psychologie“ (www.socialnet.de/rezensionen/15964.php) und seinem Konzept der Komplementarität (vgl. S. 26, S. 57), oder auf Norbert Groebens Veröffentlichungen zur Lage der Kognitiven Psychologie Bezug.
Das Hauptaugenmerk, wesentliche Kontroversen aus der Geschichte des Faches zu extrahieren und deren Systematisierung als Aufgabe der Theoretischen Psychologie vorzuschlagen, ist programmatisch. Es handelt sich um eine Form der Abstraktion von den partikulären empirischen und theoretischen Fragestellungen (S. 127), um die maßgeblichen Formen der Kontroverse hervorzuheben, wobei die kulturvergleichende Perspektive extrahiert wird (S. 142). Es handelt sich also um die Suche nach den „allgemeinsten Prinzipien der Psychologie“ (S. 535) durch eine „Zusammenschau der empirischen Befunde“ (ebd.). Klar zu sehen gilt es aber, dass die konkret referierten Kontroversen, etwa das Leib-Seele-Problem, in einem Kontext stehen, der über die Psychologie bis hin zu anthropologischen Existenzfragen hinausweist. Gewissermaßen konturiert der Begriff der Kontroverse die Psychologie somit nicht bloß, sondern verweist lediglich auf die Vagheit der disziplinären Grenzen. Das genuin psychologische Prinzip scheint nicht eindeutig hervor – vielmehr ergibt sich aus der Heuristik der Untersuchung prominenter Geistesgrößen eine offene Menge an Kontroversen, die auf dem Reißbrett Grenzen zu ziehen suchen.
Um seinem eigenen Anspruch gerecht zu werden, ist allerdings anzumerken, dass die Zuordnung der einzelnen Forscher zu Lagern oder Strömungen durchaus einen Verlust an Eigenkomplexität herbeiführt, weil Details schematisch wahrgenommen werden. Ein Beispiel ist ein verkürzter, unphänomenologischer Begriff der Intentionalität (Vgl. S. 280, 310), der verhindert die essentielle Eigenheit der phänomenologischen Psychologie in Abgrenzung von der geisteswissenschaftlichen Psychologie hervorzuheben, weil sie vom klassischen Begriffspaar idiographischer und nomothetischer Wissenschaft aus beurteilt wird. Auch subtile Einflüsse wie der dialogische Ansatz der Wygotski-Schule finden keine Berücksichtigung, was aber nur als Beispiel dafür zu gelten hat, dass der abstraktive Blick auf prinzipielle Kontroversen trotz großer Detailliertheit der Analyse Nuancen einzelner Positionen zu übersehen droht und die individuellen Potenziale von Forschungstendenzen durch Kategorienzuordnung verkennt. Hierbei handelt es sich zuletzt aber um eine heuristische Praktikabilitätserwägung, da zum Zwecke der Übersicht das Postulat von kohärenten Strömungen wesentlichen Nutzen erweisen.
Stärker als durch die Prinzipiensuche, profiliert sich die Arbeit selbst als ein Beispiel gelebter Kontroverse. Fahrenberg referiert nicht nur textsicher die Originalautoren, sondern auch ihre Kommentatoren (vgl. z. B. S. 158, S. 182), ohne sich wiederum eines Kommentars zu enthalten oder gar die komplexen Argumentationsverläufe innerhalb der Literatur mit Rede und Gegenrede detailgetreu wiederzugeben, wie im Falle der Wundt-Bühler-Kontroverse zur Krise der Psychologie (S. 564ff), aber auch die zeitgenössische Replizierbarkeitsdebatte um Nosek (S. 103). Fahrenberg schildert also die Argumentationspraxis am Beispiel, indem er die Kontroversen in ihren Verläufen rekonstruiert (z. B. S. 302ff) und damit ein Panorama des Diskursklimas in der Psychologie zeichnet, das in zeitgenössischer Psychologie des bloßen Experiments allzu schnell übersehen wird. Dabei mag er in Betreff der klassischen Autoren durchaus Bezüge eher konstruieren als die Ausgangslage zu rekapitulieren, doch hierin besteht ein hermeneutischer Mehrwert, der eben erst dadurch ersichtlich wird, dass der Autor über ein minutiöses Wissen von Psychologiegeschichte verfügt, und somit strukturelle Zusammenhänge herzustellen vermag, die ihm letztlich z. B. sogar erlauben, die Validität der Krisendebatte selbst in Frage zu stellen (S. 587).
Zu diesem Gesichtspunkt des Werkes als gelebter Kontroverse ist auch Fahrenbergs Stil zuzuordnen. Oft findet er klare Worte, um zu einem Urteil über eine Position zu kommen (Vgl. z. B. S. 343). Die Darstellung der einzelnen Autoren vor dem Hintergrund einer umfassenden historischen Herleitung erzeugt eine kompendiarische Atmosphäre der Lektüre, dessen Wert darin liegt, in herausragender Genauigkeit dank profunder Textkenntnis Kritik an den tragenden Positionen der Psychologiegeschichte zu üben. Die – in erster Linie – wissenschaftssoziologischen Ausführungen zur empirischen Evaluation des theoretischen Klimas der Disziplin zeigen zwar Perspektiven auf, sind aber weder argumentativ wegweisend, noch hinreichend, um aus ihnen Richtlinien für einen Diskurs abzuleiten, wie sich aus Fahrenbergs eigenen kritischen Anmerkungen bereits erkennen lässt (S. 683ff). Dennoch bleibt als stichhaltiges und insbesondere praktisches Plädoyer, in dem sich Fahrenbergs Credo für einen Methoden- und Perspektivenpluralismus repräsentiert findet, dass neben einer experimentalpsychologisch-statistischen Ausbildung im Psychologiestudium der Anreiz Theoretischer Psychologie darin bestehen möge, diesem experimentellen Paradigma die Lehre eines interpretativen Paradigmas zu ergänzen (S. 766).
Fazit
Jochen Fahrenberg schlägt vor, Theoretische Psychologie als Systematik der Schlüsselkontroversen der Psychologie zu begreifen und nicht einem einheitswissenschaftlichen Ideal nach Vorbild der Theoretischen Physik nachzustreben. In einer psychologiegeschichtlichen Abhandlung referiert er die Leistungen herausragender Psychologen, um die wesentlichen Strömungen aufzuzeigen und ihre Kontroversen zu extrahieren. Im Anschluss an die klassische Debatte um die Krise der Psychologie plädiert er für empirische Kriterien, um eine Übersicht über die Lage der Disziplin zu ermöglichen, die unabhängig von einzelnen Positionen ist. Es handelt sich um eine kompendiarische Lektüre, die auf Fahrenbergs profunder Textkenntnis der Originalliteratur aufbaut und deren Wert einerseits durch gelebte Kontroverse und leidenschaftliche Wissenschaft bestimmt ist, die im agonalen Dialog die Möglichkeiten der Disziplin sucht, und andererseits durch ein indirektes Plädoyer für die Tragkraft und den Nutzen der Theoretischen Psychologie, wenngleich als Kompromiss einer in erster Linie ordnenden und vermittelnden Aufgabe.
Rezension von
Dr. Alexander N. Wendt
Dr./M.Sc. (Psychologie), M.A. (Philosophie)
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Zitiervorschlag
Alexander N. Wendt. Rezension vom 12.05.2016 zu:
Jochen Fahrenberg: Theoretische Psychologie. Eine Systematik der Kontroversen. Pabst Science Publishers
(Lengerich) 2015.
ISBN 978-3-95853-077-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19581.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
Urheberrecht
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