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Lars Clausen: Meine Einführung in die Soziologie

Rezensiert von Arnold Schmieder, 10.11.2015

Cover Lars Clausen: Meine Einführung in die Soziologie ISBN 978-3-86600-245-6

Lars Clausen: Meine Einführung in die Soziologie. 15 Vorlesungen in freier Rede. Stroemfeld Verlag (Frankfurt/M.) 2015. 365 Seiten. ISBN 978-3-86600-245-6. 28,00 EUR.
Herausgegeben von Jan-Frederick Bandel und Klaus R. Schroeter unter Mitwirkung von Bettina Clausen.

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Thema

Es ist keine der üblichen Einführungen in die Soziologie, in der unter eng gezogener theoretischer Perspektive wesentliche Gegenstände dieser Disziplin abgehandelt werden. Es werden auch nicht bloß Schulen und Theorien vorgestellt und eine Wissenschaftsgeschichte der Soziologie ist es auch nicht. Lars Clausen hatte im Sommersemester 2000 seine letzte Pflichtvorlesung zum Thema „Einführung in die Theorien der Soziologie“ zu halten und hat sich die Freiheit genommen, ausgetretene Pfade zu verlassen (die nie sein Weg waren) und soziologisches Wissen wie Erklärungen von Phänomenen mit Autobiographischem verwoben, dabei Zeitzeuge und Interpret zugleich, bisweilen mit Anekdotischem aufwartend, um am Besonderen das Allgemeine kenntlich zu machen. Lars Clausen wählt nach eigenem Bekunden einen „Herangehensweg“, „der seine Mucken hat.“ Er lädt ein, „so der Soziologie (mit mir) gegenüberzutreten, wie ich es selbst getan habe, und es am Faden meiner eigenen Berufsfindung als Soziologe nachzuvollziehen.“ Was er bietet, ist ein „synthetischer Anlauf“, wobei er über die ganze Dauer der Vorlesung den „Entstehungszusammenhang“ seiner „eigenen Theorie“ vorstellt. (S. 11)

Zehn Jahre nach Lars Clausens Tod, anlässlich seines 80. Geburtstages im April 2015, machten sich sein ehemaliger Schüler Klaus R. Schroeter und der Literaturwissenschaftler Jan-Frederik Bandel unter Mitwirkung von Bettina Clausen an die Herausgabe. Bettina Clausen lieferte insbesondere Belege für die freihändigen Zitationen, wobei sie auf die Arbeitsbibliothek ihres Mannes zurückgriff. Lars Clausen selbst hat die erste und zweite Vorlesung, wie alle anderen in freier Rede gehalten, transkribieren lassen, redigiert und für Veröffentlichungen ergänzt. Die fünfzehnte Vorlesung lag vorher im Manuskript vor, da sie auch als Abschiedsvorlesung gehalten wurde. Insgesamt haben die Herausgeber eben kaum diese Kapitel bzw. Vorlesungen bearbeitet, sondern die restlichen um Ungenauigkeiten u.ä. bereinigt, ohne den Texten „den Charme des spontanen, gelegentlich digressions-, immer aber zuspitzungsfreudigen mündlichen Erzählens zu nehmen.“ (S. 9 f.)

Inhalt

„Eine waghalsige Vorlesung“ (S. 11) betitelt Clausen seine Vorbemerkung und umkreist gleich eingangs die Frage, welche lebensgeschichtlich frühen Erlebnisse prägend und für in weitestem Sinne soziologisches Interesse disponierend sein können, nicht müssen. „Ich wurde also im Winter 1946/47 ein entschiedener Antinazi. Ich war zwar erst elf, zwölf, aber es hat gereicht. Ich habe mich dann in diese Sache hineingedacht, so viel zur soziologischen Erklärung.“ Dass er als Kind mit Wolfgang Borchert gespielt hat, dem 1947 verstorbenen „Verlorene-Kriegs-Dichter“, erwähnt er, um darauf aufmerksam zu machen, wie „radikale Widersprüche“ in seine Erfahrung eingesickert sind und Reflexion abnötigten. (S. 37 f.) Mit Rückblick auf seine – nicht nur – humanistische Bildung spricht er von „Proto-Soziologie“, seiner „Soziologie vor der ‚Soziologie’“, die bis zu Homer und Moses zurückreiche.

Wenngleich er Betriebswirtschaft, Jura und Volkswirtschaft zu studieren begann, blieb die Soziologie sein „innerliches Hauptfach.“ (S. 80 f.) Entlang einer Auseinandersetzung mit historisch-religiösen Welterklärungen und älteren Verfassungen leitet er zur Katastrophensoziologie (einem seiner Forschungsschwerpunkte) und verdeutlicht daran zum einen, wie interdisziplinäre Zugänge fruchtbar zu machen sind (für die ältere deutsche Soziologie eine Selbstverständlichkeit), zum anderen belegt und betont er: „Wichtig ist zunächst einmal zu sehen, dass es überhaupt eine Frage ist.“ (S. 105) Wo er die Zeit um die 58er Revolte gegen insb. Atombewaffnung und Bundeswehr beschreibt und analysiert, gibt er Einblick in seine damalige Befindlichkeit, wie seine studentischen Versuche „immer quälender“ wurden, „eine Theorie zu finden“, „um die Sache endlich mal auf den Begriff zu kriegen, die Geschichte für heute, durchschaubar, anwendbar.“ (S. 125) Dabei flicht er die Theorieansätze namhafter Soziologen ein und diskutiert – fast nebenbei, aber im Kern sehr präzise – kritisch deren Erkenntnisreichweite. Wird man hier u.a. mit Schelsky und König vertraut gemacht, geht es immer mit Blick auf Erklärung von Zeit und Umständen theoretisch weiter mit u.a. Dahrendorf, Parsons, Marx und Pareto, zeitgleich räumlich Richtung Münster mit der bekannten Sozialforschungsstelle in Dortmund, der „große(n) Parkanlage der Soziologie“. (S. 129) Dort verbrachte Clausen im Kreise von u.a. Hans-Jürgen Krysmanski, Luc Jochimsen und Dankwart Danckwerts „,Halkyonische Tage’“. (S. 149) Der junge Assistent erlebte dort eine „absolute Pionierzeit“ und die so genannten Entwicklungsländer rückten in den Fokus nicht nur seines Interesses (die wenige Jahre später in Münster mit den so genannten unterentwickelten Ländern zum prominenten Forschungsgegenstand des Ethnologen und Soziologen Christian Sigrist wurden, was Clausen jedoch nicht mit all den damit verbundenen politischen Turbulenzen hautnah erlebt hat).

Clausen verschweigt die Strukturen und Abhängigkeiten der alten Ordinarienuniversität nicht und auch nicht, dass in ihr Altnazis wirkten. Er selbst richtet in der Folgezeit sein Augenmerk auf Urbanisierung (nach seiner Meinung von Baudelaire besser beschrieben „als von den Soziologen“ (S. 187)), Stadt und Individuum, wobei er als Rüstzeug die Schriften von Simmel und Riesman, vor allem aber auch Tönnies nutzt, über den er reichlich publiziert hat. Dabei substantiiert er in Anlehnung an Simmel den „kühne(n) Gedanken“, erst „in der Großstadt wird der Mensch ein Individuum.“ (S. 189 f.) Nachdem er die theoretischen Annäherungen an das Problem durch ebenfalls Tönnies sowie Riesman und Schelsky ausgelotet hat, weist er die Studierenden mit Nachdruck darauf hin, dass die Analysen „oft parallel bei den Soziologen“ liegen: „Dass es theoretisch unterschiedlich ist, liegt daran, dass man neue Probleme hat. Deswegen kriegen Sie in der Soziologie so viele Theorien angeboten.“ (S. 191) Die 68er-Studentenbewegung hatte nicht nur in Fragen um Klassenkampf und Revolution Auswirkungen auf das theoretische Selbstverständnis der Soziologie, deren jüngere Vertreter die Schriften von Marx und Engels und gleichermaßen Horkheimer und Adorno wie auch Marcuse für eine eben kritische Soziologie fruchtbar machten. Clausen bezieht sich auf Dahrendorf und Marx, Mao und Lenin, schließlich auf Weber und dessen Theorie des „Charisma“ – um damit offen eine (angeblich) für die politisch engagierten 68er damals „absolut unzulässige Fragestellung“ aufzuwerfen, ob nach einer Revolution Macht und Herrschaft (in Gestalt der ‚Partei’, neuen Führern) nicht wieder auferstehen, eine „Form der Neoreligiosität“ oder ein „neuer Fundamentalismus“. (S. 215) Zwischen den Zeilen thematisiert er damit aber die belangvolle Frage nach der Zweck-Mittel-Relation, die heute erneut diskutiert wird.

Nach längerem Bewerbungsmarathon endlich in Kiel als Professor, dort verschlagen unter Maoisten, wagte Clausen es, den verpönten Machtheoretiker Pareto mit dem Denken von Marx und an ihm orientierter politischer Praxis in Verbindung zu bringen. Das schaffte Schwierigkeiten vor allem in Bezug auf die Forschung und darum verlegte er sich zusammen mit Bettina Clausen auf den (immer noch) kaum bekannten Dichter Leopold Schefer, wobei er lernte, „dass es immer gut ist, an den Quellen zu arbeiten und ungeheuer penibel zu sein“, eine „Gründlichkeit“, die den Soziologen oft abgehe. (S. 236) Danach hätte Clausen gern einen Schwerpunkt zur Soziologie der Länder der Dritten Welt in Kiel etabliert und dazu drei Assistenten gebraucht. Der Minister hatte kein Interesse. Daher machte Clausen „neue Sachen“ und die waren vor allem Jugendsoziologie und Theorien mittlerer Reichweite, Katastrophensoziologie und Logik für Sozialwissenschaftler. Zu letzterem bündig: „In den Sozialwissenschaften kann ja durch die Tatsache, dass die Warnung korrekt war, das Ergebnis ausbleiben. Oder ungeachtet der Tatsache, dass die Warnung nicht korrekt war, das Ergebnis dennoch eintreten.“ (S. 255) Der „Kieler Hausgeist: Ferdinand Tönnies“ (S. 265) darf nicht fehlen. Erinnernd an Spinoza und sein Diktum, dass in allem Denken ein Wollen und in allem Wollen eine Rationalität ist, entfaltet er in Kürze die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft und Wesen- und Kürwille von Tönnies, zeigt mit ihm, dass es keinen Individualismus gibt, der nicht auf Gemeinschaft fußt. Leider war Tönnies nach dem Krieg „erbenlos“ geblieben, bedauert er, da Schelsky „keine Theorie“, keine „Kopfakrobatik“ wollte und König ein „Durkheim-Freak“ war. (S. 274)

Dass Clausen im Zuge ‚seiner’ Einführung in die Soziologie auf Soziobiographie und die Frage kommt, unter „welchen Umständen kommt das Wesentliche auf den Begriff?“ (S. 278), liegt auf der Hand, und statthaft ist es durchaus, dass er über Mead und die Symbole und Schütz und die Lebenswelt seinen Weg zur Tauschtheorie, die als Monographie vorliegt, skizziert und zu dem führt, was er „amphibolisch“ nennt und damit den „Kompromiss im kollektiven Tausch“ darstellt: „Ich bin etwas, denn mein Volk ist etwas, mein Sippe taugt was, meine Klasse ist furchtbar gut – auch durch mich.“ (S. 326 f.)

Die letzte Vorlesung ist Voraussagen gewidmet – so etwa kulturellen, dass der alltägliche Vandalismus zunehmen und aus einem Menschenrechtserfolg (zunehmender sozialer Gleichbehandlung der Geschlechter) „ein neuer menschenrechtsorientierter Handlungsbedarf“ erwachsen wird. (S. 332) Eine seiner staatssoziologischen Voraussagen lautet, dass „eher ‚ständische’ als parlamentarische Legislativen entstehen“ werden und „kommende Gremien durch gewollt ungleiche Wahlen besetzt werden.“ (ebd.) Schließlich macht er u.a. noch eine wirtschaftssoziologische Voraussage, nach der die „gegenwärtige elektronische Revolution (…) eine rein kapitalistische ‚Globalisierung’ zugunsten anderer Globalisierungseffekte behindern“ wird, da der Kapitalismus „(auch nur) eine soziale Institution“ ist, „die neuen Herausforderungen nicht gewachsen sein muss. Bei der Ablaufdiagnose sollte man sich außer an Karl Marx´ ‚Revolution der Produktivkräfte’ auch an den Marx für Bürger erinnern, an Vilfredo Pareto: Die Institutionen sterben an ihren Erfolgen. Und auch für die Wirtschaft gilt sein Ausspruch: Die Geschichte ist ein Friedhof der Aristokratien.“ (S. 335) Um dem allem zu wehren, seien „Minoritätenpflege“ und „Vetogewalten von unten“, seien weltweiter Ausbau von Rechtssicherheit“ und eine „UNO-Kriminalpolizei zur Bekämpfung der organisierten Wirtschaftskriminalität“ angezeigt. (S. 338)

Diskussion

Wo er Kritik übt, schlägt Clausen die leisen Töne wohlerzogener Umgangsformen an, ohne dabei an Deutlichkeit zu verlieren. „Was tun?“ betitelt er seine abschließenden Überlegungen zu dem, was dringend geboten scheint. Wohl augenzwinkernd leiht er den Titel einer Schrift von Lenin aus, die für die damalige Zeit ein „revolutionstaktisches Rezeptbuch“ (Wolfgang Lefèvre) war und die Prinzipien eines ‚demokratischen Zentralismus’ beinhaltete. Clausen hängt seine Desiderate tiefer, spart in seinen Eckpunkten über das, was sein soll, Kritik an dem, was ist, auch im Hinblick auf Kulturpolitik nicht aus. Möglichst „lebensfrüh“ habe sie anzusetzen, und zwar als Bildungspolitik und darin zumal als „Sprachbildung“: „Man lehre nicht, mit den Stammelnden zu stammeln: Aber wer die kommenden Sprecher anstrengt, macht es ihren Hörern desto leichter – auf höherem Niveau.“ (S. 338) Plaudert Clausen da ein wenig aus dem Nähkästchen, ist es ein Hintergrundrauschen seiner Erfahrungen als Hochschullehrer aus den letzten Jahrzehnten?

Den ein oder anderen Seitenhieb gegen seine eigene Zunft erlaubt er sich durchaus; so bemerkt er nebenbei, es sei ganz nützlich, wenn ein Autor „einen anständigen, beinahe heiteren Dialog mit seinem Leser führt, also mit der Leichtigkeit des Geistes auftritt“, und fügt als Schlenker die Parenthese hinzu: „(Schwere und Plumpheit sind ja nicht Vorrechte des Geistes, sondern eher des deutschen Professors).“ (S. 285 f.) Und wo er sich selbst testiert, ein „helles Kind“ gewesen zu sein, sagt er in einem Atemzug: „Dass ich Professor wurde, hat mit Irrtümern zu tun“. (S. 41)

Wo Clausen sich über die Nachkriegszeit auslässt und darüber, dass „vieles beschwiegen“ wurde, vermerkt er auch, dass sich unter den Assistenten und Professoren vor allem Reserveoffiziere fanden; so war Schelsky bei der Infanterie und sein Assistent Tartler bei den Panzern. Die dort gemachten Erfahrungen hätten diese Wissenschaftler „realistisch“ gemacht, gemeint ist nicht der „Arbeiterrealismus“, sondern der „Soldatenrealismus“, den sie „als junge Leutnants (lernten), nicht als junge Vorarbeiter. Das ist eine ganz andere Erziehung: Sie kennen keine Solidarität, sie kennen Kameradschaft“ (S. 127 f.) – aus der sich, was hinzuzufügen ist, Seilschaften ergaben und Machtpositionen im Universitätsbetrieb, wo Unliebsame ausgemustert wurden oder gar nicht erst zum Zuge kamen. Eher rücksichtsvoll und mit bemühtem Verständnis lässt sich Clausen über den „größten Nazi unter den deutschen Professoren“ (S. 178) aus: Karl Heinz Pfeffer, an den ihn Schelsky verwiesen hat und mit dem er viele Jahre zusammen war und von ihm gelernt hat, vor allem „Disziplin, die man haben muss“. (S. 183) Und er wiederholt, was er in „dieser Schärfe“ nur auf einem Soziologentag gesagt hat, „dass es famos ist, dass Pfeffer zweimal daneben lag, als einziger Nazi unter lauter Leuten, die es von den Nazis gut gehabt hatten – und eigentlich auch dafür waren, aber natürlich in Maßen.“ (S. 182 f.) Was Clausen ihm zugute hält, ist, dass Pfeffer „inzwischen bereut“, „es für einen fürchterlichen Irrtum seines Lebens erklärt“ hatte. (S. 181 f.) – Als einziger Nazi? Vielleicht an der Sozialforschungsstelle in Dortmund… Clausen reklamiert ‚Verstehen’ mehr als ‚Verständnis’ und relativiert, ohne rechtfertigend zu exkulpieren. Dass es auch zur Zeit des Nationalsozialismus eine recht rührige Soziologie gegeben hat und deren Vertreter z.T. in der jungen Republik weiter wirken und auch lehren konnten, ist durch die publizierten, akribisch recherchierten Quellenforschungen von Carsten Klingemann trotz langen ‚Beschweigens’ und empörter Dementis dieses unrühmlichen Blattes der Disziplin inzwischen hinlänglich belegt.

Clausen war selbstredend und nicht nur über das Werk von Tönnies vertraut mit den Schriften von Marx, dessen ‚Revolutionstheorie’ er „sehr in der Nussschale“ dort skizziert (S. 211), wo es ihm in der 8. Vorlesung um Klassenkampf und Revolution und mit Bezug auf Webers Charisma-Begriff um die Wiederkehr des Immergleichen, der Wiederauferstehung von Macht- und Herrschaftsstrukturen geht. Er meldet – historisch begründend – große Skepsis an. Hier provoziert er eine theoriegeschichtliche Rückschau auf das Problem revolutionärer Gewalt, eine Frage, die neuerdings in dem von Hendrik Wallat herausgegebenen Band über „Gewalt und Moral“ mit Blick auf die Zweck-Mittel-Relation und die Wahrung nicht zu hintergehender moralischer Postulate sehr feinnervig und ebenso soziologisch wie philosophisch auslotend diskutiert wurde. Clausens Skepsis ist auf dem Hintergrund der Erfahrungen aus (nicht nur) neuerer Geschichte angebracht; sie kann jedoch nicht als ultima ratio genommen werden, auch nicht als ‚vorläufige’. Auch die Machtfrage ist zwar relevant, dringt aber nicht zum nervus rerum vor:

Der Frage der Macht wird gegenüber polit-ökonomischen Erklärungen aber hie und da bei Clausen im Nachgang zu Dahrendorf größere Aufmerksamkeit gewidmet und er hält Pareto gegen Marx, nennt allerdings auch ihre scheint´s geistige Verwandtschaft in wenigen Punkten: Pareto sei der Meinung, „dass fast alle Handlungen irrational sind, aber rational begründet werden. Dieselbe brutale Haltung gegenüber allen Ideologien hatte übrigens auch Marx. Er sagt, die Menschen glauben das, was ihrer Klassenlage entspricht. In der Beziehung ist Pareto der Marx der Bourgeoisie, weil er glaubt, dass Kommunisten davon nicht ausgenommen sind und infolgedessen genau dieselben Fehler machen, was Marx nun wiederum anders vorausgesehen hat.“ (S. 226 – Die hier ohne Zitation übernommene Bezeichnung Paretos als „Marx der Bourgeoisie“ ist ggf. von Agnoli übernommen und dort kritisch distanzierend gemeint.) Und wenn man wie Dahrendorf, den Clausen einen „Kryptoparetianer“ nennt, glaubt, „dass die wundervollen, einzigartigen Schmalspurigkeiten oder Allerklärungen des Marx nicht greifen, sondern dass es viele Konflikte gibt“, dann muss ein „abstraktes Konzept“ her, das alle Konflikte bezeichnet, und man erkennt, „dass es nicht um Eigentum geht, sondern (…) um Macht. Eigentum ist nur eine Form der Macht“. Und da kommt Pareto (geadelt als Sohn eines Revolutionärs und Ingenieur) mit seiner Derivationslehre ins (Theorie-)Spiel: „alle Leute versuchen, sich mit Gewalt durchzusetzen, und (…) alle Sitten und Gebräuche (sind) in Wirklichkeit nur Erfindungen derer (…), die sich durchgesetzt haben und diesen Zustand beibehalten wollen.“ (S. 146 f.) Für Pareto ist demnach die Geschichte nicht eine von Klassenkämpfen, vielmehr gibt es „immer eine Elite, und dahinter lauert die Ersatzelite“ (womit keineswegs nur Politik-Eliten gemeint sind), „und die reichert sich mit den Leuten an, die gerade oben nicht durchkommen. Unten die Löwen, oben die Füchse. Und so kommt es zur Revolution.“ Und weil es laut Paretos Lehre halt nur Residuen, also induktiv zu ermittelnde psychische Motivationskomplexe, und Derivationen gibt (Psychologen sprechen da von ‚Rationalisierung’), erklärt das (z.B.), „warum Demokraten, kaum dass sie an der Regierung sind, korrupt wurden“. (S. 227 f.) Und ‚revolutionäres Subjekt’, also diejenigen, die ein ‚radikales’ Verhältnis zur bestehenden Form des Eigentums und nichts zu verlieren haben, kann laut Pareto weder eine revoltierende Masse noch gar ein Volk sein, worauf sich Eliten berufen mögen, was aber eine Derivation, eine scheinlogische Erklärung ist.

Nimmt man Clausens durchaus vertretbare Skepsis gegenüber den Folgen revolutionärer Umwälzungen, hier u.a. mit Webers Charisma-Theorem gestützt, mit Paretos Derivationslehre und da dem zentralen Begriff der Macht zusammen (in Anlehnung an Dahrendorf), kann man auf den Gedanken kommen, dass Clausen hier in – sicherlich distanzierten – theoretischen Schulterschluss zumal da geht, wo er anrät, die ‚organisierte Wirtschaftskriminalität’ müsse durch eine „UNO-Kriminalpolizei“ bekämpft werden. (s.o.) Da darf man doch fragen, ob nicht die herrschende Form der Ökonomie in ihren weltweiten Folgen als ‚kriminell’ zu bezeichnen ist (was provozieren könnte, das Wesen, die Logik dieses ökonomischen Handelns zu erkennen und zu erklären). Und weiter: Nach welchen weniger rechtlichen, sondern moralischen Kategorien resp. Kriterien darf man das Etikett ‚kriminell’ verpassen? Wird man da den Kant wieder hervorkramen und moralphilosophische Fragen revitalisieren? Und man darf auch der Frage nachgehen, wer denn die Machtfrage in welcher Form stellen wird. Ob sie inhaltlich in der Dimension des Utopischen auf Zukunft als „Veränderung des Ganzen (…), das völlig anders sein könnte“ (Bloch), zielen wird, scheint fraglich. Aber wer wird, auch wenn es sich „als radikal unmöglich präsentiert“, zu realisieren versuchen, „was als greifbare Möglichkeit, als die offenbare Möglichkeit der Erfüllung (…) vor Augen steht“ (Bloch)? Eliten? Und haben vielleicht (einige wenige der) Studierenden Clausen, als er 2000 seine ‚Einführung in die Soziologie’ als Vorlesung hielt, mit (den heute scheint´s brandaktuellen) Zeilen aus dem Song „Goldene Türme“ der Punk-Band Slime konfrontiert?: „diese Menschen kommen hier in ‚unser Land’, / weil wir sie um das Ihre betrogen, / es ihnen abgenommen und ausgesogen. / Sie folgen ihrem gestohlenen Leben, / was uns reich gemacht und Überfluss gegeben. (…) Mit wilden Augen sie von überall kommen, / um sich zurückzuholen, was wir ihnen genommen.“ – Mag sein, wir können es nicht wissen. Was wir aber wissen können, ist, dass Clausen hier mit einer „Lehrerproblematik“ konfrontiert gewesen wäre, die er gewiss gemeistert hätte: „dass man wegen Sachen, die man nicht gewollt hat, durch die ungewollten Nebenfolgen der Lehre, womöglich wirksamer ist als durch die gewollten“ (S. 232) – um da mit einer neuen, über die Machtfrage hinausgehenden Analyse möglicherweise für den Zweck der Aufklärung ‚wirksam’ zu werden.

Fazit

Man kann Clausens ‚Einführung in die Soziologie’ wegen des autobiographischen ‚Erzählfadens’ einen ‚Balanceakt’ nennen oder das faszinierende Hörsaalgeplauder eines immens gebildeten Mannes, der nicht nur in der Soziologie sattelfest war, sondern interdisziplinär und pointiert sozialhistorisch zu argumentieren verstand – und zum Weiterdenken anregte. Man darf mutmaßen, dass für all jene, die an soziologischen und allgemein sozialwissenschaftlichen Fragen und Erklärungen ein Interesse haben, dieses Buch gerade darum ein Gewinn ist, weil es neben der Spur des akademisch Üblichen nicht nur in diese Disziplin ‚einführt’, sondern – weil eben unkonventionell – Interessierte abholt und über zwar im Ansatz richtige Überlegungen und Schlussfolgerungen (wie bspw. im Slime-Text) zu weitergehendem analytischem Denken anregt, das sich nicht vorschnell in ideologische Bande schlagen lässt. Insofern ist das Buch im Stroemfeld-Verlag gut untergebracht. Kritik, zumal philosophische wie soziologische, sollte „unversöhnt“ (Adorno) bleiben, Gewissheiten erschüttern, was sich bei Lars Clausen nicht nur zwischen den Zeilen finden lässt.

Rezension von
Arnold Schmieder
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ISSN 2190-9245