Sandra Bohlinger, Andreas Fischer (Hrsg.): Lehrbuch europäische Berufsbildungspolitik
Rezensiert von Dipl.-Hdl. Dr. phil. Klaus Halfpap, 07.12.2015

Sandra Bohlinger, Andreas Fischer (Hrsg.): Lehrbuch europäische Berufsbildungspolitik. Grundlagen, Herausforderungen und Perspektiven. W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KG (Bielefeld) 2015. 343 Seiten. ISBN 978-3-7639-5542-8. 24,90 EUR.
Thema
Im internationalen Vergleich ist erstmals in deutscher Sprache mit diesem Lehrbuch zur europäischen Berufsbildungspolitik und -forschung eine Veröffentlichung erschienen, die umfassend, strukturiert und anschaulich nicht nur Studierenden einen fundierten Ein- und Überblick über dieses komplexe Thema bietet, sondern auch erfahrenen Theoretikern und Praktikern auf allen Ebenen dieses Systems wertvolle Informationen und Anregungen gibt. Auch auf europaweit durchgeführte Erhebungen und empirische Untersuchungen wird zurückgegriffen. Meilensteine der heutigen Europäischen Union als Rahmen und Schritte zu einer europäischen Berufsbildungspolitik werden ins Blickfeld eingeordnet.
Herausgeberin und Herausgeber
und auch Mitautoren der insgesamt 17 Autorinnen und Autoren der 15 Beiträge sind Sandra Bohlinger von der Technischen Universität Dresden sowie Andreas Fischer von der Universität Lüneburg.
Aufbau
Nach dem Einführungsbeitrag der Herausgeber „Zugänge zu europäischer Berufsbildungspolitik“ (11 ff.) sind die übrigen Beiträge folgenden Teilen zugeordnet:
- Grundlagen: Geschichte, Akteure und Steuerungsfragen (23 ff.)
- Strukturierung und Entwicklung von Kompetenzen und Qualifikationen (147 ff.)
- Forschungs- und Politikfelder (263 ff.)
Ein Abkürzungsverzeichnis (337) und Angaben in einer „Übersicht der Autorinnen und Autoren“ (341 ff.) runden das Buch ab.
Die Herausgeber laden zu einer Reise durch die europäische Geschichte ein und entfalten „Zugänge zu europäischer Berufsbildungspolitik“ (11 ff.) mit einem abschließenden tabellarischen Überblick über zentrale Entwicklungsschritte der Europäischen Union mit Bezug zur Berufsbildungspolitik (19 f.).
Zu Teil I
Ute Clement stellt ihre umfangreichen, teils kritischen Überlegungen unter das Thema „Politische Steuerungslogiken beruflicher Bildung. Zentrifugale und zentripetale Kräfte in der Governance beruflicher Bildung“ (25 ff.). Kommunikativ begründete Haltungen wie Vertrauen (42 ff.) und Ehre (45 ff.) haben dabei zentrale Bedeutung. Aber: Wie können sie sich steuern lassen? (50)
Karin Büchter führt durch die „Geschichte der deutschen Berufsbildungspolitik und ihre Schnittstellen zur europäischen Berufsbildungspolitik“ seit dem 18. Jahrhundert, „als das öffentliche Interesse an der beruflichen Bildung Jugendlicher zunahm“ (57 ff.), sowie vor allem seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, wo sich Berufsbildungspolitik „auszudifferenzieren begann“ (59).
Sandra Bohlinger problematisiert und differenziert das komplexe Thema: „Geschichte, Aufgaben und Akteure europäischer Berufsbildungspolitik“ (81 ff.), und zwar unter der zentralen Frage, wer wie was und warum in diesem Politikfeld in Europa eigentlich steuert.
Mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft seit 1958 wurde „Der europäische Integrationsprozess und seine Folgen für die bundesdeutsche Berufsbildungspolitik“ für Wachstum und Wohlstand in unserer Gesellschaft eingeleitet (105 ff.). Diese Entwicklung stellt Dieter Münk im „Meta-Rahmen für die europäischen Bildungssysteme“ dar (112 ff.) und hebt dabei die „erdbebensichere“ Architektur des Dualen Systems hervor.
Der dann folgende Beitrag von Peter Schlögl will einen „exemplarischen Einblick in die österreichische Praxis des Umgangs mit europäischen Berufsbildungsinitiativen geben“: „Europäische Berufsbildungspolitik aus österreichischer Perspektive: From Bargaining to Arguing?“ (127 ff.). Nach einem historischen Aufriss wird auf die dortige „Nationale Kultur von Regelungsformen“ eingegangen (130 ff.). Die Aufnahme von zwei ausländischen Initiativen wird dargestellt (133 ff.). Dabei hat die nationale Strategie für lebenslanges Lernen (LLL) besonderes Gewicht (137 ff.).
Zu Teil II
Friedrich Hubert Esser bearbeitet folgende Frage: „Berufliche Handlungskompetenz ist mehr als Beschäftigungsfähigkeit – ein Plus! Auch für Europa?“ (149 ff.). Die in der beruflichen Bildung in Theorie und Praxis seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland bekannte und intendierte handlungstheoretisch fundierte Kompetenzorientierung wird aufgrund internationaler Studien und der bundesgesetzlichen Regelungen seit Beginn dieses Jahrhunderts ausführlich erläutert. Es wird als Antwort angeregt, vom „Transfer des Dualen Systems“ zu sprechen (167).
Im Beitrag „Grenzüberschreitende Durchlässigkeit in Europa“ (171 ff.) wird von Dietmar Fromberger die Frage behandelt, „inwieweit kurze im Ausland geleistete Ausbildungsabschnitte im Rahmen der rechtlichen Grundordnung der dualen Berufsausbildung als anrechenbare Leistungen berücksichtigt werden können“.
Mit einem Zitat des Deutschen Bildungsrates von 1965 (!) wird der zukunftsbedeutsame Beitrag von Marcel Walter eingeleitet: „Berufliche Weiterbildung in Europa – Weiterbildungsengagement unter Anreizaspekte betrachtet“ (185 ff.). Er konstatiert „Weiterbildung ist also Teil des Lebenslangen Lernens“ (187).
Dieter Euler beendet seine Antwort auf die Beitragsfrage „Das Duale System in Deutschland – ein ‚Exportschlager‘ ohne Absatz?“ (205 ff.) mit dem Satz, dass Transfer keine Einbahnstraße ist, „sondern ein wechselseitiger Lernprozess, in dem nicht die Verteidigung der eigenen Überlegenheit, sondern die offene Suche nach neuen Wegen das Handeln leitet“ (221).
Herausragend in Bearbeitung und Darstellung ist der Beitrag von Eva Cendon/Peter Dehnbostel: „Validierung nichtformal und informell erworbener Kompetenzen als Beitrag zur Durchlässigkeit im Bildungssystem“ (225 ff.). Dies erfolgt im Kontext des Europäischen Qualifikationsrahmens für das Lebenslange Lernen von 2007/2008 (230) sowie des Bologna Prozesses seit 1999 mit Stand von 2015 (236).
Zu Teil III
Christian Schmidt konzentriert sich auf folgendes Thema: „Übergänge, ‚misleading trajeciories‘ und europäische Berufsbildungspolitik“ (265 ff.). Er widmet sich somit vor allem der zentralen „Risikogruppe“, nämlich den Jugendlichen ohne Ausbildung beim Übergang in die Erwerbsphase (269). Vor- und Nachteile des deutschen Übergangssystems (im europäischen Vergleich) werden dargelegt.
„Berufliche Bildung in der Migrationsgesellschaft“ (279 ff.) akzentuiert Ulrike Hormel in ihrem Beitrag. Sie diskutiert die Plausibilität unterschiedlicher Erklärungsansätze zu den Erscheinungsformen der Ausbildungsbenachteiligung der Jugendlichen mit Migrationshintergrund sowie die sich ergebenden Implikationen für das Bezugsproblem (280).
Aus der europäischen (Lissabon-Ziele, Kopenhagen-Prozess) Ebene bringt des Wiener Autorenteam Michaele Jonach und Franz Gramlinger erneut in die europäische Diskussion das Thema ein: „Qualitätssicherung und -entwicklung in der Beruflichen Bildung“ (297 ff.). Der Europäische Bezugsrahmen dazu ist noch längst nicht (vor allem in Deutschland) umgesetzt (308 f.).
Der Abschlussbeitrag von Andreas Fischer fasst dies und viele andere Analyseergebnisse anderer Buchbeiträge noch einmal zusammen: „Von der Schwierigkeit, in Europa eine nachhaltige berufliche Bildung ausfindig zu machen“ (313 ff.) Ob alle Lesenden der Schlussfolgerung zustimmen können und werden, dass die europäische berufliche Bildung „zuallererst eine Strategie zur Förderung von Wirtschaft, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit“ ist (320)?!
Diskussion
- Die von Ute Clement (s.o.) selbst gestellte Reflexionsfrage (50) wird zur Diskussion gestellt, wie sich Vertrauen und Ehre als Steuerungsinstrumente für berufliche Bildung erzeugen oder gar steuern lassen?
- Kann ein modular aufgebautes Berufsausbildungssystem flexibler auf die unterschiedlichen Ausbildungsvoraussetzungen der Jugendlichen und der Betriebe eingehen, wie es Dieter Euler fragt (222)?
- Stimmen Sie als Lesende der W3-These von Andreas Fischer zu, dass Wirtschaft, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit eine Strategie der beruflichen Bildung „zuallererst“ ist (320)?
Fazit
Die Rezension gibt einen Einblick in alle Beiträge dieses Lehr- und Arbeitsbuches, in denen das komplexe Thema der europäischen Berufsbildungspolitik und -forschung Deutschlands im internationalen Vergleich – auch aus ausländischer Sicht – aufgearbeitet wird. Damit wird auch dieses zwischenstaatliche Spannungsfeld in der jeweiligen Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik erkennbar. Dies erfolgt vor allem auch unter Bezugnahme auf die aktuellste Literatur zum Thema. Eine empfehlenswerte, anregende Lektüre!
Rezension von
Dipl.-Hdl. Dr. phil. Klaus Halfpap
Ltd. Regierungsschuldirektor a. D.
Es gibt 51 Rezensionen von Klaus Halfpap.