Oliver Sacks: On the Move. Mein Leben
Rezensiert von Prof. Dr. Gregor Husi, 22.02.2016

Oliver Sacks: On the Move. Mein Leben. Rowohlt Verlag (Reinbek) 2015. 2. Auflage. 447 Seiten. ISBN 978-3-498-06433-4. 24,95 EUR.
Thema
Man hat ihn schon als „Literat unter den Medizinern“ bezeichnet und mit Sigmund Freud und Carl Gustav Jung verglichen. Im Februar 2015 gab er in der New York Times bekannt, tödlich erkrankt zu sein, obwohl er noch täglich eine Meile schwimme. Am 30. August 2015 starb er im Alter von 82 Jahren an Krebs: Oliver Sacks, der mit seinen neurologisch-psychiatrischen Fallgeschichten weltberühmt wurde. In seinem Todesjahr erschien seine Autobiographie. Inwiefern wäre ein solcher publizistischer Erfolg von Fallgeschichten auch in der Sozialen Arbeit möglich (und nötig), wer vermöchte sie zu erzählen?
Autor
Oliver Sacks war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University in New York.
Aufbau
Sacks gliedert seine Autobiographie in zwölf Kapitel. Im letzten erzählt er kurz von jenem Menschen, dem das Buch gewidmet ist: Billy Hayes, einem Schriftsteller und dem Lebenspartner der letzten Lebensjahre. Das Buch enthält über fünfzig Fotografien sowie ein Namensregister. Vorangestellt ist ein bekanntes Zitat aus den Tagebüchern von Søren Kierkegaard: „Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, daß das Leben rückwärts verstanden werden muß. Aber darüber vergißt man den andern Satz, daß vorwärts gelebt werden muß“.
Inhalt
Sacks sucht nach eigenem Bekunden, „eine Art Autobiographie zu rekonstruieren“ (S. 147), und erzählt die Geschichte seines Lebens – mal mehr, mal weniger – chronologisch. Dabei springen einige Lebensthemen besonders ins Auge:
Ärztefamilie: Der Vater ist Allgemeinmediziner, der noch bis über neunzigjährig Hausbesuche abstattet, die Mutter Chirurgin. Der 1933 geborene Oliver Sacks ist der jüngste Sohn der jüdischen Familie. 1960, als er in Kanada und Kalifornien umher reist und den Eltern sein Abschied von England klar wird, schreibt ihm seine Mutter: „Als Ihr geboren wurdet, haben uns die Leute gratuliert, weil wir eine wunderbare Familie mit vier Söhnen waren! Wo seid Ihr jetzt alle? Ich fühle mich einsam und beraubt. Geister bewohnen dieses Haus“ (S. 68). Marcus, der älteste, beherrscht schon mit sechzehn ein halbes Dutzend Sprachen, Daniel könnte Berufsmusiker werden. „Aber in welcher Welt Michael lebte, wusste niemand. Dabei war er extrem intelligent; er las unglaublich viel und hatte ein außergewöhnliches Gedächtnis. Statt sich sein Weltwissen durch Erfahrungen in der ‚Realität‘ zu erwerben, verschaffte er es sich ausschließlich durch Bücher“ (S. 70). Er entwickelt eine Psychose und erhält die Diagnose Schizophrenie, die beiden anderen Brüder werden Ärzte. „Als ich England an meinem siebenundzwanzigsten Geburtstag verließ, tat ich es, neben vielen anderen Gründen, auch, weil ich von meinem tragischen, hoffnungslosen und falsch behandelten Bruder fortkommen wollte. Aber vielleicht hat sich ja daraus, in einem anderen Sinne, der Versuch entwickelt, Schizophrenie und verwandte hirnorganische oder psychische Störungen bei meinen eigenen Patienten und auf meine Weise zu erforschen“ (S. 79).
Wenn Sacks während Jahrzehnten als grosser neurologisch-psychiatrischer Geschichtenerzähler gefeiert wird, so liegt der Ursprung dafür in seiner Herkunftsfamilie: „Meine Mutter war eine geborene Geschichtenerzählerin. Sie erzählte ihren Kollegen, ihren Studenten, ihren Patienten, ihren Freunden medizinische Geschichten. Und auch uns – meinen Brüdern und mir – hat sie seit unserer frühsten Kindheit medizinische Geschichten erzählt, die manchmal schlimm und schrecklich waren, aber immer die persönlichen Vorzüge, den besonderen Wert und Mut des Patienten erkennen ließen. Auch mein Vater war ein großer medizinischer Geschichtenerzähler. Ihr Empfinden für die Wunder und Unwägbarkeiten des Lebens, diese Verbindung von klinischer und erzählerischer Sichtweise haben meine Eltern uns allen vererbt. Meinen eigenen Schreibimpuls – nicht Fiktion oder Gedichte zu schreiben, sondern zu berichten und zu beschreiben – scheine ich direkt von ihnen zu haben“ (S. 211). Ab dem Alter von vierzehn führt Sacks denn Tagebücher, gegen Tausend sollen es am Ende sein.
Im Jahr 2005 erkrankt Sacks an Krebs: ein Melanom im rechten Auge wird entdeckt. Er erblindet auf diesem einige Jahre später. Zugleich erhält er ein neues Knie. Aber am schlimmsten ist für ihn der Ischiasschmerz: „Neuralgischer Schmerz kann nicht ‚angenommen‘, bekämpft oder relativiert werden. Er zermalmt uns, lässt uns als eine zitternde, stumpfsinnige Masse zurück. Unsere Willenskraft, unsere Identität, alles verflüchtigt sich unter dem Ansturm dieses Schmerzes. (…) Im Dezember wurde mein Ischiasschmerz so furchtbar, dass ich nicht mehr lesen, denken oder schreiben konnte und zum ersten Mal in meinem Leben an Selbstmord dachte“ (S. 432). Der Krebs holt ihn am Ende seines Lebens wieder ein.
Die Autobiographie endet mit folgendem Abschnitt – wenig erstaunt, dass er dem Erzählen und Schreiben gewidmet ist, das in der Herkunftsfamilie seinen Ausgang genommen hat: „Ich bin ein Geschichtenerzähler, ob ich will oder nicht. Ich vermute, dass ein Gefühl für Geschichten, das Erzählen, in allen Menschen angelegt ist. Das hat mit unserem Sprachvermögen, Ichbewusstsein und autobiographischen Gedächtnis zu tun. Der Akt des Schreibens bereitet mir, wenn er gut von der Hand geht, eine Lust und eine Freude wie keine andere Tätigkeit. Er versetzt mich unabhängig von dem Thema an einen anderen Ort, an dem ich vollkommen versunken und frei bin von allen Ablenkungen – von störenden Gedanken, Verpflichtungen, Sorgen und selbst dem Verstreichen der Zeit. In diesen seltenen, himmlischen Geistesverfassungen kann ich ununterbrochen schreiben, bis ich das Papier nicht mehr sehe. Erst dann bemerke ich, dass es Abend ist und dass ich den ganzen Tag geschrieben habe. Im Laufe meines Lebens habe ich Millionen Wörter geschrieben, doch der Akt des Schreibens erscheint mir noch genauso frisch und beseligend wie vor siebzig Jahren, als ich damit anfing“ (S. 438).
Homosexualität: Achtzehnjährig outet sich Sacks gegenüber seinem Vater, der die neue Nachricht entgegen Sacks‘ Bitte dessen Mutter erzählt. „Am nächsten Morgen kam sie mit grauenhaft ergrimmter Miene herunter, einer Miene, die ich noch nie zuvor an ihr gesehen hatte. ‚Du bist ein Gräuel‘, sagte sie. ‚Ich wünschte, du wärest nie geboren worden‘. Damit ging sie aus dem Zimmer und sprach mehrere Tage lang kein Wort mit mir. Als sie dann wieder sprach, erwähnte sie mit keinem Ton, was sie gesagt hatte – und kam auch nie wieder auf das Thema zurück –, aber seither stand etwas zwischen uns“ (S. 19). Die Mutter kannte nämlich als rege Bibelleserin das 3. Buch Mose, wo es heisst: „Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel“. Zur vermeintlichen Abhilfe bleibt Sacks im selben Jahr nicht erspart, von einem Bruder auf einer Parisreise zu einer Prostituierten geführt zu werden – er trinkt mit ihr bloss einen Lapsang-Tee. Mitte der fünfziger Jahre reist er nach Amsterdam mit dem Ziel, seine „Jungfräulichkeit“ zu verlieren. Ungeschminkt berichtet er von einem „Filmriss“: Sturzbetrunken wird er eines Abends im Rinnstein aufgefunden, und sein Gastgeber nimmt ihn auch in diesem Zustand zu sich und nutzt die Situation aus. Sacks indessen zürnt anderntags keineswegs: „Ich weinte vor Erleichterung, als wir miteinander sprachen, und hatte das Gefühl, dass mir eine riesige – vor allem aus Selbstvorwürfen bestehende – Bürde von den Schultern genommen oder zumindest sehr erleichtert würde“ (S. 43). An seinem damaligen Lebensort, London, drohen Sacks in den fünfziger Jahren hohe Geldstrafen, Gefängnis oder die chemische Kastration mit der Zwangsverabreichung von Östrogen (wie beim Mathematiker Alan Turing). Er wagt es denn dort kaum, seine Homosexualität auszuleben. Wenige Tage nach dem Erscheinen seines Buchs „Awakenings“ wird er vierzig und verbringt mit einer Zufallsbekanntschaft eine bewegende Woche. „Gut, dass ich die Zukunft nicht kannte, denn nach dieser zauberhaften Geburtstagsliebschaft hatte ich fünfunddreißig Jahre lang keinen Sex mehr“ (S. 232).
In der Zeit, als Sacks von seinem Ischiasschmerz gequält wird, lernt er den Schriftsteller Billy Hayes kennen. „Ich hatte gelegentlich das Gefühl gehabt, etwas am Leben vorbeizuleben. Das veränderte sich, als Billy und ich uns verliebten. Mit zwanzig Jahren hatte ich mich in Richard Selig verliebt; mit siebenundzwanzig unglücklich in Mel; mit zweiunddreißig ambivalent in Karl; und jetzt war ich (Herr des Himmels!) in meinem siebenundsiebzigsten Lebensjahr. Es galt, tiefreichende, fast geologische Veränderungen zu vollziehen. Ich musste die Gewohnheiten lebenslanger Einsamkeit verändern, Egoismus und Selbstbefangenheit ablegen. Neue Bedürfnisse, neue Ängste bestimmten das Leben – das Bedürfnis nach der Nähe des anderen, die Angst, verlassen zu werden. (…) Es war eine neue Erfahrung für mich, ruhig in den Armen eines anderen zu liegen, zu reden, Musik zu hören oder gemeinsam zu schweigen. Wir lernten, richtige Mahlzeiten zuzubereiten und zu essen. Ich hatte bis dahin mehr oder minder von Cornflakes gelebt, oder von Ölsardinen, die ich direkt aus der Dose daß, im Stehen, in dreißig Sekunden. (…) Wir führen ein friedliches Leben, das wir auf vielen Ebenen teilen – ein großes und unerwartetes Geschenk in meinem fortgeschrittenen Alter, nachdem ich mein ganzes Leben lang Distanz gewahrt hatte“ (S. 435f.).
Schüchternheit: Sacks kommt wiederholt auf einen besonderen Aspekt seiner Persönlichkeit zu sprechen: „In gewöhnlichen sozialen Situationen bin ich schüchtern. Ich kann nicht mühelos ‚plaudern‘. Ich habe Schwierigkeiten, andere Menschen zu erkennen (das geht mir schon mein ganzes Leben so, wenn es sich auch jetzt, da mein Sehvermögen beeinträchtigt ist, verschlimmert hat). Ich habe wenig Kenntnis von aktuellen Ereignissen und genauso wenig Interesse daran, gleich, ob politischer, sozialer oder sexueller Natur. Inzwischen kommt noch erschwerend hinzu, dass ich schwerhörig bin, eine höfliche Umschreibung für eine fortschreitende Taubheit. Angesichts all dieser Handicaps neige ich dazu, mich in eine Ecke zurückzuziehen, unsichtbar zu werden, zu hoffen, dass ich unbemerkt bleibe. Das war eine große Beeinträchtigung in den sechziger Jahren, als ich in Schwulenbars ging, um Leute kennenzulernen“ (S. 271). Im Übrigen macht sich Sacks auch einmal Gedanken über den „imaginierten Mangel an Sorge und Anteilnahme“ seitens seiner Eltern. Vielleicht projiziere er einen solchen Mangel seiner Persönlichkeit auf Vater und Mutter, mutmasst er, und vermutet bei sich selbst „Schwierigkeiten mit den drei Bs: bonding, belonging, believing - Bindung, Zugehörigkeit, Glauben“ (S. 268).
Motorräder: Schon als Junge bekundet Sacks grosses Interesse: „Vor allem aber liebte ich Motorräder. Vor dem Krieg hatte mein Vater eins, eine Scott Flying Squirrel mit einem großen wassergekühlten Motor und einem brüllenden Auspuff. Ich wollte auch so ein mächtiges Motorrad besitzen. In meiner Phantasie verschmolzen die Bilder von Motorrädern und Flugzeugen und Pferden wie die von Bikern und Cowboys und Piloten, die ich mir bei der gefahrvollen, doch triumphierenden Beherrschung ihrer kraftstrotzenden Fortbewegungsmittel vorstellte. Meine knabenhafte Phantasie war gesättigt mit Western und Filmen über heroische Luftkämpfe, in denen Piloten ihr Leben in Hurrikans und Spitfires aufs Spiel setzen, aber von ihren dicken Fliegerjacken geschützt waren wie die Motorradfahrer von ihren Lederjacken und Helmen“ (S. 11). Sacks berichtet immer wieder von seinen Motorrädern und Touren. Er schliesst sich zuweilen Gruppen an, in San Francisco sogar den Hells Angels. Hier lernt er auch den Dichter Thom Gunn kennen, liest als erstes Gedicht „On the Move“ und schätzt die Mischung von Leidenschaft und Kontrolle. „Das entsprach einer gewissen Duplizität, die ich in mir selbst spürte und bis zu einem gewissen Grade für notwendig hielt: ein Ich für den Tag und eines für die Nacht. Am Tag war ich der freundliche, weißbekittelte Dr. Oliver Sacks, aber bei Nacht tauschte ich den weißen Kittel mit der Lederkluft und glitt anonym und wolfsartig auf meinem stählernen Reittier aus dem Krankenhaus hinaus, die engen Kurven zum Mount Tamalpais hinauf und raste dann im Mondlicht die Straße nach Stinson Beach oder Bodega Bay hinab. Diese Doppelexistenz wurde durch meinen zweiten Vornamen Wolf unterstrichen. Für Thom und meine Bikerfreunde war ich Wolf, für meine Arztkollegen Oliver“ (S. 93). Die Fotografie auf dem Cover der Autobiographie zeigt denn auch den 28-Jährigen auf seiner geliebten, in New York erstandenen BMW R60. Er fährt mit ihr von der amerikanischen Ost- zur Westküste: „Die Stille auf dem Motorrad, das mühelose Fahren verliehen meiner Bewegung einen magischen, traumhaften Charakter. Es gibt eine unmittelbare Vereinigung zwischen Fahrer und Motorrad, weil es so perfekt auf unsere Propriozeption, auf unsere Bewegungen und Haltungen, ausgerichtet ist, dass es fast wie ein Teil unseres eigenen Körpers reagiert. Motorrad und Fahrer werden zu einer einzigen, unteilbaren Einheit, ganz ähnlich wie Pferd und Reiter“ (S. 113). Aber diese Magie verliert sich später: „Anfang der siebziger Jahre gab ich das Motorradfahren auf – der Verkehr in New York City begann mir zu gefährlich zu werden, und das Motorradfahren machte mir keinen Spaß mehr. Aber ich hatte immer mein Fahrrad auf dem Auto, sodass ich an den endlosen Sommertagen stundenlange Touren machen konnte“ (S. 265).
Sport: Sacks liebt die sportliche Betätigung im Wasser, beim Schwimmen und Tauchen. 1963 kommt er beim Bodysurfen einmal fast ums Leben, weil er die Gefahr des hohen Wellengangs unterschätzt. Was weit weniger nahe liegt: Er übt sich schon als Medizinstudent in einem jüdischen Sportverein im Kraftdreikampf, der aus Kreuzheben, Bankdrücken und Kniebeugen besteht. Später widmet er sich den Disziplinen des olympischen Gewichthebens – Drücken, Reissen und Stossen –, stellt sich dabei jedoch zu ungeschickt an. In San Francisco frisst er sich Gewicht an, um ins Superschwergewicht zu kommen. Er wird dazu ermutigt, den kalifornischen Rekord im Kniebeugen anzugreifen. „Ein wenig ängstlich begann ich damit und war zu meiner großen Freude in der Lage, eine neue Rekordmarke zu setzen: eine Kniebeuge mit 270 Kilo auf meinen Schultern. Das war meine Eintrittskarte in die Welt der Gewichtheber – ein Rekord im Heben zählt in diesen Kreisen wie die Veröffentlichung eines wissenschaftlichen Aufsatzes oder eines Buches in der akademischen Welt“ (S. 118). In späteren Jahren trainiert er am Muscle Beach in Venice, südlich von Santa Monica. Dort nennen sie ihn Dr. Squat – Dr. Frontbeuge. Er konsumiert allerdings nie Steroide.
„Manchmal frage ich mich, warum ich das Gewichtheben so obsessiv betrieben habe. Ich glaube, mein Motiv war nicht ungewöhnlich. Zwar war ich nicht das Fünfundvierzig-Kilo-Hemd aus der Bodybuilding-Werbung, aber ich war schüchtern, gehemmt, unsicher, ängstlich. Ich wurde stark – sehr stark – mit der Gewichtheberei, musste aber feststellen, dass sich mein Charakter nicht im Geringsten verändert hatte. Und wie viele Exzesse, so forderte auch das Gewichtheben seinen Preis“ (S. 141f.). Es reissen nämlich zweimal Quadrizepssehnen.
Drogen: Sacks nennt selber einen professionellen Grund für seinen Drogengebrauch: „Ich wollte auf diesem Gebiet unbedingt eigene Erfahrungen sammeln, weil ich hoffte, ich könnte mit ihrer Hilfe besser verstehen, was meine Patienten durchmachen“ (S. 135f.). Was in der Absicht beruflicher Erweiterung noch nahe beieinander zu liegen scheint, entzweit sich indes bald: „Während meiner zwei Jahre in San Francisco hatte ich ein harmloses Wochenend-Doppelleben geführt, indem ich meinen weißen Arztkittel gegen die Lederkluft getauscht hatte und mit dem Motorrad davongefahren war, doch jetzt trieb es mich zu einem dunkleren, gefährlicheren Doppelleben. Von Montag bis Freitag widmete ich mich meinen Patienten an der UCLA, aber an den Wochenenden setzte ich mich nicht auf mein Motorrad, sondern unternahm virtuelle Reisen – Drogentrips mit Hilfe von Cannabis, Prunkwindensamen oder LSD. Das waren geheime Reisen, niemand nahm an ihnen teil, niemand erfuhr von ihnen“ (S. 147f.). Sacks wird vier Jahre lang abhängig von Amphetamin. „Die Amphetamin-Ekstase war gedankenfern und beseligend – ich brauchte nichts und niemanden, um meine Lust zu ‚vervollständigen‘ – sie war in jeder Hinsicht vollständig, wenn auch vollständig leer. Alle anderen Motive, Ziele, Interessen, Wünsche verschwanden in der Leere der Ekstase. (…) Ich hatte großes Glück, dass ich keinen Herzinfarkt oder Schlaganfall bekam. Ich machte mir einfach nicht klar, dass ich mit meinem Leben spielte“ (S. 149).
Sacks beginnt dann aber sein „verantwortungsloses Leben“ und sein „massives Drogenproblem“ zu erkennen. „Ich fand, ich müsse an einen nüchternen, realen Ort gehen, einen Ort, an dem es mir möglich war, mich ganz der Arbeit zu widmen und vielleicht eine authentische Identität zu entdecken oder zu entwickeln, eine eigene Stimme“ (S. 151). Er weiss nicht einmal selber, wie er seinen Zustand beschreiben soll – „psychotisch? manisch? enthemmt? hirngedopt?“ (S. 153). Die Wende bringen ein Psychoanalytiker, den Sacks im Folgenden während fast eines halben Jahrhunderts aufsuchen wird, und die Aufnahme klinischer Arbeit 1966. „Meine Patienten faszinierten mich, und ich nahm Anteil an ihnen. Ich fand Gefallen an meinen klinischen und therapeutischen Fähigkeiten und vor allem an dem Gefühl der Selbständigkeit und Verantwortlichkeit, das man mir während meiner fachärztlichen Ausbildung vorenthalten hatte. Ich musste nicht mehr so häufig zu Drogen Zuflucht nehmen und konnte mich dem analytischen Prozess öffnen. (…) 1966 glaubten weder meine Freunde noch ich, dass ich es bis fünfunddreissig schaffen würde. Doch dank der Analyse, guten Freunden, der Befriedigung, die mir die klinische Arbeit und das Schreiben verschaffen, und vor allem Glück habe ich es wider alle Erwartungen bis achtzig und darüber hinaus geschafft“ (S. 168f.). So beginnt Sacks in einer Kopfschmerzklinik in der Bronx zu arbeiten.
Wissenschaft: Sacks begeistert sich bereits in frühem Alter für vieles, zum Beispiel für Chemie und Meeresbiologie, und er liest ungemein viel. Er ist breit interessiert und beginnt sich bestens auszukennen in der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Zum Beispiel begeistert ihn die Autobiographie von Charles Darwin. Die Unüblichkeit dieser Haltung wird ihn Jahre später an der University of California in einer medizinischen Lektüregruppe während der Facharztausbildung wieder einholen: „Es war, als hätte die Neurologie keine Geschichte. Das fand ich erschreckend, denn ich denke in narrativen und historischen Kategorien“ (S. 119).
Sacks studiert in Oxford Medizin. Nachfolgende Orientierungslosigkeiten sucht er mit Literatur zu bewältigen: „Diese literarischen Erzeugnisse – ich nannte sie nightcaps, ‚Absacker‘ – waren ungestüme erfolglose Versuche, eine Art Philosophie zu entwerfen, ein Rezept zum Leben, einen Grund weiterzumachen“ (S. 38). Er geht in ein Kibbuz und reist ans Rote Meer. Nachher absolviert er wieder in Oxford sein klinisches Studium und durchwandert alle medizinischen Teilgebiete. Das endet 1958 mit dem Staatsexamen. Sacks geht ans Middlesex Hospital. „Dabei ging es nicht nur um Diagnosen und Behandlungen. Manchmal stellten sich viel schwierigere Fragen – Fragen nach der Lebensqualität und ob das Leben unter bestimmten Umständen überhaupt noch lebenswert sei“ (S. 50). Nach dem Studium will er weg aus England. Er soll Militärdienst leisten, will drei Jahre als Arzt in den Kolonialdienst in Neuguinea. Das kommt ebenso wenig zustande wie der nachfolgende Plan, Pilot bei der Royal Canadian Air Force zu werden. Die hiesigen Prüfenden schicken ihn auf Reisen. Diese führen ihn durch Kanada nach Kalifornien. In San Francisco tritt er eine Assistenzstelle an und macht die interessante Beobachtung, dass oft gegensätzliche Forschungspaare wichtige wissenschaftliche Entdeckungen machen (S. 83).
1965 tritt er ein Stipendium für Neurochemie und Neuropathologie am Albert Einstein College of Medicine in New York an. Nochmals wird er forschen, nachdem ein Versuch in Oxford völlig misslang. Gegenstand ist Myelin, jene Substanz um grosse Nervenfasern, welche die Nervenleitung verbessert. „Ich veranstaltete einen regelrechten Genozid unter den Regenwürmern im Collegegarten: Tausende von ihnen mussten ihr Leben lassen, damit ich eine ausreichende Myelinprobe erhielt. Ich fühlte mich wie Marie Curie, die viele Tonnen Pechblende verarbeitet hatte, um ein Dezigramm reines Radium zu erhalten“ (S. 156), erinnert sich Sacks. Doch ihm fällt das Labornotizbuch mit den Experimentaldaten aus neunmonatiger Forschung vom Motorrad, es wird im dichten Strom der Fahrzeuge zerfetzt. Und nach weiteren Missgeschicken verliert er gar das Myelin, das er in zehn Monaten gewonnen hat. Die Vorgesetzten meinen dazu: „‚Sacks, Sie sind eine Gefahr für das Labor. Warum kümmern Sie sich nicht um Patienten – da werden Sie weniger Schaden anrichten‘. Das war der unrühmliche Beginn meiner klinischen Laufbahn“ (S. 157f.), kommentiert Sacks.
Ab 1966 behandelt er in einer Kopfschmerzklinik in der Bronx Patientinnen und Patienten und verfasst ein Jahr später innerhalb von zwei Wochen ein Buch – sein erstes – über Migräne. Der Klinikleiter hält dies allerdings für „Bockmist“ und verbietet die weitere Arbeit am Buch sowie den Zugang zu den Krankengeschichten. 1968 geht Sacks diese dann in einer nächtlichen Aktion abschreiben. Die Ankündigung, sein Buch fertig schreiben zu wollen, trägt ihm die Entlassung ein. „Noch nie hatte ich ein solches Empfinden gehabt – das Empfinden, etwas Wirkliches und Wertvolles gemacht zu haben – wie bei diesem ersten Buch“ (S. 176). Es dauert allerdings noch bis 1971 (im Impressum steht 1970), ehe das Buch tatsächlich erscheint.
1966 beginnt Sacks aber auch am Beth Abraham zu arbeiten, einer Pflegeabteilung für chronisch Kranke, die dem Albert Einstein College of Medicine angeschlossen ist. Hier stösst er auf Überlebende der Europäischen Schlafkrankheit, welche die 1920er Jahre verunsicherte. Er beobachtet und filmt die Betroffenen während anderthalb Jahren, nimmt sie auch auf Tonband auf und legt einige auf einer Station zusammen. „Wenn ich unter meinen postenzephalitischen Patienten umherging, kam ich mir manchmal vor wie ein Naturforscher in einem tropischen Urwald, gelegentlich sogar in einem vorgeschichtlichen Urwald, in dem Verhaltensweisen lange zurückliegender, vormenschlicher Entwicklungsstufen zu beobachten waren – Fellpflege, Kratzen, Lecken, Saugen, Hecheln und ein ganzes Repertoire an seltsamen respiratorischen und phonatorischen Akten. (…) Von Beginn weg hatte ich das Gefühl, Menschen in einer nie da gewesenen Verfassung und Situation zu sehen, in einem Zustand, der noch nie beschrieben worden war“ (S. 194f.). Unsicher lässt Sacks den Patientinnen und Patienten das Medikament L-Dopa (einen Vorläufer des Dopamins) verabreichen, das eigentlich für Parkinsonkranke vorgesehen ist. Sie erwachen körperlich, geistig, wahrnehmungs- und gefühlsmässig und reagieren mit einem grossen Bewegungsdrang. Sacks erkennt, dass er die beiden in seiner Ausbildung noch unverbundenen Disziplinen Neurologie und Psychiatrie verbinden muss. Allerdings vermag die Freude angesichts des Behandlungserfolgs nur kurze Zeit anzuhalten, denn das Medikament verliert bald wieder seine erfreuliche Wirkung. Auch die Scientific Community reagiert kritisch.
An dieser Stelle berichtet Sacks in seiner Autobiographie von einem entscheidenden Einfluss. Schon 1958, während seines Medizinstudiums, hört er einen Vortrag des russischen Neuropsychologen Alexander R. Lurija (1902-1977). Es beeindruckt ihn, wie dieser Beobachtungsvermögen, theoretische Tiefe und menschliche Wärme verbindet. Zehn Jahre später liest er „Der Mann, dessen Welt in Scherben ging“. „Bei den ersten dreißig Seiten dachte ich, es sei ein Roman. Doch dann wurde mir klar, dass es tatsächlich eine Fallgeschichte war – die einfühlsamste und ausführlichste Quellgeschichte, die ich jemals gelesen habe, eine Fallgeschichte mit der dramatischen Wucht, der Empfindungswelt und der Struktur eines Romans“ (S. 204). Sacks macht sich „die Verbindung von klassischen und romantischen Elementen, von Wissenschaft und Geschichtenerzählen“ (S. 204) zu eigen und nimmt sich Lurija zum Vorbild für alle folgenden Bücher. Sacks leitet denn später auch Lurijas 1993 auf Deutsch erschienene Autobiographie ein. Sie trägt den Titel „Romantische Wissenschaft – Forschungen im Grenzbereich von Seele und Gehirn“. Der Titel spielt darauf an, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht aus Experimenten, sondern aus Beobachtungen und Befragungen hirngeschädigter Patientinnen und Patienten resultieren. Um Lurija sowie Lew Wygotski (1896-1934) und Alexei Leontjew (1903-1979) entstand ab 1924 die sogenannte „Kulturhistorische Schule“, die zum Beispiel die Kritische Psychologie beeinflusste.
Sacks indes reist 1969 nach London und schreibt in sechs Wochen, inspiriert durch Lurijas Buch, die ersten neun Kapitel von „Awakenings“ (auf Deutsch „Zeit des Erwachens“). Als er die letzten schreibt, stirbt seine Mutter, und dies soll den schrecklichsten Verlust seines Lebens bedeuten. 1973 erscheint das Buch. Lurija teilt in einem Brief mit, er halte es für ausgezeichnet und wundervoll. Sonst reagiert die Wissenschaft hingegen defensiv, während die Öffentlichkeit es gut aufnimmt. Es entsteht auch ein gleichnamiger Dokumentarfilm von Duncan Dallas, der 1974 ausgestrahlt wird. Und erst recht bekannt wird das Buch durch die Verfilmung mit Robert De Niro und Robin Williams in den Hauptrollen. Dieser Spielfilm von Penny Marshall kommt 1990 in die Kinos. Sacks unterstützt die Dreharbeiten selber. „Nach unserem ersten Treffen begann Robin, einige meiner Manierismen, meiner Körperhaltungen, meines Gangs und meiner Redeweise nachzuahmen – lauter Dinge, deren ich mir bis dahin nicht bewusst gewesen war. Ich war betroffen, mich in diesem lebenden Spiegel zu sehen“ (S. 350). Amazon führt die meistverkauften verfilmten Bücher auf. Als die deutsche Fassung von Sacks‘ Autobiographie erscheint, steht an der Spitze „Star Wars“, es folgen viele Kinderbücher, ehe auf Platz 14 bereits „Awakenings“ von Sacks folgt, noch vor „Die Selbstmord-Schwestern“ von Jeffrey Eugenides! Überdies wird Sacks von Harold Pinter kontaktiert, der sich vom Buch zu seinem Theaterstück „Eine Art Alaska“ anregen lässt. Sacks wohnt der Uraufführung 1982 bei und ist beeindruckt. „Wie konnte etwas echt sein, wenn die unmittelbare Erfahrung mit den Patienten fehlte? Doch Pinters Stück zeigte mir, wie ein großer Künstler Wirklichkeit neu vermitteln, neu ersinnen kann. Ich fand, ich hätte von Pinter ebenso viel bekommen wie er von mir: Ich hatte ihm eine Realität gegeben, und er hatte mir eine andere zurückgegeben“ (S. 346).
In den Jahren nach „Awakenings“ beginnt Sacks sich um Patientinnen und Patienten in Pflegeheimen in ganz New York zu kümmern. Er wird ein, wie er selber, auf die Antike anspielend, bemerkt, „peripatetischer Neurologe“ und stellt fest: „Dass die Patienten, die in solche Pflegeheime kamen, einen Sinn brauchten – ein Leben, eine Identität, Würde, Selbstachtung, ein gewisses Maß an Autonomie –, wurde ignoriert oder übergangen“ (S. 256). 1985 schafft Sacks es sodann völlig unerwartet auf die Bestsellerliste – mit „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“. „Mit dieser Veröffentlichung wurde ich zur öffentlichen Person, obwohl ich von meiner Veranlagung her eher zur Einsamkeit neige und der Überzeugung bin, dass der beste oder zumindest kreativste Teil meines Selbst einsam ist. Einsamkeit, kreative Einsamkeit, war jetzt schwerer herzustellen als früher“ (S. 296).
Mitte der neunziger Jahre wird Sacks in den Westpazifik gerufen. Guam ist die grösste Insel des Marianen-Archipels. Hier erinnert ihn eine Krankheit an Menschen, die er in „Awakenings“ beschreibt. „Während die postenzephalitischen Patienten jahrzehntelang weggesperrt worden waren, in einem Krankenhaus lebten und häufig von ihren Familien aufgegeben worden waren, blieben die Lytico-Bodig-Kranken bis zum Ende Teil ihrer Familie und Teil ihrer Gemeinschaft. Das brachte mir zu Bewusstsein, wie barbarisch unser Gesundheitssystem und unsere Sitten in der ‚zivilisierten‘ Welt sind, in der wir kranke oder demente Menschen abschieben und versuchen, sie zu vergessen“ (S. 373). Auf der von dort 1700 km entfernten Insel Pingelap interessiert er sich überdies für Farbenblindheit. Diese beiden Inselerfahrungen hält er in „Die Insel der Farbenblinden – Die Insel der Palmfarne“ fest, das auch kleine Essays über Botanik, Mathematik und Geschichte enthält. „In gewisser Weise ist es mein Lieblingsbuch geblieben“ (S. 375).
Zwei Wissenschaftlern schenkt Sacks gegen Ende seiner Autobiographie besondere Aufmerksamkeit. Zunächst Francis Crick (1916-2004), auch er Autor einer Autobiographie („Ein irres Unternehmen“). Dieser erhält 1962 mit James Watson und Maurice Wilkins den Medizin-Nobelpreis für die Entdeckung der Molekularstruktur der Desoxyribonukleinsäure (DNS). Sacks hört ihn im selben Jahr an einem Vortrag, in dem dieser zwei Themen für die grossen Projekte der Zukunft hält: Ursprung und Beschaffenheit des Lebens sowie Beziehung zwischen Gehirn und Geist. Crick seinerseits interessiert sich sehr für Sacks‘ Fallgeschichten, zum Beispiel für den Fall eines farbenblinden Malers, den Sacks später in die Sammlung „Eine Anthropologin auf dem Mars“ aufnimmt. Sacks neigt nun dazu, die Funktionen von Geist und Gehirn „im Wesentlichen als konstruktiv und kreativ“ (S. 394) aufzufassen. Indem Crick Sacks‘ Fallgeschichten in grösserem Kreis diskutiert, erhält Sacks das Gefühl, Wissenschaft sei ein „gemeinschaftliches Projekt“.
Der andere wichtige Wissenschaftler ist Gerald M. Edelman (1929-2014), der Autor von „Unser Gehirn, ein dynamisches System – Die Theorie des neuronalen Darwinismus und die biologischen Grundlagen der Wahrnehmung“. Zehn Jahre nach Crick geht der Medizin-Nobelpreis an ihn (und Rodney R. Porter). Sacks begegnet Edelman 1986, vermittelt über Israel Rosenfield. „Ich empfand eine Mischung aus Ehrfurcht und Neid – wie gern hätte ich diese Konzentrationsfähigkeit besessen! Doch dann dachte ich, dass das Leben mit einem solchen Gehirn vielleicht doch nicht ganz unbeschwert sein würde. Tatsächlich erfuhr ich, dass Edelman keinen Urlaub machte, wenig schlief und ständig von seinem ununterbrochenen Denken getrieben, fast gequält wurde. Nicht selten rief er mitten in der Nacht Rosenfield an. Vielleicht fuhr ich mit meiner etwas bescheideneren Begabung doch besser“ (S. 408). Crick und Edelman widmeten sich unterschiedlichen Themen: „Während Crick (und seine Mitarbeiter) den genetischen Code entschlüsselten (…), erkannte Edelman schon früh, dass der genetische Code nicht das Schicksal jeder einzelnen Zelle im Körper bestimmen oder kontrollieren kann, sondern dass die Zellentwicklung vor allem im Nervensystem allen möglichen Kontingenzen unterworfen ist“ (S. 410). Edelman entwirft mit seinem neuronalen Darwinismus eine Theorie der neuronalen Gruppenselektion. Nicht ein einzelnes Neuron bildet demnach die Basiseinheit der Selektion, sondern es sind Gruppen von fünfzig bis tausend miteinander verschalteten Neuronen. „Die eigentliche funktionelle ‚Maschinerie‘ besteht für Edelman aus Millionen von Neuronengruppen, die zu größeren Einheiten oder ‚Karten‘ organisiert sind. Diese Karten, die ununterbrochen in höchst instabilen, unvorstellbar komplexen, aber stets bedeutungsvollen Mustern kommunizieren, können sich in Minuten oder Sekunden verändern. Man ist an C. S. Sherringtons poetische Metapher erinnert, nach der das Gehirn einem ‚verzauberten Webstuhl‘ gleicht, ‚in dem Millionen blitzender Weberschiffchen ein ephemeres Muster erzeugen, das immer bedeutungsvoll ist, aber sich stets wieder auflöst; eine ständig wechselnde Harmonie kleinerer Muster‘“ (S. 412f.). Wie entstehen solche „Karten“? „Zur Schaffung von Karten, die bestimmten elementaren Kategorien selektiv entsprechen – beispielsweise der Bewegung oder der Farbe in der visuellen Welt –, kann die Synchronisation von Tausenden neuronaler Gruppen erforderlich sein. Einige Kartierungen finden in anatomisch festgelegten, vorherbestimmten Teilen der Großhirnrinde statt, wie beispielsweise im Fall der Farbe: Farbe wird vorwiegend in dem sogenannten Areal V4 konstruiert. Doch große Teile des Kortex sind formbare, pluripotente ‚Liegenschaften‘, die (innerhalb gewisser Grenzen) jede erforderliche Funktion erfüllen können. So kann die Region, die bei hörenden Menschen der auditorische Kortex ist, bei gehörlos Geborenen für visuelle Zwecke genutzt werden oder der normalerweise visuelle Kortex bei blind geborenen Personen sensorische Funktionen erfüllen“ (S. 413). Edelman sagt, „dass die Welt nicht ‚etikettiert‘ ist, dass sie sich uns nicht ‚bereits in Objekte untergliedert‘ präsentiert. Wir müssen unsere Wahrnehmung durch unsere eigenen Kategorisierungen erzeugen. ‚Jede Wahrnehmung ist ein Schöpfungsakt‘, wie Edelman sagt“ (S. 414). Wahrnehmung erzeugt Karten im Gehirn, und durch Erfahrung werden erfolgreiche, nützliche Kartierungen selektiv verstärkt. Edelman nennt die wechselseitige zeitgleiche Vernetzung der Übertragungswege „reentrante Signalübertragung“. „Kategorisierung ist die Hauptaufgabe des Gehirns, und reentrante Signalübertragung ermöglicht dem Gehirn, seine eigenen Kategorisierungen zu kategorisieren, diese dann erneut zu kategorisieren und so fort. Dieser Prozess ist der Beginn einer enormen Aufwärtsbewegung, die es befähigt, immer höhere Ebenen des Denkens und des Bewusstseins zu erreichen. Die reentrante Signalübertragung kann man sich als eine Art neuraler UN-Vollversammlung vorstellen, in der Dutzende von Stimmen gleichzeitig ertönen, während in ihre Gespräche ständig Berichte aus der Außenwelt einfließen. In dem Maße, wie aktuelle Informationen einbezogen werden und neue Einsichten entstehen, formt sich ein größeres Bild“ (S. 415). Sacks nutzt auch eine andere Metapher, spricht von der „aktiven und unablässigen Orchestrierung zahlloser Einzelheiten“ (S. 414) und präzisiert: „Das ist Edelmans Bild vom Gehirn: ein Orchester, ein Ensemble, aber ohne Dirigent, ein Orchester, das seine eigene Musik macht“ (S. 415) – Edelman wollte ursprünglich Konzertviolinist werden.
Dessen Theorie wühlt Sacks regelrecht auf: „Ich hatte das Gefühl, aus Jahrzehnten erkenntnistheoretischer Verzweiflung erlöst zu sein – aus einer Welt seichter, belangloser Computeranalogien in eine Welt von wunderbarem biologischem Bedeutungsreichtum gelangt zu sein, der der Wirklichkeit von Gehirn und Geist gerecht wurde. Edelmans Theorie war die erste wirklich globale Theorie von Geist und Bewusstsein, die erste biologische Theorie von Individualität und Autonomie“ (S. 416). Für Sacks ist Edelmans Theorie „verfrüht“, sodass sie in den achtziger Jahren abgelehnt oder übersehen wird. Er aber bekennt: „Für mich bleibt sie die schlüssigste und eleganteste Erklärung der Art und Weise, wie der Mensch und sein Gehirn das individuelle Ich und die Welt konstruieren“ (S. 421). Daraus zieht Sacks einen lebensphilosophischen Schluss: „In einem allgemeineren Sinn folgt aus dem neuralen Darwinismus, dass es uns, ob wir es wollen oder nicht, bestimmt ist, ein Leben von Besonderheit und Selbstentfaltung zu führen und unseren eigenen, individuellen Weg durchs Leben zu suchen“ (S. 420). Nebenbei berichtet er von einem Wortwechsel zu ihrem Verhältnis. So „sagte Gerry zu mir: ‚ Du bist kein Theoretiker.‘ ‚Ich weiß ‘, sagte ich, ‚aber ich bin ein Feldforscher, und du brauchst die Feldarbeit, die ich leiste, für die Art von Theoriebildung, die du machst.‘ Gerry stimmte mir zu“ (S. 418).
Oliver Sacks hat auf seinem wissenschaftlichen Weg, der ihn mit unzähligen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammenbrachte, ein reichhaltiges Werk hinterlassen. Folgende Bücher sind von ihm erschienen:
Migräne (1970); Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte (1985); Stumme Stimmen (1989); Der Tag, an dem mein Bein fortging (1989); Awakenings - Zeit des Erwachens (1990); Eine Anthropologin auf dem Mars – Sieben paradoxe Geschichten (1995); Der letzte Hippie (1996); Die Insel der Farbenblinden – Die Insel der Palmfarne (1997); Onkel Wolfram – Erinnerungen (2001); Die feine New Yorker Farngesellschaft – Ein Ausflug nach Mexiko (2004); Der einarmige Pianist – Über Musik und das Gehirn (2008); Das innere Auge – Neue Fallgeschichten (2011); Drachen, Doppelgänger und Dämonen – Über Menschen mit Halluzinationen (2013); On The Move – Mein Leben (2015). Am meisten verkauft wurde Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Ebenso erfolgreich scheint nun die Autobiographie zu werden.
Der Titel der Autobiographie, „On the Move“, ist derselbe, mit dem ein Dichterfreund, Thom Gunn, ein Gedicht betitelt. Sacks zitiert daraus: „Schlimmstenfalls ist man in Bewegung, bestenfalls in Reichweite / von nichts Absolutem, in dem man Ruhe fände, man ist immer / näher, indem man nicht stehen bleibt“ (S. 320).
Diskussion
Zweifellos kann Oliver Sacks als eine herausragende Persönlichkeit der Wissenschaft gelten. Seine Autobiographie erweckt den Eindruck, dass hier jemand tatsächlich möglichst authentisch von seinem eigenen Leben zu berichten versucht. Man denke etwa an die offenen Schilderungen seines Familien- oder Sexuallebens. Von Interesse ist besonders, wie sich die verschiedenen Lebensthemen wechselseitig durchdringen. Entstanden ist zunächst ein reichhaltiges Lebenswerk, und entstanden ist in der Folge eine Autobiographie, welche die kurvenreiche Vita eines Wissenschaftlers facettenreich, bewegend und freimütig schildert. Insbesondere die neue Art der öffentlichen Berichterstattung, die unter dem Einfluss von Lurija entstand, verdient die besondere Aufmerksamkeit Sozialer Arbeit.
Fazit
Eine geradlinig erzählte Lebensgeschichte darf man von dieser Autobiographie nicht erwarten, denn das Leben des Autors verläuft nicht als zielgerichtete Karriere, zudem richtet er seine Erzählung nicht auf einer Geraden aus, sondern webt da und dort Anekdotisches ein. Dieses bedeutsame Leben enthält jedoch dermassen viele spannende Momente und Aspekte, dass die Lektüre lohnt. Durch Oliver Sacks sind viele Krankengeschichten aus der Neurologie und Psychiatrie bekannt geworden, er hat dieses Erzählgenre populärwissenschaftlich ganz wesentlich mitentwickelt. Kein Plan lag diesem biographischen Werden zugrunde, sondern eine reiche, vielfältige Begabung vermochte sich in einer leistungs- und moralorientierten Herkunftsfamilie zu entfalten und traf sodann auf viele weitere günstige personale und organisationale Umstände und Zufälle. Man fragt sich zum Schluss, was in Nachbardisziplinen wie der Sozialen Arbeit das Potenzial von Fallgeschichten in diesem Masse erkennen und entfalten liesse.
Rezension von
Prof. Dr. Gregor Husi
Professor an der Hochschule Luzern (Schweiz). Ko-Autor von „Der Geist des Demokratismus – Modernisierung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit“. Aktuelle Publikation (zusammen mit Simone Villiger): „Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziokulturelle Animation“ (http://interact.hslu.ch)
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Es gibt 41 Rezensionen von Gregor Husi.
Zitiervorschlag
Gregor Husi. Rezension vom 22.02.2016 zu:
Oliver Sacks: On the Move. Mein Leben. Rowohlt Verlag
(Reinbek) 2015. 2. Auflage.
ISBN 978-3-498-06433-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19640.php, Datum des Zugriffs 05.06.2023.
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