Ulrike Ungerer-Röhrich: Bildung durch Bewegung
Rezensiert von Prof. Dr. Christiane Vetter, 03.12.2015
Ulrike Ungerer-Röhrich: Bildung durch Bewegung. Kita-Kinder ganzheitlich in ihrer Entwicklung fördern. Cornelsen Scriptor (Berlin) 2015. 144 Seiten. ISBN 978-3-589-24859-9. 17,95 EUR.
Autorinnen
Prof. Dr. Ulrike Ungerer-Röhrich vertritt den Schwerpunkt Bildung, Bewegung und Gesundheit in der Kindheitspädagogik.
Dr. Verena Popp konzipiert und koordiniert gesundheitsbezogene Projekte im Bereich der Kindertagesbetreuung.
Sonja Quante ist ausgebildete Psychomotorikerin, Fortbildnerin, Beraterin und Mitarbeiterin am ZNL – Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm.
Entstehungshintergrund
Der Aufbau des vorliegenden Buches „Bildung durch Bewegung“ basiert auf einem Online-Seminar im Jahr 2005, mit dessen Hilfe pädagogische Fachkräfte „bei der bewegten Umsetzung von Bildungsthemen“ (S. 10) unterstützt wurden. Damit sollte die Zielsetzung der Bildungspläne unterstrichen werden, „das Thema Bewegung im Verbund mit den Themen Gesundheit und Körper gleichberechtigt neben den anderen Bildungsbereichen“ (S. 9) zu vertreten. Deshalb wird das Thema Bewegung mit den Bildungsaufgaben von Bildungsplänen verbunden. Die Autorinnen begreifen Bewegung als ein Querschnittthema. Sie gehen davon aus, dass Bewegung wie das Spiel, als eine anthropologische Grundkonstante und Eigenschaft, die kindliche Entwicklung erst ermöglicht.
Aufbau
Das Buch greift in fünf Kapiteln die Themen frühkindliche Bildung und Lernen, soziales Lernen, Sprachentwicklung und mathematische Bildung auf. Jedes Kapitel fokussiert das notwendige Fachwissen im „Baustein Wissen“. Handlungsziele, die mit dem Thema des Kapitels verbunden sind, werden im „Baustein Praxis“ aufgegriffen. Hier finden Fachkräfte auch weitere Literaturtipps. Die Handlungsziele werden im „Baustein Aufgaben“ als Aneignungsaufgaben für Fachkräfte konkretisiert.
Inhalt
Kapitel 1 „Frühkindliche Bildung heißt: bewegt lernen“
Es geht um den kindlichen Bewegungsdrang, der mit Bildung verknüpft wird. Die Autorinnen diskutieren Bildung als Selbstbildung und verknüpfen diesen Gedanken mit der sozialkonstruktivistischen Annahme von Bildung als einer sozialen Konstruktionsleistung. Zu den von Erwachsenen hergestellten Bildungsgelegenheiten kommt die bewusste Gestaltung der Interaktion, die den kindlichen Bildungsprozess unterstützt. „Die Grundlage elementarer Bildung bilden sinnliche Wahrnehmung, Bewegung, Spiel und kommunikativer Austausch“ (S. 14). Kinder lernen in und durch Bewegung und sie brauchen Bewegung, um die Muskeln zu stärken, die Hirnaktivität anzuregen, das Selbstkonzept aufzubauen und ihr Wissen zu erweitern. Die Bewegungsbaustelle, Bewegungsgeschichte und das Klettern werden allgemein vorgestellt. Die Aufforderung der Fachkräfte, sich mit der Bewegung im eigenen Leben zu beschäftigen, mündet in Übungen, die dieses Kapitel abrunden.
Kapitel 2 „In Bewegung das Lernen lernen“
Im zweiten Kapitel erfahren Leserinnen und Leser wie Kinder lernen und die Bedeutung der Metakognition wird vorgestellt. Viele Entwicklungsaufgaben von Kleinkindern sind biologisch determiniert, etwa der Spracherwerb. Die entwicklungsförderliche Begleitung des Kindes wirkt jedoch bildungsrelevant, wenn Fachkräfte die Hinweise auf die Lernmotivation des Kindes unterstützen. Die Merkmale der Engagiertheit werden aufgezählt (vgl. S. 29). Darüber hinaus sind das Signallernen (die Konditionierung), das Lernen am Erfolg/Misserfolg (das Modelllernen), das Lernen durch Beobachtung (die Nachahmung) und Lernen durch Ausprobieren (die Erfahrung) wirksame Lernmethoden. Kinder lernen ganzheitlich, mit allen Sinnen. Sie stellen Sinnzusammenhänge her und lernen. Sie suchen Lösungen für Probleme und reflektieren ihr Denken, wenn sie dazu angeregt werden (vgl. S. 36). Beim Spielen und Toben bewegen sich Kinder. Fachkräfte begleiten sie dabei dialogisch und achtsam in Bezug auf die kindliche Motivation. In dem sie die Selbsttätigkeit und den Raum für Initiative geben, die Emotionalität und Spontanität der Kinder berücksichtigen und sie zur Kooperation mit anderen anregen, fördern sie Kinder angemessen. Fachkräfte können, so die Autorinnen, die Balance für die Lernherausforderung regulieren. Kinder brauchen das, um den Anforderungen des Lebens gewachsen zu sein.
Der metakognitive Ansatz wird in der Fachdebatte kontrovers diskutiert. Inwieweit Kinder in der Lage sind, ihren Lernprozess zu reflektieren, hängt nach Auffassung der Autorinnen vor allem davon ab, inwieweit Erwachsenen bereit sind, eine lernende und forschende Haltung einzunehmen. Metakognition wird zur Frage an Fachkräfte: Können sie die Aktivitäten und Gedanken der Kinder aufnehmen? Können sie zuhören, sparsam mit Ideen sein und eher Fragen stellen als Antworten geben? (vgl. S. 37). In diesem Buch wird das „Sustained Shared Thinking“ Konzept erwähnt, das im Zusammenhang mit der OECD-Bildungsreform diskutiert wird. Dabei handelt es sich um einen dialogischen Austausch mit Kindern über ihre Gedanken zur Funktionalität von Dingen um sie herum. Heute sollen Kinder angeregt werden, eigene Lösungen zu finden (vgl. S. 39). Die Autorinnen schlagen vor, von „sustained shared doing“ zu sprechen. Lernen heißt für sie, Denken und Verhalten planen sowie Fehler selbst korrigieren (vgl. S. 41). Im „Baustein Praxis“ wird die Bewegungsbaustelle, Bewegungsgeschichte und das Klettern um die Aufforderung zum selbsttätigen Handeln ergänzt. Der „Baustein Aufgabe“ stellt drei Übungen vor, die helfen, sich mit dem eigenen Lernen zu beschäftigen.
Kapitel 3 „Bewegung ist voller Physik und Mathematik“
In diesem Kapitel wird Mathematik und Physik bei Spiel- und Bewegungsaktivitäten im Kita-Alltag vorgestellt (vgl. S. 49). Bewegungen folgen physikalischen Gesetzen, die im Buch ausführlich thematisiert werden. Einen Hang hinunterrutschen bedeutet nicht nur Angst und Lusterleben zu verspüren, sondern auch die Wirkung der schiefen Ebene zu erfahren. Die Autorinnen regen an, solchen Phänomenen mehr auf den Grund zu gehen. Die Aufmerksamkeit und das Interesse an natürlichen Vorgängen kann durch das Rutschen, Schaukeln und Spielen im und mit Wasser etc. motiviert werden. Auf die Frage nach der Wirkung von Wärme und Kälte, Licht und Schatten, Schall und Klang, Magnetismus und Elektrizität sowie Kraft und Energie müssen Kinder aufmerksam gemacht werden. Rotation, Fliehkraft, Energieerhalt und Hebelkraft können bereits von kleinen Kindern erforscht werden. Auch hierzu gibt das Buch entsprechende Beispiele und Literaturtipps. Die mathematischen Grunderfahrungen beim Gruppen einteilen, beim Bauen, beim irgendwohin rennen oder etwas von unten oder oben holen, bringen Kinder mit Zeit, Zahlen, Flächen und Körpern in Kontakt.
Auf der Bewegungsbaustelle, bei der Bewegungsgeschichte und beim Klettern wird der „Schwertransport“ oder „Hausbau“ plötzlich interessant, weil die Gesetze erforscht werden. Die schon in Kapitel 1 vorgestellte Geschichte der Bärenjagd wird hier mit mathematischen und physikalischen Grunderfahrungen verknüpft. Der „Baustein Aufgabe“ regt die Fachkräfte an, sich mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen vertraut zu machen.
Kapitel 4 „Soziales Lernen bewegt“
Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen der Perspektivwechsel und die Unterstützung der kindlichen Empathie sowie die Frage, warum soziales Lernen wichtig ist (vgl. S. 77). In unserer Zeit ist, nach Meinung der Autorinnen, die Individualisierung soweit voran geschritten, dass die soziale Dimension des menschlichen Zusammenlebens in eine neue Balance zur Individualität gerückt werden muss. In der Kita können Kinder einerseits die Fähigkeit ausbilden, Wünsche und Erwartungen des anderen nachzuvollziehen und andere Ansichten kennen zu lernen. Andererseits lernen sie diese auszuhandeln und zu akzeptieren. Sie erwerben Rollenübernahmekompetenz, Rollendistanz sowie Ambiguitätstoleranz. Darunter verstehen die Autorinnen den Verzicht, die eigenen Bedürfnisse sofort befriedigen zu müssen. Es geht dabei aber auch um das Aushalten von ungewissen Situationen. Durch Sprache, Spiel und Bindung wird der Kompetenzerwerb unterstützt. Das soziale Lernen kann auch durch dialogische Gesprächstechniken gefördert werden, die hier vorgestellt werden. Im „Baustein Praxis“ wird die Bewegungsbaustelle, Bewegungsgeschichte und das Klettern um Beispiele zum sozialen Lernen ergänzt. Der „Baustein Aufgabe“ stellt Übungen vor, Situationen aus der Perspektive des Kindes heraus zu betrachten (vgl. S. 95).
Kapitel 5 „Bewegung macht sprachlich fit“
Sprache, Wahrnehmung und Bewegung bauen auf komplexen Vorgängen auf. Die Autorinnen stellen in diesem Kapitel den Verlauf des Spracherwerbs dar. Sie greifen Sprachförderprogramme auf, stellen sprachförderliche Verhaltensstrategien und verschiedene Kommunikationsmodelle vor. Mehrsprachigkeit, Schriftspracherwerb und Literacy-Kompetenzen runden den „Baustein Wissen“ ab. Im „Baustein Praxis“ werden die Bewegungsbaustelle und das Klettern eigens daraufhin geprüft, wie dabei sprachliche Kompetenzen gefördert werden können. Im „Baustein Aufgaben“ werden Vorschläge gemacht, die sprachförderlichen Verhaltensstrategien zu trainieren.
Diskussion
Das Buch „Bildung durch Bewegung“ greift Bewegung im Sinne einer pädagogischen Leitidee auf, durch die Lernen angeregt wird und Erziehungs- und Bildungsprozesse stattfinden. Die direkte oder indirekte Erziehung durch Bewegung fokussiert den Sozialisationsauftrag und Bildung als Selbstbildung und Metakognition. Dabei geht es nicht um Bewegungserziehung. Davon grenzen sich die Autorinnen ab. Im Kontext ihrer Bemühungen wird der frühkindliche Bewegungsdrang aufgegriffen und mit dem Erziehungs- und Bildungsauftrag der Kindertagesbetreuung verbunden. Die Autorinnen zeigen, dass die Thematisierung von Bewegung als einer pädagogischen Grundkategorie sinnvoll ist. In der frühen Kindheit sind der Bewegungsdrang und das Spiel das zentrale Entwicklungsmedium. Bewegung ist Mittel und Voraussetzung für Bildung und Lernen. Ich halte die Ausführungen in diesem Buch sowohl für die Theoriebildung als auch für die Praxisentwicklung für ausgesprochen hilfreich und anregend.
Fazit
Im Vorwort schreiben die Autorinnen, dass sie das Ziel haben, „Bewegung nicht als ein Thema unter vielen aufzugreifen, sondern als den grundlegenden Zugang zur Welt und zu Bildungsprozessen darzustellen“ (vgl. S. 9) Darüber hinaus soll das Buch pädagogischen Fachkräften Hilfestellung geben. Aus meiner Sicht ist ihnen das überaus gelungen. Lernen durch Bewegung zieht sich wie der rote Faden durch das Buch. Fachkräfte bekommen verständliche Erklärungen und Begründungszusammenhänge, um den Bewegungsdrang des Kindes im Alltag bildungsrelevant zu nutzen.
Das Buch richtet sich an Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen. Es sollte in der Ausbildung für Erzieherinnen und Studierende seinen festen Platz bekommen und bei Fortbildungen nicht fehlen. Es bietet einen guten Überblick über Lerntheorien, naturwissenschaftliche Grundkenntnisse und zentrale Bausteine der Sprachförderung.
Rezension von
Prof. Dr. Christiane Vetter
Leiterin der Studienrichtung Soziale Arbeit in der Elementarpädagogik an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart
Es gibt 63 Rezensionen von Christiane Vetter.
Zitiervorschlag
Christiane Vetter. Rezension vom 03.12.2015 zu:
Ulrike Ungerer-Röhrich: Bildung durch Bewegung. Kita-Kinder ganzheitlich in ihrer Entwicklung fördern. Cornelsen Scriptor
(Berlin) 2015.
ISBN 978-3-589-24859-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19663.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
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