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John Hattie, Gregory Yates: Lernen sichtbar machen aus psychologischer Perspektive

Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 25.07.2016

Cover John Hattie, Gregory Yates: Lernen sichtbar machen aus psychologischer Perspektive ISBN 978-3-8340-1500-6

John Hattie, Gregory Yates: Lernen sichtbar machen aus psychologischer Perspektive. Schneider Verlag Hohengehren (Baltmannsweiler) 2015. 380 Seiten. ISBN 978-3-8340-1500-6. 28,00 EUR.
Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von "Visible Learning and the Science of How We Learn".

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Thema und Entstehungshintergrund

‚Lernen sichtbar machen‘ ist inzwischen zum Markenzeichen eines metaanalytischen Ansatzes der Unterrichtsforschung geworden. Sein Initiator und Hauptautor ist der australische Erziehungswissenschaftler John Hattie. Er hat 2009 eine Meta-Metaanalyse, also eine Zusammenfassung von Zusammenfassungsarbeiten über eine gigantische Zahl empirischer Studien zum Unterrichtsgeschehen vorgelegt, in der er 138 Einflussfaktoren auf den Lernerfolg von der Selbsteinschätzung bis zum Schulwechsel erarbeitete und ein Ranking dieser Faktoren nach ihrem jeweiligen Beitrag zum Unterrichtserfolg erstellte. Hattie hat damit eine Resonanz in und außerhalb der Fachdiskussion erzeugt, der nur jener vergleichbar ist, die Klaus Grawe 1995 mit seiner Metaanalyse zur Psychotherapieforschung erlangt hat.

Das vorliegende Buch ist nun die dritte Buchveröffentlichung Hatties in Deutschland. Er hat sie gemeinsam mit seinem ebenfalls australischen Kollegen Yates verfasst. In diesem Buch stehen nun nicht die Metaanalysen zur Unterrichtsforschung bzw. die Umsetzung ihrer Ergebnisse für Lehrkräfte im Vordergrund, sondern die Psychologie des Unterrichts in einer allgemeineren Weise. Das Buch hat enge Verbindungen zu den beiden vorausgehenden, es ist aber in sich vollständig abgerundet und kann für sich allein rezipiert werden.

Aufbau und Inhalt

In einem Vorwort der Herausgeber und Übersetzer stellen Wolfgang Beywl und Klaus Zierer knapp den Zusammenhang zum Projekt ‚Lernen sichtbar machen‘ her und erläutern ihre Arbeit als Übersetzer und Herausgeber. Hattie und Yates führen dann in das Buch ein, indem sie konkrete Lesehilfen geben und ihre zentralen Motive als neun Prinzipien benennen, die quer durch die 31 Kapitel des Buches behandelt werden. Hier wird zum Beispiel die Rolle von Übung und Anstrengung zur Erlangung von Leistungen betont oder die zentrale evolutionäre Bedeutung des korrigierenden sozialen Feedbacks, das dem soziale Lernen zugrunde liegt.

Das Buch ist dann dreiteilig aufgebaut.

Der erste Teil behandelt das „Lernen im Klassenraum“. Themen der einzelnen Beiträge sind hier im Wesentlichen das Unbehagen der Schüler in der Schule, die Expertenblindheit als Gefahr für die Lehrkraft, die Lehrer-Schüler-Beziehung, die Persönlichkeit der Lehrkräfte, die Vortragsmethode, die Bedeutung des korrigierenden Feedbacks und – über mehrere Abschnitte hinweg – der Aufbau der Expertise.

Im zweiten Teil geht es um die „Grundlagen des Lernens“. Hier werden in mehreren Kapiteln wichtige Bausteine der kognitive Lerntheorie entfaltet. Daneben werden die viel bemühten Konzepte der Lernstile, des Multitasking, der Digital Natives und das der Zauberkraft der Musik beim Lernen behandelt.

Der dritte Teil ist dann mit „Erkenne dich selbst“ überschrieben und behandelt subjektbezogene Themen wie Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit, den IKEA-Effekt, d.h. die Verliebtheit in selbst Produziertes, oder die von Daniel Kahneman so erfolgreich popularisierte Duplizität unseres Denkens durch ein schnelles und ein langsames System [1]. Ein Kapitel ist der ‚Neurowissenschaft des Lächelns‘ gewidmet. Ein Glossar zu den zentralen Begriffen rundet das Buch dann ab. Es ist relativ knapp gehalten, wird aber durch ein Online-Glossar ergänzt (www.lernensichtbarmachen.ch/glossar), in dem sukzessiv weitere Begriffe zu Hatties Forschungen und ihren Anwendungen Aufnahme finden.

Diskussion

Das Buch arbeitet die Thematik der Psychologie des Unterrichts in einer originellen, aber nicht enzyklopädischen Weise auf. Den Rahmen bilden dabei die empirisch entwickelten Prämissen von Hattie, dass Lehrer gut daran tun, das Lernen aus der Schülerperspektive zu betrachten, und dass Schüler sich selbst als Lehrer sehen sollten (S. XIX). Der Fokus des Buches liegt dann auf dem Lehr-Lern-Geschehen entlang den drei Titeln der Hauptkapitel. Weitere Aspekte des Themas wie die Leistungsbewertung, die Lernzieltaxonomien oder die kognitiven Entwicklungstheorien kommen dabei kaum zur Sprache. Zudem ist das Buch auch von methodisch-statistischem Hintergrundwissen entlastet. Die Autoren verfahren hier so, dass methodische Zusammenhänge nicht völlig ausgeblendet, sondern dosiert eingestreut werden. So diskutieren sie kritisch im Zusammenhang der ‚Lernstile‘ die Fragebogentechnik (S. 173) oder gehen beim Thema ‚Selbstvertrauen‘ auf die Technik der Untersuchung der Selbstwirksamkeit ein (S. 211). Dabei setzen sie aber kein Methoden- und kein Statistikwissen voraus.

Originell ist das Myth-Bustering der Autoren. Sie betreiben hier pädagogisch-psychologische Ideologiekritik mit empirischen Mitteln zu einer Reihe von Themen mit einer hohen Präsenz in der pädagogischen Alltagsdiskussion. Nach der Lektüre wird man sich weniger auf Multitaskingexperimente einlassen wollen, man wird Mozart wieder andere Seiten abgewinnen müssen, als die seiner besondere Eignung als Denkhilfe. Und man wird auch die anthropologische Relevanz der digitalen Alltagspraktiken vorsichtiger bewerten.

Ein sehr schönes Kapitel stellt die ‚Neurowissenschaft des Lächelns‘ dar. Im Aufgreifen dieses Themas kann man eine Volte gegen den Vorwurf des Kognitivismus in den Untersuchungen Hatties sehen. Die Autoren zeigen, wie ein (echtes) Lächeln die Lehrer als Modelle attraktiver und somit wirksamer machen kann. Damit bekommen die Leser ein einfaches Mittel an die Hand, mit dem sie Lernprozesse sozial unterstützen können.

Eine Seite des Buches, die für Autoren zu diesem Thema einen Ausweis ihrer Glaubwürdigkeit darstellt, ist sein didaktische Konzept. Die Autoren stellen es in der Einleitung vor. Das Buch ist in eine Anzahl gut überschaubarer Kapitel gegliedert, die nicht nur durch ihre Einordnung in eines der drei Hauptkapitel kontextualisiert werden. Ein weiterer Bezugsrahmen wird durch die neun Querschnittthemen eröffnet. Im Aufbau sind die Kapitel regelmäßig so verfasst, dass eine anekdotische Einleitung zum Thema führt, das dann auf der Basis der souveränen Literaturkenntnis der Autoren in mehreren Aspekten entfaltet wird. Das Thema wird zum Ende eines jeden Kapitels noch einmal zusammengefasst und auf das Lehr-Lern-Geschehen konzentriert. In manchen Abschnitten folgen dann noch in Kästen interessante thematische Ergänzungen. Immer bilden ergiebige Anmerkungen zur angesprochenen Literatur und eine Sammlung von Fragen mit rekapitulierendem oder reflexiv vertiefendem Gehalt den Abschluss eines Kapitels. Verweise auf die Faktoren der ‚Hattie-Studie‘ sind im gesamten Buch vorhanden, eine zweite Verweisstruktur führt zum Online-Glossar. Gegen den Trend verzichtet der Text vollständig auf Grafiken. Eine mögliche Erklärung dazu findet sich im Kapitel 19. All das macht das Buch zu einem ausgezeichneten Arbeitsbuch, mit dem sich Interessenten den Themenkreis erschließen können. Als Leser sind dabei vor allem Lehrer angesprochen. Zur Zielgruppe können sich aber auch Erzieher, Sozialarbeiter, Berater und Anleiter zählen – alle, die im beruflichen Auftrag anderen etwas zeigen oder beibringen sollen.

Einschränkend bleibt zu dem Buch zu sagen, dass es für eine pädagogische Psychologie insgesamt etwas zu knapp ausfällt, vor allem in methodologischer Hinsicht. Die zitierten Studien werden nicht im Blick auf ihr Design vorgestellt. Hier muss man den Autoren vertrauen, dass sie auf der Basis von methodenkritisch ausgewählten Ergebnissen argumentieren (oder man recherchiert aufwändig nach). Methodische Anmerkungen der Autoren, nach welchen Kriterien sie die Studien, die sie anführen, ausgewählt haben, sucht man in dem Buch vergebens.

Schließlich bleibt noch anzumerken, dass die Herausgeber mit ihren Bemühungen um eine gut lesbare Übersetzung, von denen sie im Vorwort berichten, leider kein ganz glückliches Händchen hatten. Im Ganzen hilft aber der durchweg spannende Inhalt über die immer wieder einmal holperige Darstellung hinweg.

Fazit

Es handelt sich um ein ausgezeichnetes Buch, das wichtige psychologische Themen zum Lehren und Lernen in einer thematisch überzeugenden Auswahl behandelt. Es bietet sehr geschickt Hilfen zur Erarbeitung und zur Vertiefung des Themenfeldes an und ermöglicht durch seine differenzierte Didaktik in gleicher Weise einen Überblick wie eine tiefschürfende Erschließung von psychologischen Themen des Unterrichts und des Lernens. Nebenbei regt es zu einem kritischen Methodenverständnis an, der Schwerpunkt des Buches liegt aber entschieden auf den Inhalten. Leser mit weitergehenden methodischen Interessen müssen in Ergänzung zu einem klassischen Lehrbuch der Unterrichtspsychologie greifen.


[1] Kahnemann, Daniel. Schnelles Denken, langsames Denken. München: Siedler Verlag, 2012.

Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 38 Rezensionen von Carl Heese.

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ISSN 2190-9245