Bernhard Gitschtaler (Hrsg.): Ausgelöschte Namen
Rezensiert von Andreas Hudelist, 25.05.2016

Bernhard Gitschtaler (Hrsg.): Ausgelöschte Namen. Otto Müller Verlag GmbH (Salzburg) 2015. 380 Seiten. ISBN 978-3-7013-1234-4. 27,00 EUR.
AutorInnen und Entstehungshintergrund
„Ausgelöschte Namen“ ist Bernhard Gitschtalers zweites herausgegebenes Buch zum Thema Nationalsozialismus im Gailtal. 2014 veröffentlichte er mit Daniel Jamritsch „Das Gailtal unterm Hakenkreuz“. Es war das erste Buch, das aus dem im Jahr 2012 gegründeten Forschungsprojekt „Erinnern-Gailtal“ entstand. Im Fokus des Projekts stehen die Erforschung der nationalsozialistischen Vergangenheit in Kärnten, die Errichtung eines Denkmals an die Opfer des Nationalsozialismus in der Bezirksstadt Hermagor, die Mitgestaltung einer Erinnerungskultur beziehungsweise Gedenkstättenpolitik und Förderung der überregionalen sowie mehrsprachigen Zusammenarbeit im Alpen-Adria-Raum. Neben Gitschtaler schreiben elf Personen am Buch: Hans Haider, Wolfgang Haider, Daniel Jamritsch, Martin Jank, Vinzenz Jobst, Janina Koroschitz, Robert Lasser, Gerti Malle, Peter Pirker, Alexander Verdnik und Theresia Wölbitsch.
Das Ziel der Publikation ist es, über 200 Namen, in ein „kollektives Gedächtnis“ zu überführen, die in der Region von Eltern, Großeltern, Nachbarn und Verwandten verdrängt und fast vergessen wurde. Damit wird konkret die Geschichte des Gailtals während der Zeit des Nationalsozialismus und danach erzählt, darüber hinaus, welche nationalsozialistischen Strukturen in Österreich gepflegt wurden und welche Rolle das Leben sowohl am Land als auch in der Stadt hatte.
„Ausgelöschte Namen“ kann in diesem Zusammenhang als Fortsetzung und Weiterschreibung des Bandes „Das Gailtal unterm Hakenkreuz“ gesehen werden. Es schließt weitere Wissenslücken über die nationalsozialistische Zeit im Gailtal und treibt ihre öffentliche Thematisierung sowie Diskussion voran.
Aufbau und Inhalt
Wie eine Genrebezeichnung ist „Ein Erinnerungsbuch“ dem Untertitel der Publikation nachgesetzt. Während Titel und Untertitel den Inhalt des Buches umreisen, stellt die Bezeichnung Erinnerungsbuch das Ziel der Publikation dar. Erinnern ist das zentrale Thema. Dabei wird aber nicht nur der Zeit erinnert, sondern auch versucht der Komplexität unterschiedlicher Erinnerungsgeschichten, die in unterschiedlicher quantitativer Präsenz im Buch abgebildet werden, Rechnung zu tragen. Obwohl die Opfergruppen in quantitativer Hinsicht nicht alle den gleichen Platz im Buch bekommen, erkennt man sofort, dass erinnern nicht bedeuten kann, nur einer Opfergruppe zu gedenken.
In den umfangreichsten Kapiteln setzen sich die AutorInnen mit Euthanasieopfern und mit den Menschen im Widerstand gegen das NS-Regime auseinander. Weiters beschäftigen sich die AutorInnen mit Roma und Sinti, Homosexuelle, Kärntner SlowenInnen, Geistliche, Jehovas ZeugInnen und Jüdinnen bzw. Juden als Opfer des Nationalsozialismus. Opfer meint hier alle, die vom NS-Regime verfolgt wurden. Erinnert werden hier die Ermordeten, aber auch die Menschen, die das Lager, die Gestapo-Haft oder andere Repressionen überlebt haben.
Der Hauptteil der Publikation besteht aus den geführten Interviews mit Nachkommen der Opfer und der Quellenrecherche, die insgesamt zu 200 Biographien von Opfern führten. In diesem Zusammenhang reflektieren Jank und Wölbitsch ihre eigene familiäre Erfahrung mit NS-Opfern und machen damit den wohl persönlichsten Teil des Buches aus.
Das AutorInnenteam ist sich bewusst, dass „egal wie genau [sie] die Recherche betreiben, egal mit welcher Methode, es nie möglich sein wird, alle Opfer des NS-Regimes im und aus dem Gailtal ausfindig zu machen“. (16) Trotzdem werden hier 200 Menschen namentlich genannt, die sonst in der Erinnerung vielleicht bald ganz aus dem Gedächtnis gelöscht wären. Das Buch sieht Gitschtaler somit als wichtigen Schritt, wenn nicht als Basis, das erwünschte Denkmal an die Opfer des Nationalsozialismus im Gailtal zu errichten. In weiterer Folge sollen die zwei umfangreichsten Kapitel skizziert werden.
Als „nutzlose Esser“, „vollkommen idiotisch“, „geistig minderwertig“ oder „lebensunwertes Leben“ wurden die Menschen bezeichnet, die eben nach der nationalsozialistischen Ideologie nicht produktiv genug und damit für die Entwicklung der Gesellschaft unbrauchbar waren. Die „Rassenhygiene“ sollte dem Ziel der „reinen Rasse“ verhelfen, die die Ursache für den Mord an diesen Menschen war. Eine Auseinandersetzung mit jenen „Euthanasie-Opfern“ beginnt erst seit den späten 1980er Jahren intensiv. Die vollständigen Namen wurden in den wissenschaftlichen Texten oftmals nicht genannt, um den Hinterbliebenen Scham und Angst zu ersparen. Wolfgang Haider möchte mit der konkreten Nennung der Namen von Opfer aus dem bzw. im Gailtal jedoch genau dieser Scham und Angst entgegentreten. „Es muss an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass manche,Krankheitsbilder?, die dem nationalsozialistischen Regime reichten, um jemanden auf die Todeslisten zu setzen, vielfach als,alltäglich? gelten können. Nicht selten waren die diagnostizierten,Krankheiten? auch nur Gründe, um unliebsame Menschen, die zum Beispiel Kritik am NS-Regime äußerten, loszuwerden.“ (28) In Berlin wurde 1940 die T4-Aktion ins Leben gerufen durch die (Tarn)Organisationen gegründet wurden, die die Tötungen durch Euthanasie organisierten und vorantrieben. Bis 1941 wurden die meisten aus dem Gailtal in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz transportiert. Sie sind zumeist unter der Angabe „aus verwaltungstechnischen Gründen“ verlegt worden. Nach dem „Euthanasie-Stopp“ im Jahr 1941 wurden die „Euthanasie-Morde“ im Siechenhaus des Klagenfurter Krankenhauses durchgeführt. Hier haben Pfleger und Schwestern den Verordnungen des Arztes Folge geleistet und teilweise die Tötungen selbst mittels Morphiuminjektionen oder einer dauerhaften Verabreichung der Schlafmittelmischung Somnifen mit Hustensaft durchgeführt.
Die Geschichte des Gailtals im Kontext des Widerstandes widerspiegelt im Grunde die allgemeine österreichische Wahrnehmung, die Menschen, die sich am Widerstand gegen das NS-Regime beteiligt haben, dargebracht wird. Sowohl WiderstandskämpferInnen als auch Desertierende haben in der Erinnerung eine marginalisierte Rolle bzw. werden nicht erinnert. Die beiden Kapitelautoren Gitschtaler und Jamritsch verweisen auf das im Jahr 2014 errichtete Denkmal für die Deserteure aus den SS-Verbänden und der Wehrmacht am Wiener Ballhausplatz. In Kärnten sind deutschnationale, rassistische und antislawische Vorurteile und Gesinnungen stärker auch in der Gegenwart zu finden. So werden Politiker in Kärnten angeführt, die Parolen aus dem Nationalsozialismus, wie zB des Kärntner Gauleiters Friedrich Rainer aufgenommen haben, und in der Öffentlichkeit wiederholt kommunizierten. Damit zeichnen sie nationalsozialistische Denkmuster aber auch widerständiges Handeln bis in die Gegenwart nach. Für den Widerstand sind für das Gaital die „Schütt-Partisanen“ zu nennen, die in der sonst wenig widerständigen Region, ab 1943 zusammen mit der in Slowenien gegründeten Osvobodilna Fronta (Befreiungsfront) kämpfte. Durch das Kennen von Schleichpfaden und die Unterstützung der ortsansässigen Bevölkerung konnten die „Schütt-Partisanen“ mittels Fluchtaktionen kampfwillige Arbeiter zu den jugoslawischen Partisanen jenseits der Grenze bringen. Nach Kriegsende war es gerade dieser Ort, der unzähligen Kriegsverbrechern und SS-Männern Schutz vor den Alliierten bot. 1976 wollte der Zveza koroskih partizanov/Verband der Kärnter Partisanen eine Gedenktafel für den Partisanenkampf im Gailtal aufstellen. Die Errichtung wurde jedoch abgeblasen, als ein Bürger gedroht hatte, denjenigen, der die Tafel aufstellen wolle, zu erschießen.
Durch die vielen Biographien bekommen die LeserInnen des Buches einen Überblick der Opfer und einen Einblick in deren Leben. Die AutorInnen sammeln am Ende des Buches Namen der getöteten Gailtalerinnen und Gailtaler sowie der überlebenden NS-Opfer aus dem Gailtal. Der Verbleib von zwölf Namen bleibt ungeklärt.
Diskussion und Fazit
Die Philosophin und Journalistin Carolin Emcke (2015) fragt nach der Möglichkeit, Geschichten und Erfahrungen erzählen zu können, die „nur“ vermittelt weitergegeben wurde. Es besteht dabei immer die Gefahr, dass durch die Sprache Narrationen vereinfacht werden und nie den Erfahrungen der Betroffenen gerecht werden können. Dennoch muss trotz allem erzählt werden, verlangt Emcke, die nicht nur kohärent abgeschlossene, sondern auch unfertige und zeitoffene Erzählungen als notwendig erachtet. In einer demokratischen Gesellschaft versteht sie es als Pflicht, sich mit den Narrationen anderer auseinanderzusetzen und wenn nötig auch für diese die eigene Stimme zu erheben. „Wie von diesen Erfahrungen zu erzählen sei, ist – in dieser Perspektive – nicht nur eine subjektive Frage der Überlebenden, sondern eine kollektive Frage aller, die nachfragen und beobachten, aller, die zuhören oder weitererzählen wollen, es ist die kollektive Aufgabe einer Gemeinschaft, die sich an Gerechtigkeit orientiert.“ [1] Diese Aufgabe wird mit dem Tod der ZeugInnen für die Nachkommen größer.
Dies dachte wohl auch Bernhard Gitschtaler, der als Herausgeber mit seinen MitautorInnen für das Buchprojekt Namen von Menschen sammelte, die nicht mehr (für sich oder andere) sprechen können. Vielmehr, die gesammelten Namen und vorgestellten Biographien entgegnen der nationalsozialistischen Strategie, den Opfern ihre Identität zu nehmen und holen sie wieder in die öffentliche Historie des Gailtals zurück. Dabei werden nicht nur ihre Namen genannt, sondern die Menschen mit ihren Biographien vorgestellt. Vielleicht brauchte man das Gedenkjahr 2015, um den 200 Personen ein öffentliches Gedenken zu ermöglichen. Der Herausgeber schreibt selbst zu Beginn des Buches: „Erinnerungsarbeit kann nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, die Verbrechen im NS-Regime und deren Entstehung, die uns zeigen wozu ein Staat im schlimmsten Falle in der Lage ist, so zu vermitteln, dass eine Sensibilisierung für die Ausgrenzungsmechanismen der heutigen Zeit, die sich oft kaum von denen von vor 80 Jahren unterscheiden, zu schaffen.“ (12) Dem Buch allein gelingt das natürlich nicht, jedoch sind die AutorInnen diesem Vorhaben ein Stück näher gerückt und man darf dem Verein „Erinnern Gailtal“ viel Glück wünschen, ihre Ziele weiterhin verfolgen zu können.
„Ausgelöschte Namen“ hat die vergessenen Opfer des Nationalsozialismus im und aus dem Gailtal in den öffentlichen Diskurs um die Erinnerung des Zweiten Weltkrieges und dem Umgang damit in der Nachkriegszeit zum Thema gemacht. Das Buch erhebt für die Menschen eine Stimme, die nicht mehr über ihre Zeugenschaft berichten können.
Literatur
Emcke, Carolin (2015): Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt a.M.: Fischer. S 23
Rezension von
Andreas Hudelist
Schwerpunkte: Ästhetik, Cultural Studies, Film- und Fernsehforschung, Kunst sowie kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung
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