Rudolf Klein: Lob des Zauderns
Rezensiert von Sandra Ebert, 02.03.2016

Rudolf Klein: Lob des Zauderns. Navigationshilfen für die systemische Therapie von Alkoholabhängigkeiten. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2014. 229 Seiten. ISBN 978-3-8497-0020-1. 29,95 EUR.
Autor
Dr. phil. Rudolf Klein war nach seinem Studium der Sozialpädagogik als Gruppentherapeut in einer Klinik für Alkohol- und Medikamentenabhängige sowie als Mitarbeiter einer ambulanten psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle mit dem Schwerpunkt Sucht tätig. Er verfügt über eine Approbation als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und ist seit 2004 in freier Praxis tätig. Er ist Lehrtherapeut und Lehrender Supervisor an verschiedenen Instituten und hat verschiedene internationale Gastdozenturen.
Zielgruppe
Das Buch soll Betroffenen Anregungen für die individuelle Auseinandersetzung mit dem eigenen Trinkverhalten geben und bei der Entscheidungsfindung für oder auch gegen eine Veränderung unterstützen. Des Weiteren will das Buch Menschen ermutigen, die eine professionelle Therapie aufsuchen möchten. Drittens richtet sich das Buch an Fachkräfte, die mit süchtig Trinkenden arbeiten, neue Blickwinkel erschließen oder ihre Angebote erweitern möchten.
Entstehungshintergrund
In seiner Einleitung beschreibt Rudolf Klein, dass es ihm ein Anliegen war, neben den klassischen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten andere, systemtheoretische und systemtherapeutische Sicht- und Umgangsweisen mit dem Thema Sucht aufzuzeigen. Die im Buch vorgestellten Überlegungen sind in den Jahren der Berufspraxis entstanden und kontinuierlich weiterentwickelt worden.
Aufbau
Das vorliegende Buch gliedert sich in die folgenden 13 Kapitel:
- Einleitung
- Vom Ende, das ein Anfang ist
- Systemische Reflexionen
- Systemische Annäherungen: Von Lebensproblemen und Problemsystemen
- Alkoholabhängigkeit: Ergebnis einer Selbstorganisation
- Versuch einer systemischen Beschreibung
- Zwei Musterbeschreibungen
- Wandel: Herausforderungen, Chancen und Risiken
- Das Dreiphasenmodell des Wandels (DPM)
- Die erste Phase
- Die zweite Phase
- Die dritte Phase
- Schluss
Inhalt
Die Einleitung in Kapitel 1 vermittelt die statistische Verbreitung von alkoholabhängigen und alkoholmissbrauchenden Menschen in Deutschland sowie die Zahl der Betroffenen Angehörigen, darunter auch die Zahl der Kinder. Seiner Meinung nach wird aufgrund starker Schuld- und Schamgefühle auch in der heutigen Zeit versucht, das Thema in der Öffentlichkeit zu vermeiden, so dass nur etwa 5-10 % der behandlungsbedürftigen Menschen in Spezialeinrichtungen ankommen.
In Kapitel 2: Vom Ende, das ein Anfang ist beschreibt der Autor, dass bei der Entscheidungsfindung sowie bei der Problembearbeitung süchtige Trinker häufig mit Ambivalenzen und Hürden konfrontiert sind. Einerseits können mit den veränderten Trinkgewohnheiten viele positive körperliche Erfahrungen verbunden werden, andererseits können Gefühle der Unsicherheit, Angst oder Traurigkeit entstehen. Somit werden oft Chancen und Risiken des Ausstiegs aus der Sucht abgewägt und in die Überlegungen einbezogen.
Die Diskussion des Phänomens Alkoholabhängigkeit nimmt der Autor in Kapitel 3: Systemische Reflexionen vor. Hierzu listet er die Kriterien der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen und zeigt 2 Beispiele auf. Die Unterkapitel 3.1 und 3.2 setzen sich mit den Eckpfeilern und Implikationen des traditionell-medizinischen Suchtmodells auseinander.
Kapitel 4 steht unter dem Titel Systemische Annäherungen: Von Lebensproblemen und Problemsystemen. Beschrieben wird hier, was aus systemtheoretischer Sicht Voraussetzungen für ein Problem darstellen. Anhand eines Fallbeispiels wird das Problem des süchtigen Trinkens veranschaulicht. Weiter wird thematisiert, wie Personen im Umfeld eines Menschen reagieren, wenn ein problematischer Alkoholkonsum festgestellt wird: Mit den Möglichkeiten, dieses zu verschweigen oder zu thematisieren. Im zweiten Fall wird ein Problemsystem und damit der Raum für eine Auseinandersetzung mit dem Thema eröffnet.
Das Kapitel 5: Alkoholabhängigkeit: Ergebnis einer Selbstorganisation beschreibt, dass die Reaktionen und Verhaltensweisen von süchtig Trinkenden Menschen im Voraus nicht einschätzbar sind. In den folgenden Unterkapiteln wird auf die Vorgänge und Wechselwirkungen des psychischen, biologischen und sozialen Systems, die im Mensch wirken, eingegangen. Im Anschluss wird die besondere Dynamik der drei Systeme bei einer Alkoholabhängigkeit dargestellt und anhand kurzer Beispiele illustriert. Hierbei werden auch die Auswirkungen auf das Familiensystem, insbesondere die Kinder, einbezogen. Der Autor führt zudem die Sichtweise ein, dass es sich beim Alkoholkonsum um ein Problembewältigungs- bzw. Problembeseitigungsdynamik handelt, da bei einer Alkoholabhängigkeit versucht wird, Alkohol als Mittel zu nutzen, unangenehme Situationen erträglicher werden zu lassen oder angenehme Situationen weiter zu verschönern – so wird der Alkohol schließlich zum Überlebensmittel.
In Kapitel 6: Versuch einer systemischen Beschreibung wird aufgezeigt, dass es nicht ausreicht, die dargestellte Selbstorganisationsdynamik des Menschen bei der Entstehung der Alkoholabhängigkeit zu betrachten, sondern dass daneben biografische Erfahrungen und Krisen im Lebenslauf entscheidende Einflussfaktoren darstellen. Eine Alkoholabhängigkeit wird vom Autor daraufhin auch ritualtheoretisch derart eingeordnet, dass dem süchtig trinkenden Menschen deutlich wird, dass der aktuelle Lebensentwurf nicht mehr tragfähig ist und eine Alternative benötigt wird, diese jedoch noch nicht in Sicht ist. Zur Abmilderung dieses Empfindens kann Alkohol eine Lösungsmöglichkeit darstellen. Menschen, die abhängig trinken, durchlebten nicht selten Lebensereignisse, die mit Gefühlen der Angst, Schuld oder Scham besetzt sind und eine traumatische Wirkung erzeugten. Setzen sich Menschen mit diesen herausfordernden, schmerzlichen Erfahrungen auseinander, besteht die Chance, Fähigkeiten und Ressourcen zu entdecken und daran zu wachsen. Bleibt diese Wachstumschance ungenutzt, steigt das Risiko, Alkohol als Kompensationsmittel in Überforderungssituationen oder als Trost einzusetzen.
Kapitel 7: Zwei Musterbeschreibungen enthält zwei Muster, die Klein in den Biografien abhängig trinkender Menschen-beobachten konnte. Einerseits spricht er von Menschen, die Alkohol zur Bewältigung von Schwellenproblemen nutzten: Dem Menschen wird deutlich, dass die jetzige Lebenssituation nicht mehr tragfähig ist und es einer Alternative bedarf, doch diese ist noch nicht greifbar. Alkohol macht dabei das Fehlen der Perspektive erträglicher. Die therapeutische Arbeit besteht in diesem Schritt darin, den Menschen aus einer resignierten Haltung heraus in eine neugierig-interessierte Haltung zu motivieren. Als zweites beobachtetes Muster wird ebenso die aktuelle Lebenssituation in Frage gestellt, gleichzeitig wird sie durch das süchtige Trinken aufrecht erhalten. Das familiäre System scheint von außen geordnet zu sein, während im Inneren deutlich wird, dass eine Anpassung an veränderte Bedingungen notwendig wäre. Im therapeutischen Prozess geht es bei diesem Muster darum, nicht mehr adäquate Wünsche aufzugeben, sich mit Veränderungsperspektiven auseinandersetzen und sich diesen zu stellen.
Das Kapitel 8: Wandel: Herausforderungen, Chancen und Risiken befasst sich mit dem Entstehen existentieller Krisen und damit verbundenen, teils philosophischen Fragen wie dem Annehmen des Lebens, der Verantwortung für die individuelle Lebensgestaltung sowie der Mündigkeit des Individuums. Die Berauschung in Krisen kann ein Mittel sein, um die Konfrontation mit existenziellen Fragen abzumildern, indem man sich zu der Welt distanziert. In diesen Schwellenphasen sieht Klein die Chance des Entstehens von beraterisch-therapeutischen Prozessen. Diese Phase enthält so neben dem Risiko die Chance zu einem neuen Entwurf und wird oftmals vom Gefühl der Angst vor dem Unbekannten sowie der Trauer um das Zurückzulassende begleitet. Diese Dynamik der Entscheidungsfindung wird nach Vogl (2002) als „Zaudern“ bezeichnet. In dieser Auseinandersetzung des Klienten hat der Therapeut die Aufgabe, den süchtig trinkenden Menschen bei der Entdeckung von Möglichkeiten und Lebensentwürfen zu begleiten und das Interesse und die Neugierde für diese Auseinandersetzung des Klienten mit sich selbst zu wecken.
Kapitel 9: Das Dreiphasenmodell des Wandels (DPM) stellt das idealtypische Dreiphasenmodell der Therapie vor: 1. Die Stärkung der Fähigkeiten zur Selbstregulation, 2. die Phase des Erlebens und 3. die Phase der Erzählungen der Mitglieder des sozialen Systems des Klienten. Klein führt diese Phasen intensiv aus, er benennt die Themen der einzelnen Phasen und beschreibt die klassischen intrapersonellen Vorgänge im Klienten, die Aufgaben des Therapeuten sowie für den Therapieprozess Förderliches und Hinderliches.
Kapitel 10: Die erste Phase enthält ein Bündel an Themen, welche zu Beginn einer Therapie häufig aufkommen: Diese reichen von der Definition eines Therapieziels zwischen Abstinenz und reduziertem Trinken über die Motivationsklärung mithilfe der Problem-Lösungs-Balance, mit vielen für den therapeutischen Prozess relevanten Fragen hin zur Thematisierung existenzieller Herausforderungen. Im weiteren Kapitel wird zudem auf die Beziehung des Klienten zu sich selbst fokussiert, die Bedeutung von Rückfällen für den Veränderungsprozess, das In-Anspruch-Nehmen von Entzugsbehandlungen insbesondere bei körperlicher Abhängigkeit sowie die eigene Wahrnehmung und Beobachtung und Analyse des Trinkverhaltens mit dem Ziel der Selbsterkenntnis erläutert. Neben vielen weiteren Themen Möglichkeiten aufgezeigt, das individuelle Trinkmuster zu unterbrechen und Empfehlungen zum kontrollierten Trinken aufgestellt.
In Kapitel 11: Die zweite Phase werden nun neben gegenwärtigen Themen im Leben des Klienten die biographische Erfahrungen berücksichtigt, die mit dem süchtigen Trinken zusammen hängen können. Es werden in dieser zweiten Phase der Therapie also die in der ersten Phase erarbeiteten Gründe für das Trinkverhalten aufgegriffen und in den Zusammenhang mit bedeutsamen Lebensereignissen gebracht. Anhand im Buch zur Verfügung gestellter Fragen kann das therapeutische Handeln an der Stelle gut verdeutlicht werden. Weiter wird der Blick auf die Resilienz gelenkt und dazu eingeladen, bisher erzielte Veränderungen zu würdigen und Loyalitäten, die nicht selten zu einer Stagnation führen, behandelt.
Kapitel 12: Die dritte Phase stellt eine therapeutische Phase vor, in der die Dynamiken des sozialen Systems im Fokus der Betrachtung liegt, wobei auch die Frage relevant wird, ob und ggf. welche Personen zu welchem Zeitpunkt in den therapeutischen Prozess einbezogen werden sollen. Kapitel 12.1 setzt sich mit der Frage des Gehens oder Bleibens auseinander, bspw. in der Hinsicht, ob eine gemeinsame Zukunft als Paar oder Familie noch vorstellbar und wünschenswert ist. Im folgenden Kapitel wird sich mit den Themen des Vertrauens und Misstrauens in der Paarbeziehung auseinander gesetzt und die daraus resultierenden Bedürfnisse und Paradoxien ins Gespräch gebracht, da davon ausgegangen wird, dass in diesem Thema auch Wachstumschancen stecken – sowohl auf individueller, partnerschaftlicher oder familiärer Ebene. Das Unterkapitel „Eltern sein!?“ thematisiert, dass während der Zeit des süchtigen Trinkens die Elternrollen oftmals zumindest teilweise vernachlässigt wurden, was zu Gefühlen von Schuld und Ratlosigkeit führen kann. Im letzten Unterkapitel „Ein neues Leben?!“ wird die weitere Entwicklung der Personen in den Fallbeispielen aufgezeigt und auf die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten einer jedes Menschen verwiesen.
Fazit
Rudolf Klein liefert mit diesem Buch ein sehr lebendiges Werk: Den Leser begleiten während des ganzen Bandes Fallbeispiele von 4 Personen, an denen die theoretisch aufgezeigten Inhalte greifbar werden. Zu den unterschiedlichen Phasen seines therapeutischen Arbeitens stellt er exemplarische Fragen vor, die vom Leser unmittelbar in die Therapiegespräche eingebaut und verwendet werden können.
Weiter vermittelt Rudolf Klein deutlich, dass süchtig Trinkende Ressourcen haben, die aktiviert werden können, so gelang es bspw. vielen KlientInnen im Vorfeld der Therapie, Phasen der Abstinenz zu durchleben. Der Autor betont, dass Trinkende selbst verantwortlich für ihr Tun sind und entscheiden, ob und wann sie aufhören. Er mahnt zur Geduld, sich auf das Tempo der Klienten einzulassen – insbesondere um die Phasen des Zweifelns zu überstehen. So lässt er die Verantwortung beim Klienten selbst und spricht ihm die Expertenrolle für sein Leben zu. Diese Sichtweisen sind in der Auseinandersetzung mit süchtig Trinkenden zentral und für Teile des Suchthilfesystems neu. Rudolf Klein wagt, neue Sichtweisen zu äußern und Altbekanntes in Frage zu stellen bzw. um neue Blickwinkel zu erweitern.
Das Buch greift systemische Sichtweisen konsequent für die Arbeit mit süchtig Trinkenden auf, so dass sich dieser Band insbesondere für Fachpersonen eignet, die im suchttherapeutischen Bereich arbeiten und sich für die systemische Therapie interessieren.
Rezension von
Sandra Ebert
M.A. in Bildungswissenschaften, B.A. in Sozialer Arbeit, Systemische Beraterin, Supervisorin und Coachin
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