John DeLamater, Rebecca F. Plante (Hrsg.): Handbook of the Sociology of Sexualities
Rezensiert von Dr. Thorsten Benkel, 07.12.2015

John DeLamater, Rebecca F. Plante (Hrsg.): Handbook of the Sociology of Sexualities. Springer International Publishing AG (Cham/Heidelberg/New York/Dordrecht/London) 2015. 453 Seiten. ISBN 978-3-319-17340-5. D: 266,43 EUR, A: 273,90 EUR, CH: 331,50 sFr.
Thema
Längst ist in der sozialwissenschaftlichen Debatte nicht mehr ohne weiteres von „der“ Sexualität die Rede, sondern von Sexualitäten. Die Ausdifferenzierung sexueller Handlungsfelder geht einher mit einer Pluralisierung wissenschaftlicher Betrachtungsweisen und Theoriekonzepte. Insbesondere die Soziologie bietet hier anschlussfähige Forschung, allerdings passiert diesbezüglich (bislang) in den englischsprachigen Regionen weitaus mehr als in Deutschland. Fokussiert auf den angloamerikanischen Sprachraum, gibt das vorliegende Handbuch einen Eindruck vom Spektrum sexualsoziologischer Methoden auf dem aktuellen Stand.
Herausgeber und Herausgeberin
John DeLamater arbeitet an der University of Wisconsin in Madison; Rebecca F. Plante ist tätig am Ithaca College in New York.
Entstehungshintergrund
Der Band erscheint in der Reihe „Handbooks of Sociology and Social Research“, die von John DeLamater herausgegeben wird.
Aufbau
Neben einer Einleitung und einem ausführlichen Sachwortindex sind 25 Texte auf fünf thematische Abschnitte verteilt:
- Theories
- Methods
- Bodies and Sexuality
- Sexualities in Social Context
- Sexualities in Institutional Context
Inhalt
Das Handbuch ist all jenen VorkämpferInnen gewidmet, die die Sexualität auf die soziologische Agenda gesetzt haben. In der Einleitung der HerausgeberInnen folgt eine historische Einordnung: Zu solchen Pionieren gehören Alfred Kinsey, William Simon und John H. Gagnon sowie weitere Namen, die im deutschsprachigen Raum nicht allzu prominent sein dürften. Gegen die (vermeintliche) Materialitätsvergessenheit der Soziologie betonen DeLamater und Plante ferner die Rolle des Körpers in sexualsoziologischen Debatten – was nicht nur eine Betrachtung sexueller Verhaltensweisen, sondern eben auch solche Facetten wie Altern oder Krankheit nahelegt. Außerdem, so die Ankündigung, sollen neben typischen Themen wie Paarbeziehung oder Pornografie gezielt auch „Lifestyle“-Facetten wie das urbane Leben, soziale Bewegungen oder Asexualität unter die Lupe genommen werden – nicht aber Fragen der „Objektwahl“, da ein von LGBT* informierter Sexualdiskurs eine solche Verengung nicht mehr zulasse.
Als klassischer Ansatz, der die Loslösung der Sexualsoziologie aus der Umklammerung durch die Psychoanalyse bewerkstelligt und damit eine Öffnung hin zum interaktionistisch-handlungsbezogenen Kontext geschaffen habe, wird die Skript-Theorie von Simon und Gagnon genannt. Damit einher geht eine Berücksichtigung der Historizität des Sexuellen: Jene Kategorien, die sexuelles Agieren bestimmen und formen, wie etwa die kulturell-historische Dimension des Handelns, unterliegen immerzu Transformationsprozessen. Was „selbstverständlich“ oder „natürlich“ als Sex gilt, ist demnach nur eine Momentaufnahme innerhalb des Strudels sozialer Veränderungen. Die Frage ist nur: Wie wird dieser Wandel greifbar? Selbst wenn über einen längeren Zeitraum die Zahl der verschiedenen Sexualpartner identisch bleibt, bedeutet dies nicht, dass keine Revision von Handlungsusancen eingesetzt hat. Beispielsweise ist heute Sexualität im Freundeskreis, d.h. außerhalb partnerschaftlicher, aber innerhalb vertraut-solidarischer Kontexte, verbreiteter als noch vor Jahrzehnten. Die Änderung ist ad hoc also nicht messbar – aber dennoch präsent.
Die Beiträge des Handbuchs widmen dem sozialen Wandel erfreulicherweise breiten Raum, dies geschieht aber vorwiegend mit Blick auf quantitative Messungen – und somit nicht in Anlehnung an das eher sozialkonstruktivistische Instrumentarium, dass Simon und Gagnon verwendet haben. Andere Theoriekonzeptionen werden dagegen auf die Sexualität übertragen, ohne sie ursprünglich als Thema berücksichtigt zu haben; so etwa die Feldtheorie Pierre Bourdieus. Das sexuelle Feld wird mit Bourdieu als mesosoziologischer Bezugsrahmen vorgestellt (32). Makrosoziologische Bezüge liefert hingegen insbesondere das kollektive Moralität implizierende Theoriegebäude Emile Durkheims.
Der quantitative Zugang eröffnet interessante Erkenntnisse, etwa bezüglich der Korrelation von Orgasmusfähigkeit und sozialem Status (48), er verlangt aber auch nach methodologischer Reflexion. „Minimizing survey errors“ (93) ist gerade bei heiklen, intimen Sachverhalten ein relevantes Stichwort. Übrigens findet auch die Ethnografie, für den deutschen sexualsoziologischen Diskussionsraum vielleicht ein geläufigerer Erkenntnisweg, Erwähnung – und zwar in Form einer neuseeländischen Studie zu „Massage Parlours“ (109ff.), die in sozialtheoretischer Hinsicht einige Impulse der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour verdankt. Neben spannenden Einblicken auf den schmalen Grat zwischen Feldforschung, gezielter Distanzwahrung und (durchaus: körperlicher) Partizipation finden also auch zeitgenössische Theorieansätze hier und da Berücksichtigung.
Selbstverständlich werden Trans-Identitäten thematisiert, und damit verbunden die Langwierigkeit festgeschriebener Sexualkonzepte trotz „empirischer“, weil: physischer „Gegenbeweise“. Auch die Asexualität erhält – weil schließlich Ablehnung einer Sache auch eine Einstellung zu dieser Sache ist – nähere Aufmerksamkeit. Zu unterscheiden ist bei diesem in der sozialwissenschaftlichen Debatte allmählich stärker nach vorne tretenden Thema zwischen einer bewussten Wahl trotz (mutmaßlich) vorliegenden Verlangens (Zölibat) und fehlender sexueller Motivation. Wenn Asexualität als sexuelle Identität (an-)erkannt wird, stellt sich für die Betroffenen die Frage nach dem persönlichen „coming out“ (282f.); gewiss eine zwiespältige Situation, denn dabei wird zwangsläufig eine Haltung problematisiert, die an sich keine Probleme beinhaltet.
Der Faktor Raum wiederum wird im Zusammenhang mit dem Schaffen von Orten und Situationen diskutiert, an denen tradierte Codes der sexuellen Zugehörigkeit nicht mehr gelten bzw. nicht mehr gelten müssen (306). Daneben finden sich, wie gesagt, aber auch informative Darstellungen des klassischen Themenkanons, also beispielsweise Erörterungen der Schwierigkeit, Erotika von Pornografie abzugrenzen.
Diskussion
Das Handbuch liefert eine schier erschlagende Menge an Theorien, Methoden und Debatten – und zugleich an Input, Material und Referenzen auf Unmengen an weiterführender Literatur. Insofern handelt es sich, zumindest für den englischsprachigen Raum, ohne Frage um ein Standardwerk. Aus kontinentaleuropäischer Perspektive zeigt der Band zwischen den Zeilen aber auch, dass eine Sexualforschung abseits eines medizinisch-biologischen Generalparadigmas Bestand haben und erfolgreich sein kann.
Die sehr deutliche Orientierung an quantitativer Forschung ist wenn auch nicht überraschend, so mitunter doch gewöhnungsbedürftig – insbesondere dann, wenn sie im Einklang mit Methoden steht, die hierzulande von keiner Ethik-Kommission abgesegnet werden würden. Gerade die Frage nach der Forschungsethik ist im Bereich der Sexualität nicht zuletzt deshalb bedeutsam, weil das praktische Vorgehen – abgesegnet oder nicht – mitunter an die Grenzen sozialwissenschaftlicher Handlungsspielräume stößt.
Zu Recht wird thematisiert, dass Behinderte auf dem sexuellen Markt schlechte Karten haben, auch und gerade wegen der ansonsten vermeintlich „trivialen“ Rahmenbedingungen des intersubjektiven Näherkommens (vgl. 174). Konsequenter wäre es allerdings gewesen, auch andere Kategorien der Marginalisierung zu berücksichtigen. Über Alter und physische „Extravaganz“ wird hier und da gesprochen, aber die lobbyfreie Gruppe der Unattraktiven ist offenbar kontinentübergreifend für gewöhnlich kein Thema; weshalb?
Ebenfalls fragwürdig ist der Umstand, dass es als „welcome developement“ bezeichnet wird, wenn sich Anweisungen zum erfolgreichen „hook-up“ (also: zum unverbindlichen Sexualkontakt) mittlerweile vor allem an junge Frauen als Leserschaft wenden (204). Gewiss: Dass diesbezüglich zwischen den Geschlechtern moralische Doppelstandards vorherrsch(t)en, ist soziologisch interessant, es ist aber sicherlich nichts, was soziologisch ‚bekämpft‘ werden müsste oder sollte (und das gilt selbstverständlich auch in die andere Richtung).
Nebenbei wird auch noch Aufklärung betrieben, die bei der erwartbaren Leserschaft wohl überflüssig sein dürfte: Foucault wird als „a French philosopher“ vorgestellt, Bourdieu ist „a noted sociologist“ (55). Ein klein wenig mehr editorische Sorgfalt hätte dem Band ebenfalls gut getan. Mal wird im Zusammenhang mit der These, dass in lesbischen Partnerschaften Sexualität eine geringe Rolle spielt, vom „lesbian bed death“, dann wieder vom „lesbian death bed“ gesprochen. Zugegeben, das sind Kleinigkeiten. Schwerwiegender ist – gerade bei deskriptiven Studien (vgl. 244ff.) –, dass man zwar „Rohmaterial“ erhält, das sich bearbeiten lässt, dass aber die Deutung der Bedeutung letztlich standpunkt- und immerzu kultur- und zeitgeistabhängig ist. Wie heißt es sinngemäß schon bei Simon und Gagnon? Dass es keine Wahrheiten über Sexualität gibt, ist die zentrale Wahrheit der Sexualität.
Fazit
Die Sexualität wurde lange Zeit als Stiefkind akademischer Institutionen angesehen und nur mit spitzen Fingern angefasst. Allenfalls im medizinischen Diskurs wurde das Thema behandelt – meist eingegrenzt auf Fortpflanzung bzw. Pathologie. Diese Zeiten sind vorbei. Die Gesellschaftswissenschaften haben es verstanden, sich der Sexualität – bzw. mittlerweile verschiedenartigen Sexualitäten – zu verschreiben, nicht zuletzt aufgrund der schwer zu leugnenden sozialen Bedeutungen sexueller Handlungsformen.
Das vorliegende Handbuch stellt sich offensiv der faktischen Bedeutung des Themas. Es betrachtet die Grundlagen sexueller Ausdrucksvarianten von so vielen verschiedenen konzeptionellen und methodologischen Blickwinkeln aus, dass man es nicht anders denn als eine reichhaltige Fundgrube beschreiben kann. Schwerpunkt ist zwar der angloamerikanische Sprachraum, was aber nicht als Begrenzung verstanden werden muss, sondern auch eine Chance sein kann: so zeigt sich, dass die Soziologie der Sexualitäten sehr wohl, und mit fruchtbaren Ergebnissen, zur etablierten Unterdisziplin werden kann.
Kurzum: Ein ehedem „anstößiges“ Thema liefert in Form des vorliegenden Werkes so viele Anstöße, dass Interessierte, die die Investition wagen wollen und können, mit ihrer Ausbeute zweifellos zufrieden sein dürften.
Rezension von
Dr. Thorsten Benkel
Akademischer Oberrat für Soziologie
Universität Passau
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