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Klaus Fröhlich-Gildhoff, Gerald Hüther et al.: Ist weniger mehr? (Umgang mit Kindern)

Rezensiert von Prof. Dr. Thilo Naumann, 11.02.2016

Cover Klaus Fröhlich-Gildhoff, Gerald Hüther et al.: Ist weniger mehr? (Umgang mit Kindern)

Klaus Fröhlich-Gildhoff, Gerald Hüther, Christa Preissing, Herbert Vogt, Detlef Diskowski (Moderation): Ist weniger mehr? Brauchen wir im Umgang mit unseren Kindern mehr Programme oder mehr Gelassenheit? AV1 Pädagogik-Filme (Kaufungen) 2015. 24,00 EUR.
Gesamtlaufzeit der DVD: 64 Min. Die DVD ist exklusiv zu beziehen bei AV1 Pädagogik-Filme (www.paedagogikfilme.de) Preis zzgl. Versand.

Thema und Entstehungshintergrund

Seit Jahren ist die Debatte um die Elementarpädagogik bestimmt durch die Bildungspläne der Bundesländer sowie durch Förder- und Trainingsprogramme. Dies soll Qualität entwickeln helfen, der Prävention psychosozialer Probleme dienen, den Anforderungen des Arbeitsmarktes ebenso wie den Bedürfnissen der Familien entgegenkommen und nicht zuletzt die Selbstbildung von Kindern unterstützen. Erfreulich daran ist, dass der Früh- und Elementarpädagogik endlich eine Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, die aufgrund der komplexen, anspruchs- und verantwortungsvollen Aufgabe längst überfällig ist. Problematisch ist jedoch, dass allzu häufig kindliche Entwicklung und Selbstbildung rein verhaltensorientiert betrachtet und das Kind in zu fördernde Kompetenzbereiche zerteilt wird, ohne die Gruppen-, Beziehungs- und Psychodynamik kindlicher Selbstbildungsprozesse zu beachten.

Vor diesem Hintergrund hat AV1 Film und Multimedia bereits 2014 den Film „Mit Kindern wachsen – Was macht eine gute Pädagogik aus“ produziert, in dem namhafte Fachleute zum Thema diskutieren. Nun ist die DVD „Ist weniger mehr? Brauchen wir im Umgang mit unseren Kindern mehr Programme oder mehr Gelassenheit?“ erschienen. In lockerer Atmosphäre am Lagerfeuer werden die oben genannten Tendenzen wiederum von renommierten Fachleuten kritisch hinterfragt und bedeutsame Aspekte der pädagogischen Haltung, der Praxis und der Ausbildung im Hinblick auf eine förderliche Begleitung kindlicher Selbstbildung behandelt.

Mitwirkende

Die Moderation des Gesprächs hat Detlef Diskowski, Erziehungswissenschaftler mit langjähriger Erfahrung in pädagogischer Praxis, Fachberatung und Weiterbildung. Er diskutiert mit folgenden Fachleuten:

  • Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff lehrt Psychologie an der Evangelischen Hochschule Freiburg, forscht und publiziert zum Thema kindliche Bildung;
  • Prof. Dr. Gerald Hüther ist einer der bekanntesten Hirnforscher im deutschsprachigen Raum;
  • Dr. Christa Preissing ist neben Jürgen Zimmer die profilierteste Vertreterin des Situationsansatzes und Vizepräsidentin der Internationalen Akademie Berlin für innovative Pädagogik, Psychologie und Ökonomie (INA);
  • Herbert Vogt schließlich ist leitender Redakteur der Zeitschrift Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (TPS).

Aufbau und Inhalt

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde der Diskutanten folgen sieben weitere Kapitel, deren Überschriften zentrale Aussagen des Gesprächs wiedergeben:

1. Programme vs. Gelassenheit ist keine Alternative. Zunächst pointiert Vogt, dass es nicht um Programme oder Gelassenheit gehe, sondern um die Nutzung von Programmen mit Gelassenheit. Preissing, beteiligt an den Bildungsplänen des Saarlands, Hamburgs und Berlins, betont ausgehend vom Projekt „Qualität im Situationsansatz“ die Komplexität der pädagogischen Praxis. Und Fröhlich-Gildhoff bringt die Studie „Schlüssel zu guter Bildung, Erziehung und Betreuung“ von Viernickel et al. ins Gespräch, die drei unterscheidbare Umgangsweisen mit den Herausforderungen durch Bildungspläne und Förderprogramme verdeutlicht: Weitermachen wie bisher, Überanpassung inklusive wachsenden Drucks und Unzufriedenheit, aber auch eine „wertekern-basierte“ Reflexion und Integration passender Programme in die Praxis.

2. Wertekern-basiert meint eigentlich Haltungen. Hier macht vor allem Hüther klar, dass eine wertekern-basierte Pädagogik entscheidend auf einer Haltung gründet, die das Kind nicht objektiviert, sondern intersubjektive Beziehungen pflegt, in der Kinder sich gesehen und verstanden fühlen können. Die Förderprogramme überdeckten häufig wesentliche kindliche Entwicklungsthemen. Mit unterschiedlichen Akzentuierungen pflichten Preissing, Fröhlich-Gildhoff und Vogt bei, dass die Fähigkeit zur Selbst- und Praxisreflexion ein wesentliches Merkmal einer solchen Haltung bilde, aber in Ausbildung und Praxis meist nur unzureichend möglich sei.

3. Helfen wir den Fachkräften, den Wertekern zu entwickeln? Ausgehend von der Vorstellung, dass Selbstbildung mehr ist als bloße Wissensaneignung, sondern erlebensnahes, bedürfnisorientiertes Entdecken und Gestalten der Welt, arbeiten die Diskutanten heraus, dass der Druck in der pädagogischen Praxis durch Eltern, Schule, Förderprogramme und Bildungspläne wachse, während die eingeforderten Reflexionsräume dadurch immer enger würden.

4. Wie können wir biografische Fallen vermeiden? In diesem Kapitel dreht sich das Gespräch anhand des Praxisbeispiels einer Essenssituation u.a. um die Frage, ob die zu engen Reflexionsräume in Weiterbildung und Praxis dazu führten, dass einerseits durch den alltäglichen Druck, andererseits durch unreflektierte biografische Vorerfahrungen der Pädagog*innen auch die Selbstbildungspotenziale der Kinder unnötig eingeschränkt würden.

5. Reichen 10 Gebote als Kern oder braucht es eine hochkomplexe Pädagogik? Diskowski leitet dieses Kapitel mit der Frage ein, ob Bildungspläne und Förderprogramme nicht eher „eingedampft“ werden sollten, etwa auf 10 leitende Gebote. Fröhlich-Gildhoff weist darauf hin, dass derzeit eher wieder die Beziehungsarbeit in den Fokus gerückt werde, während Hüther abermals verdeutlicht, dass Lernprozesse vor allem durch Angst blockiert würden und dass Lust am intrinsischen Entdecken und Gestalten besonders jenen Kinder gelänge, die sich gesehen fühlen. Vogt ergänzt diesen Aspekt mit dem Hinweis darauf, dass Förderprogramme die Botschaft „Du genügst nicht“ an die Kinder senden könnten.

6. Wie können wir die Handlungskompetenzen erhöhen und Irritationen vermeiden? Nachdem Fröhlich-Gildhoff sogenannte „Altmeister“ wie Adler und Rogers als Bezugsgrößen für eine pädagogische Handlungsorientierung ins Gespräch gebracht hat, benennt Preissing u.a. das Bild vom Kind, das professionelle Selbstverständnis sowie die Förderung eines positiven Selbstkonzepts und solidarischer Fähigkeiten der Kinder als handlungsleitende Kompetenzen.

7. Es wird schwierig, wenn man nicht genau weiß, wohin man will. Zum Ende des Gesprächs konstatiert Diskowski, dass besonders an Fachschulen Selbstreflexionsräume für angehende Pädagog*innen fehlen. Für die Fachhochschule formuliert Fröhlich-Gildhoff die Haltung, dass er solche Räume nicht öffne, weil er zugleich als Professor die Studierenden bewerten müsse. Hüther erwidert, dass die Studierenden doch ein Recht auf Rückmeldungen hätten, dass es auch hier darum gehen müsse, die Studierenden nicht objektivierend einzuteilen, sondern im Dienste ihrer hochschulischen Bildung zu sehen. Preissing formuliert schließlich die schöne Frage: „Wie kommt man sich selbst auf die Spur?“

Diskussion

Es dürfte für die meisten Rezipient*innen dieser DVD ebenso angenehm wie entlastend sein, dass die im Gespräch versammelten, renommierten Fachleute nicht von oben herab vermeintliche Gewissheiten verkünden, sondern fragend um Antworten zu einem Thema ringen, das ihnen offenbar sehr am Herzen liegt. Besonders hervorzuheben ist dabei das Gespür dafür, dass Bildungspläne und Förderpläne potenziell Druck und Widerstand erzeugen, dass daraus die Einschränkung der Selbstbildungsmöglichkeiten der Kinder folgen kann, und dass es gesicherte Räume und Zeiten für Beziehungs- und Selbstreflexion der Pädagog*innen an Fachschulen, Hochschulen sowie in der Aus- und Weiterbildung geben sollte.

Trotz vieler hilfreicher Überlegungen hat die DVD freilich auch Grenzen. So bleibt über weite Strecken die Differenzierung zwischen Bildungsplänen und Förderprogrammen sowie zwischen einzelnen Bildungsplänen und zwischen einzelnen Förderprogrammen unklar. Die von Preissing mitentwickelten, am Situationsansatz orientierten Bildungspläne des Saarlands, Berlins und Hamburgs unterscheiden sich doch deutlich von den Bildungsplänen Hessens und Bayerns, die unter der Federführung von Fthenakis konstruktivistisch einzelne Kompetenzbereiche schulen wollen, während der offene Bildungsplan Nordrhein-Westfalens, maßgeblich von Schäfer formuliert, entwicklungspsychologische und neurobiologische Erkenntnisse integriert und somit die Bedeutung von sinnlicher Bildung sowie den Zusammenhang von Selbstbildung und Verständigung betont. Auch Förderprogramme unterscheiden sich mitunter heftig. Manche setzen explizit an Erkenntnissen der Entwicklungsforschung und somit an kindlichen Themen und Bedürfnissen an, etwa Faustlos oder BASE, andere wollen schlicht gesonderte Kompetenzen fördern, ob nun soziale, sprachliche oder naturwissenschaftliche. Doch für letztere hat Wolfgang Bergmann schon vor Jahren formuliert: „Die Bindungsforschung weiß, dass wenig feinfühlige Mütter sich so verhalten, wie Pädagogen in Förderkonzepten: Alles ist hier gelenkt und insgeheim kontrolliert“ (2008, S.12).

Etwas überraschend ist überdies, dass es der Hirnforscher Hüther ist, der immer wieder auf die innere Dynamik von Angst und Freude bei kindlichen Selbstbildungsprozessen hinweisen muss. Joachim Bauer bringt dies auf den Punkt: „Was die Motivationssysteme des menschlichen Gehirns aktiviert, ist die Beachtung, das Interesse, die Zuwendung und die Sympathie anderer Menschen, was sie inaktiviert, ist soziale Ausgrenzung und Isolation“ (2009, S.197). Pädagog*innen sollten nun aber diese wichtigen Erkenntnisse nicht einfach hinnehmen, sondern als neuerliche Bestätigung der pädagogischen Überzeugung betrachten, dass belastende Beziehungserfahrungen Bildungsprozesse durch Angst und Entwertung beeinträchtigen, umgekehrt aber nachholende und korrigierende Beziehungserfahrungen weitere Selbstbildungspotenziale zur Entfaltung bringen lassen können. Dazu braucht es aber eine begründete Vorstellung darüber, wie mehr oder minder ängstigende oder glückliche Interaktionserfahrungen psychodynamisch verinnerlicht und verarbeitet werden und somit mehr oder minder gelingende Selbstbildung ermöglichen. Schäfer hat mit dem besagten Zusammenhang von Selbstbildung und Verständigung einen fruchtbaren Beitrag geleistet. Wenn dagegen nur anzueignende Kompetenzen und kindliches Verhalten im Vordergrund stehen, müssen all die darin nicht integrierten Bedürfnisse, Gefühle, Fantasien und Selbstanteile dem Kind bedrohlich erscheinen, „was es vor die Wahl stellt, solche bedrohlichen Selbstanteile abzuwehren oder auf eine gute Beziehung, im welcher sich das Kind vorwiegend geliebt erleben kann, zu verzichten“ (Figdor 2006, S.109).

Zwei weitere Kritikpunkte können zum Schluss dieser Rezension nur erwähnt und nicht vertieft werden. Erstens ist es dringend erforderlich, neben einer versierten, auch unbewusste und affektive Dimensionen berücksichtigenden Supervision in der pädagogischen Praxis, einen gesicherten Rahmen für Selbstreflexion in der Aus- und Weiterbildung für Pädagog*innen bereitzustellen, damit sie eben nicht ihre eigenen unbewältigten und in der Praxis aktualisierten Themen in pädagogischen Beziehungen ausagieren. Zweitens scheint es gerade pädagogisch geboten, die zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft und mithin auch pädagogischer Institutionen kritisch zu hinterfragen und zu bekämpfen, da eben diese Ökonomisierung maßgeblich zur Verengung von Raum, Zeit, Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit in pädagogischen Beziehungen beiträgt – einer Verengung, die zurecht auch in der hier besprochenen DVD beklagt wird.

Fazit

Eingedenk der hier formulierten Kritik sei aber auch bemerkt, dass eine gut einstündige DVD nicht alle Facetten eines solch komplexen Themas erschöpfend behandeln kann. Der Film ist unbedingt für den Einsatz an Fachschulen und Hochschulen sowie in der Aus-, Fort- und Weiterbildung zu empfehlen. Er lädt ein zum gemeinsamen Nachdenken und Nachfühlen über pädagogische Theorie und Praxis im Hier und Jetzt.

  • Bergmann, Wolfgang (2008): Wider den Förderwahn. Frankfurter Rundschau 132
  • Bauer, Joachim (2009): Spiegelung: Der Kern der pädagogischen Beziehung. In: Haubl, Rolf et al. (Hg.): Riskante Kindheit. Psychoanalyse und Bildungsprozesse. Göttingen
  • Figdor, Helmuth (2006): Psychoanalytische Pädagogik und Kindergarten: Die Arbeit mit der ganzen Gruppe. In: Steinhardt, Kornelia et al. (Hg.): Kinder zwischen drei und sechs. Bildungsprozesse und Psychoanalytische Pädagogik im Vorschulalter. Gießen

Rezension von
Prof. Dr. Thilo Naumann
Lehrt Pädagogik am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesellschaftswissenschaften der Hochschule Darmstadt, Gruppenanalytiker
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Es gibt 5 Rezensionen von Thilo Naumann.

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ISSN 2190-9245