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Diana Franke-Meyer, Jürgen Reyer: Klassiker der Pädagogik der frühen Kindheit

Rezensiert von Prof. Dr. Christiane Vetter, 19.11.2015

Cover Diana Franke-Meyer, Jürgen Reyer: Klassiker der Pädagogik der frühen Kindheit ISBN 978-3-7799-3302-1

Diana Franke-Meyer, Jürgen Reyer: Klassiker der Pädagogik der frühen Kindheit. Ideengeber und Vorläufer des Kindergartens. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2015. 287 Seiten. ISBN 978-3-7799-3302-1. 24,95 EUR.

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Autorin und Autor

Diana Franke-Meyer lehrt Elementarpädagogik an der Evangelischen Fachhochschule in Bochum. Sie vertritt den Schwerpunkt „Geschichte der öffentlichen Kleinkindererziehung“.

Jürgen Reyer lehrte an der Universität Erfurt und forschte für „Pädagogik der frühen Kindheit und Sozialpädagogik“ vor allem im Bereich der Professionsentwicklung.

Aufbau und Zielsetzung

Das Buch ist in drei größere Abschnitte I-III untergliedert.

Nach der Einleitung werden Wegbereiter und Wegbereiterinnen bzw. „Klassiker“ vorgestellt, die den familienergänzenden und bildungsrelevanten Auftrag der institutionalisierten Kleinkinderbetreuung praktizierten oder vordachten. Im Anschluss daran diskutieren die Autorin und der Autor die aktuelle Herausforderung, den Bildungsauftrag der Kindertagesbetreuung empirisch nachvollziehbar zu begründen.

Kapitel I, die Einleitung, ordnet dieses Buch in die sogenannte Klassikerdebatte ein. Für eine „Pädagogik der frühen Kindheit“, so die Autorin und der Autor, sei die Beschäftigung mit klassischen Werken essenzielle Voraussetzung zur Stiftung des kollektiven historischen Gedächtnisses. Im Spiegel ausgesuchter Personen wollen Diana Franke-Meyer und Jürgen Reyer ideen-, problem- und sozialgeschichtliche Kontexte der institutionalisierten Früherziehung sichtbar machen (S. 12). Wissenschaftlich betrachtet bieten „Klassiker“ den Autoren zufolge die Möglichkeit, den Gegenstand des Fachgebietes aufzugreifen und den Konstruktions- und Kanonisierungsprozess derer, die das Fachgebiet prägten, transparent werden zu lassen (vgl. S. 7).

Kapitel II, der Hauptteil des Buches, „KlassikerInnen und WegbereiterInnen“, portraitiert Personen, die seit dem 16. Jahrhundert frühkindliche Bildung praktisch und theoretisch voranbrachten. Die Renaissance, die Aufklärung und die Sozialreformen des 19. Jahrhunderts bilden den ideengeschichtlichen Hintergrund ab. Der Philanthropismus, die evangelische Kleinkinderschul- und die Fröbelbewegung werden als konzeptionelle Rahmung vorgestellt. Das Buch bietet Personen und kurze biografische Informationen, die mit zeitgeschichtlichen Hintergründen versehen werden. Darüber hinaus nennen die Autorin und der Autor des Buches ihre zentralen Werke und Quellenangaben. Ihre Gedanken über Frühpädagogik, Kindheit, Familie und Schule werden mithilfe von Originalzitaten hervorgehoben.

Kapitel III, ein knapper Abschlussteil zur „Geschichte und Gegenwart“, rundet das Buch ab. Hier zeigen Diana Franke-Meyer und Jürgen Reyer ihr argumentatives Interesse, den Bildungsgedanken zu betonen. Vom Schluss her wird ihre Auswahl von Wegbereiterinnen und -bereitern verständlich.

Inhalt

Johann Amos Comenius (1592-1670) entwickelte 1658 die erste systematisch angelegte Allgemeine Pädagogik (orbis sensualium pictus = sichtbare Welt). Der tschechische, pietistische Christ Comenius wollte bereits während des Dreißigjährigen Kriegs „alle Menschen alles lehren“ (S. 19). Er würdigte das Kinderspiel als Lernmöglichkeit und glaubte an die Fähigkeit des Kindes, die Welt zu verstehen. Diese, so seine Vorstellung, sei von Gott geschaffen und folge deshalb einer göttlichen Ordnung. Durch Erziehung und Bildung müssten die göttliche Weisheit, Sittlichkeit und Heiligkeit in der Familie und Schule vermittelt werden.

Jean Jacques Rousseau (1712-1778) schrieb zu Beginn des 18. Jahrhunderts seinen Erziehungsroman „Emile oder Über die Erziehung“. Damit ermöglichte er den Blick auf eine Pädagogik vom Kinde aus. Seine zentrale Bildungsidee von der selbsttätigen Aneignung, mit der das Kind aufgrund seiner Neugier die Welt entdecken will, ordnete Bildung in die humanistische Bildungsidee der Aufklärer ein.

Nach dieser Darstellung folgt eine Einführung in die Gedankenwelt der Philanthropen, die von Landesfürsten beauftragt worden waren, Schule zu entwickeln.

Der Philanthropismus – bürgerliche Erziehungsreform zwischen 1770 und 1800: Den Philanthropen lag daran, Menschen zu befähigen, ihre Lebensaufgabe zu erkennen und zufrieden auszuüben (vgl. S. 40). Sie knüpften zwar, so Diana Franke-Meyer und Jürgen Reyer, an Rousseau an, betonten aber auch bürgerlich gesellschaftliche Tugenden, die beim Haus- und Schulunterricht vermittelt werden sollten. Schließlich mussten die Menschen im 18. Jahrhundert zunehmend selbst für ihren Unterhalt sorgen (vgl. S. 39). „Die allgemeine Fertigkeit des Geistes und der Hand zielte nicht mehr auf das in langen Traditionen ausgebildete in spezifischen Rollen gebundene Können in bäuerlichen und handwerklichen Tätigkeitsfeldern, sondern auf die flexible Erwerbsexistenz der quantitativ immer stärker werdenden Gruppen derer, die in diesen Feldern kaum noch eine tragfähige Existenz finden konnten“ (S. 39).

Heinrich Campe (1746-1818) hatte als Hauslehrer die Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt unterrichtet. In seiner Zeit war er zudem als philanthropisch- pädagogischer Schriftsteller bekannt und auch als Leiter einer Schule. Der liberale Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg beauftragte Campe 1785 mit der Konzeption philanthropischer Erziehungsgrundsätze. Campe fokussierte die Bedeutung der anschauenden, d. h. durch die sinnliche Wahrnehmung des Kindes ermöglichte, Aneignung von Wissen. Lebenszufriedenheit stelle sich durch die selbsttätig handelnde Erfahrung des Kindes ein, darüber hinaus beim Selbststillen der Mütter und durch das pädagogisch angeleitete Spiel (vgl. S. 47). Campe kämpfte sowohl für die Abschaffung des Ammenwesens als auch gegen die von den Kirchen geforderte Haltung, dass Schule die göttliche Ordnung vermitteln solle sowie gegen die Vorstellung, dass das Spiel nur Müßiggang sei.

Christian Hinrich Wolke (1741-1825) gründete in Dessau mit Johann Bernhard Basedow das Philanthropinum, eine neue Ausbildungsstätte für Pädagogen, die er bis 1784 mit prägte. Wolke hatte schon vor Fröbel den Plan, eine Bildungsanstalt vor der Schule zu entwerfen. Allen Kindern und Müttern sollte eine allgemeine Bildung in den ersten Jahren der frühen Kindheit vermittelt werden. „Anders allerdings als Fröbels Kindergartenidee ist Wolkes Plan nicht umgesetzt worden“ (S. 55).

Friedrich Heinrich Christian Schwarz (1766-1837) gründete 1809 an der Universität Heidelberg das „Pädagogisch-Philosophische Seminar“. Schwarz verfasste eine enzyklopädische Darstellung des damaligen Schulsystems. „Wie die Philanthropen, denen er in vielen Punkten nahesteht, sieht er in den frühesten Kinderjahren nicht nur physische Betreuungsnotwendigkeit, sondern eine Einheit von physischer, geistiger und sittlicher Bildungsbedürftigkeit und -möglichkeit“ (S. 67). Diana Franke-Meyer und Jürgen Reyer finden bei ihm detaillierte Begründungen zu Bewahranstalten und Kleinkinderschulen, die – ganz im Sinne von Schwarz – in das allgemeinbildende Schulwesen überführt werden könnten (vgl. S. 71).

Johann Georg Wirth (1807-1851) leitete als Lehrer in Augsburg eine Kleinkinderbewahranstalt. Seine umfangreiche schriftstellerische Tätigkeit konzentrierte sich auf die Darstellung der Aufgaben und Methoden der Bewahreinrichtungen. 1838 schrieb er über Kleinkinderbewahranstalten als schulvorbereitende Institutionen (vgl. S. 78). Wie Fröbel betrachtete auch Wirth die Mutter als wichtigste Person während der frühen Kindheit. Bewahreinrichtungen sollten die Sinnes-, Verstandes-, Sprach-, Gedächtnis-, Zahl-, Farb- und Zeichenübungen methodisch geleitet durchführen. Wirth stellte Kinderspiele zusammen und erarbeitete Anleitungen zu Flecht- und Faltarbeiten. Im Revolutionsjahr 1848 hielt er Bewahranstalten zudem für eine geeignete Form der Armenfürsorge.

Die evangelische Kleinkinderschulbewegung: Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren zahlreiche Kleinkinderbewahranstalten entstanden, die häufig von Frauenvereinen oder christlichen Wohltätigkeitsvereinen gegründet worden waren. Darüber hinaus bildeten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts drei Trägerverbände heraus: 1871 wurde der evangelische „Oberlin-Verein“, 1873 der „Deutsche Fröbelverband“ und 1916 der „Verband der katholischen Kleinkinderanstalten Deutschlands“ gegründet. Die Dachverbände publizierten in eigenen Zeitschriften. Seit 1860 existierte die Zeitschrift „Kinder-Garten und Elementar-Klasse“ des Fröbelverbandes. 1870 wurde die evangelische Monatsschrift „Die christliche Kleinkinderschule“ gegründet. Sie ist die Vorgängerschrift der „Theorie und Praxis der Sozialpädagogik“ (TPS). 1918 erschien erstmals das katholische Pendant „Kinderheim“, die heutige „Welt des Kindes“ (vgl. S. 90). Theodor Fliedner zählt neben Friedrich Fröbel zu den bedeutenden Gründerpersönlichkeiten.

Aufgrund des Pauperismus verstärkte sich im 19. Jahrhundert die Erwerbstätigkeit der Frauen und die Betreuungssituation der kleinen Kinder verschlechterte sich. In den evangelischen und katholischen Kleinkinderschulen wurden zunächst nur Kinder aufgenommen, deren Mütter nachweislich einer Erwerbsarbeit nachgehen mussten. Öffentliche Kinderbetreuung wurde, anders als von Fröbel wahrgenommen, als Nothilfe aufgefasst. Konfessionelle Bewahranstalten waren vor allem daran interessiert, lebendiges Christsein zu praktizieren, in einigen Einrichtungen wurde sogar Judenmission betrieben (vgl. S. 94).

Johann Friedrich Oberlin (1740-1826) war Mitglied der Herrenhuter Brüdergemeinde und Pfarrer der Steintaler Gemeinde in den Vogesen. Dort regte er eine Kleinkinder- und Strickschule an. Er investierte in die Handwerkerausbildung und förderte das Gesundheitswesen. Wie schon für Pestalozzi, Rousseau und Basedow war seiner Meinung nach frühkindliche Bildung die beste Armenfürsorge. Die Industrieschulbewegung des 18. Jahrhunderts hatte die Erziehung zu Fleiß und Arbeitsfreude ins Zentrum gerückt. An Oberlins Schule lernten die Kinder im Alter von vier bis sieben Jahren das Lesen, Schreiben und Rechnen. An vier Tagen der Woche erhielten sie darüber hinaus Gesangsunterricht und lernten biblische Geschichten und Naturkunde kennen.

Julie Regine Jolberg (1800-1870) war mit dem württembergischen Pietismus und der badischen Erweckungsbewegung in Berührung gekommen. Fortan wollte sie ihre Kinder, die zu Halbwaisen geworden waren, und andere für den „Dienst am Herrn“ heranbilden. In Leutesheim bei Straßburg gründete sie eine Strickschule, und als „Mutter Jolberg“ bildete sie Kinderpflegerinnen aus. Als die 1848er-Revolution ihre Schwesterngemeinschaft bedrohte, begriff sie das Geschehen als neue Wegweisung Gottes. 1851 gründete sie eine neue diakonische Gemeinschaft und Fachschule für Kinderpflegerinnen in der Nähe von Lahr (vgl. S. 109). Julie Jolberg reiste viel, um die christliche Kinderpflege zu verbreiten. Sie bildete mehr als 700 Frauen zu Kinderpflegerinnen aus. „Von den 323 von ihr gegründeten Kinderpflegeeinrichtungen bestehen in ihrem Todesjahr noch 256“ (S. 11).

Theodor Fliedner (1800-1864) war ab 1822 evangelischer Pfarrer in Kaiserswerth. Fliedners Interesse an sozialen Institutionen zur Armen-, Kranken-, Gefangenen- und Kinderfürsorge ließ ihn zunächst 1826 die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft gründen. 1835 regte er die Gründung einer Kleinkinderschule für Kinder ab dem 2. Lebensjahr an. Hinzu kam 1836 die Gründung der Diakonissenausbildung, bei der Fliedner von seiner Ehefrau unterstützt wurde. Darüber hinaus gründete er eine Strickschule für Kinder aller Konfessionen sowie ein Seminar zur Ausbildung von Kleinkinderlehrerinnen und eines für Volkschullehrerinnen. Für Fröbels Spielpädagogik hatte er nur Spott übrig und grenzte sich von ihm ab, weil seiner Ansicht nach der christliche Rettungsgedanke fehle. „Theodor Fliedner hat keine Gesamtdarstellung seiner frühpädagogischen Denkansätze vorgelegt. Genau wie Johann Friedrich Oberlin liegt sein frühpädagogisches Engagement eher auf einem praktischen Gebiet“ (S. 133), resümieren Franke-Meyer und Reyer.

Johann Friedrich Ranke (1821-1892) war ab 1841 für achtundzwanzig Jahre enger Mitarbeiter von Theodor Fliedner. Als Leiter des Kaiserswerther Kleinkinderseminars verschaffte er sich in der damaligen Zeit Bekanntheit. Ranke fand das Spielen der Kinder sehr wichtig, weshalb Kinder in der Kleinkinderschule Zeit für das Spielen erhielten. Er beschäftigte sich auch mit Raumgestaltung. Nachdem Fliedner 1864 verstarb gründete er bei Bielefeld ein Rettungshaus. Während des Kaiserreichs wurde er Direktor einer Kleinkinderschule und eines Ausbildungsseminars am Oberlinhaus.

Adolph Freiherr von Bissing-Beerberg (1800-1880) besuchte als Kind eine Lehr- und Erziehungsanstalt im schweizerischen Dorf Hofwil. 1826 studierte der gebürtige Schlesier in Göttingen Jura. 1830 reiste er nach England, um Diplomat zu werden. Nach seiner Hochzeit 1832 lebte er einige Jahre in Russland, bevor er das elterliche Gut in Beerberg übernahm. Er war auch Landtagsabgeordneter und Johanniterritter. Kurz vor dem Tod seiner Tochter Olga versprach er ihr, eine Kleinkinderschule in Beerberg zu gründen. 1865 weihte er die „Olgaschule“ ein. Ein Jahr später kamen eine Strick- und Nähschule sowie eine Flick- und Sonntagsschule hinzu. 1870 initiierte er die Monatszeitschrift „Die christliche Kleinkinderschule“. 1871 gründete er den Oberlinverein. Dieser eröffnete 1874 in Babelsberg bei Potsdam das Oberlinhaus, zu dessen Direktor Johann Friedrich Ranke berufen wurde. Ganz im Sinne der Inneren Mission wollte der Freiherr eine Wohltätigkeits- und Erziehungsanstalt auf christlicher Grundlage für höhere Stände ermöglichen (vgl. S. 166). Der Staat sollte sich aus dem Geist der privaten Liebestätigkeit heraushalten und sich nicht in die inneren Angelegenheiten der christlichen Kleinkinderschulen einmischen (vgl. S. 171).

Johannes Fölsing (1816-1882) wurde 1844 Lehrer an der Darmstädter Garnisonsschule und unterrichtete bis 1870 Kinder von Angehörigen des Militärs. Er publizierte im Bereich der öffentlichen Kleinkindererziehung und war in seiner Zeit ein bekannter Frühpädagoge. 1842 wurde er Mitglied im Darmstädter Trägerverein für die „Kleinkinderschule für höhere Stände“. Fölsing lernte Friedrich Fröbel kennen und stellte Ida Seele, die erste von Fröbel ausgebildete Schülerin, als Spielführerin ein. Immer deutlicher wurde seine Kritik an Fröbels sphärischer Erziehungsidee. Auch Fliedners Kleinkindunterricht erschien ihm nicht angemessen. „Zuviel Unterricht, zu wenig Spiel“, befand er (S. 181). 1846 gründete er ein Ausbildungsinstitut für Kleinkinderlehrerinnen. Diese sollten bei der Vorbereitung auf den Schulbesuch mitwirken. Die Kleinkinder wurden altershomogen eingeteilt, um den Vorübungen im Rechnen, im Gedächtnistraining und in Lese- und Schreibübungen gerecht zu werden. Darüber hinaus sah er vor, dass genügend Zeit zur Bewegung, zum Singen und zum Spiel sei. Die Schule könne dann an diese pädagogische Vorarbeit anknüpfen, so sein Credo.

Fröbelbewegung:Nach Fröbels Tod setzte, von Thüringen ausgehend, eine regelrechte Kindergartenbewegung ein. Die Lehrer und bürgerlichen Frauen begrüßten den Kindergarten. Diana Franke-Meyer und Jürgen Reyer machen in ihrem Buchtitel darauf aufmerksam, dass die Vereinsarbeit ein zentrales Medium zur Verbreitung des Kindergartens war. 1859 fand die Gothaer Versammlung für Freunde der Fröbelschen Grundsätze statt. 1860 wurde im Kontext dieser jährlichen Treffen die Zeitschrift „Kinder-Garten und Elementar-Klasse“ gegründet. 1863 gründete sich der „Deutsche Fröbelverein“ in Thüringen. 1866 nannte sich der Verein „Allgemeiner Fröbelverein“. In Berlin, Dresden, Leipzig und Hamburg entstanden weitere Kindergärten. Zur Unterstützung der Regionalvereine, wurde 1873 in Nordhausen der „Deutsche Fröbelverband“ gegründet. Die Zeitschrift „Kinder-Garten, Bewahr-Anstalt und Elementar-Klasse“ war jetzt das wichtigste Medium. Die „Fröbelianer“ wollten einerseits die Verbindung zur Schule stärken, andererseits kämpften sie um Fröbels Erbe. Als das Kindergartenverbot 1859 aufgehoben war, hatte Bertha von Marenholtz-Bülow mit Lina Morgenstern und Adolf Lette in Berlin einen „Frauenverein zur Beförderung Fröbelscher Kindergärten“ gegründet. Diese Vereinigung gründete drei Kindergärten und mit Ida Seele lag die Leitung einer Einrichtung in bewährten Händen.
Bertha von Marenholtz-Bülow beanspruchte für sich, Erbin Fröbels zu sein. Der sozialfürsorgerische Auftrag des Kindergartens liege vor allem bei der Unterstützung der Familie. Weil sie im Verein kaum Zustimmung fand, gründete sie 1863 den „Verein für Familien und Volkserziehung“, der nun Volkskindergärten für die Arbeiterkinder gründete. 1864 übernahm dieser Verein auch Trägerverantwortung für eine Ausbildungsstätte für Kindergärtnerinnen. 1874 schlossen sich der „Verein für Familien und Volkserziehung“ und der „Frauenverein zur Beförderung Fröbelscher Kindergärten“ zusammen.

Friedrich Fröbel (1782-1852) hatte den Kindergarten 1840 gegründet. Die Autorin und der Autor des Buches referieren seine wichtigsten Lebensstationen und verweisen darauf, wie wichtig ihm die Verbindung zu den Lehrern war. Sie sollten seine Idee mit verbreiten. Das Kindergartenverbot wird in der Auseinandersetzung mit der 1848er-Revolution gesehen. Preußen kontrollierte regimekritische Umtriebe. Eine freie religiöse Gemeinde in Nordhausen wollte einen Kindergarten gründen. Die Lichtfreunde waren der Regierung bereits aufgefallen (vgl. S. 203). Das ministerielle Rundschreiben zur Aufhebung des Verbotes 1860 bezog sich ausdrücklich auf die damals unterstellte sozialpolitisch religiöse Gemeindegefährlichkeit, die den Lichtfreunden in Nordhausen unterstellt worden war (vgl. S. 204). Fröbel wollte vor allem die Familie stärken und Mütter darin bestätigen, dass ihre Aufgabe der Kinderpflege gesellschaftsbildend relevant sei.

August Köhler (1821-1879) arbeitete 1846 als Lehrer in der philanthropischen Erziehungsanstalt in Schnepfenthal, die von Christian Gotthilf Salzmann gegründet worden war. Ab 1848 unterrichtete er privat und an der Gothaer Bürgerschule. 1851 gründete er in Gotha eine eigene Elementarschule, einen Kindergarten, eine höhere Töchterschule sowie ein Kindergärtnerinnen- und Lehrerseminar. Er war Mitherausgeber der Verbandszeitschrift. Seine Begeisterung für Fröbel fußt auf einer persönlichen Begegnung mit ihm 1852, aber vor allem darauf, dass seine Kinder einen Kindergarten besuchten. Köhler wollte die organische Verbindung der Familie, des Kindergartens und der Schule voranbringen (vgl. S. 217).

Bertha von Marenholtz-Bülow (1810-1893) lernte Fröbel 1849 bei einem Kuraufenthalt in Bad Liebenstein kennen. Sie warb für ihre Idee eines Volkskindergartens in England, Frankreich und Belgien auch in Deutschland. Hier wurde der erste 1861 in Berlin gegründet (vgl. S. 229). 1871 wirkte Bertha von Marenholtz-Bülow von Dresden aus, denn ihr aristokratischer Habitus und ihr Sendungsbewusstsein störte andere. 1871 gründete sie den „Allgemeinen Erziehungsverein“ und eine eigene Zeitschrift „Die Erziehung der Gegenwart“. 1872 startete sie die „Dresdner Fröbelstiftung“, die sie leitete. Sie schaffte, es Schülerinnen aus Deutschland, Bulgarien, Russland, Finnland und Amerika zu gewinnen und in den Einrichtungen der Stiftung anzustellen. Die Idee des Kindergartens verbreitete sich wie ein Lauffeuer, auch wenn sie Fröbel eigenmächtig interpretierte, worauf im Buch eingegangen wird (vgl. S. 232).

Henriette Schrader-Breymann (1827-1899), eine Großnichte Fröbels, hatte 1848 die Kindergärtnerinnenausbildung absolviert. Auch ihre biografischen Daten werden im Buch zusammengetragen. 1856 hatte Bertha von Marenholtz-Bülow Kontakt zu ihr aufgenommen. Nach anfänglichen Gemeinsamkeiten zeigten sich bald starke Unterschiede in der Vorstellung dessen, was Kindergartenpädagogik sei. Schrader-Breymann wollte ab 1874 im Pestalozzi-Fröbel-Haus (PFH) in Berlin mütterliche Erzieherinnen ausbilden. Das PFH bestand 1893 aus einem Volkskindergarten, einer schulvorbereitenden Vermittlungsklasse, der Arbeitsschule für Mädchen und Jungen, einer Elementarschule und einem Kindergärtnerinnen- und Lehrerinnenseminar. Schrader-Breymann vertrat das Familienprinzip, forderte die ständeübergreifende Kindergruppe, mehr Personal für die Arbeit mit den Kindern und einen Garten für Kinder und deren Freispiel (vgl. S. 246). Sie führte den Monatsgegenstand ein, der Kinder anregen sollte, ihre natürliche Umwelt kennenzulernen.

Maria Montessori (1870-1952) prägte die Institution. Diana Franke-Meyer und Jürgen Reyer heben ihre Verdienste für die Erziehung zur Selbsttätigkeit und die Arbeitsmaterialien hervor, die als methodisch geeignet gelten, Kinder in ihrer Entwicklung zu fördern und ihnen Bildungschancen einzuräumen. Ab 1909 begann sie mit Vortragsreisen und Ausbildungskursen in ihrer Methode. Montessori glaubte an Entwicklungsmöglichkeiten in bestimmten Entwicklungsphasen. Diese „sensiblen Perioden“ und die Erwiderung des Interesses durch die „Polarisation der Aufmerksamkeit“ bei den Fachkräften regen die selbsttätige, intrinsische Motivation des Kindes zur Auseinandersetzung mit der Welt an. Erwachsene bereiten die kindliche Umgebung durch entsprechende Materialien vor, die dem Kind bei der sogenannten Fehlerkontrolle helfen (vgl. S. 255).

Im Schlussteil nennen Diana Franke-Meyer und Jürgen Reyer Absichten, Klassiker und Klassikerinnen für historische Bezüge und Erkenntnisse der Gegenwart zu nutzen. Beim Prozess der Selbstfindung und Konsolidierung einer Pädagogik der frühen Kindheit dürfen sie, so die Autorin und der Autor, nicht fehlen. Über die Beschäftigung mit ihnen erfahren wir, wie die frühkindlichen Institutionen entstanden, welche Konzepte sie prägten und in welchem Verhältnis das Kind, die Familie und die Schule betrachtet wurden. „Klassiker“ verweisen auf sozialhistorische und theoriebildende Entwicklungslinien der institutionalisierten Kleinkinderbetreuung.

Diana Franke-Meyer und Jürgen Reyer halten den Pauperismus für eine zentrale Ursache, weil er die Erwerbsarbeit von Frauen notwendig machte. Eine fehlende Bereitschaft der Regierungen sowie das sozialfürsorgende ordnungspolitische Interesse der evangelischen und katholischen Kleinkinderschulen habe verhindert, dass die Schule und der Kindergarten zusammenwuchsen (vgl. S. 262). Die konfessionellen Träger und der Deutsche Fröbelverband vertraten kein einheitliches, in sich geschlossenes Konzept von Bildung. In der DDR war der Kindergarten Teil des Schulsystems. Seit der Wiedervereinigung regelte auch für diese Länder das Sozialgesetzbuch die Belange der öffentlichen Kinderbetreuung, denen die Länderausführungsgesetze folgen. Das Argument der Familienunterstützung und Schulvorbereitung durchzieht die Geschichte. Diana Franke-Meyer und Jürgen Reyer halten den Bildungsauftrag der Kindertagesbetreuung bis heute nicht für ausreichend differenziert und empirisch nachweisbar belegt. Die sehen im sozialpädagogischen und sozialpolitischen Interessen am Kindergarten und der Zuständigkeit des Sozialministeriums eine strukturelle Einengung. Im System der Wohlfahrtspflege und unter der Schutzherrschaft der Sozialpädagogik werde verhindert, dass sich eine pädagogische Qualität, „die dem internationalen Vergleich standhalten könnte“, aufbauen lasse (S. 267). Die Akteure der jüngsten Kindergartenreformbewegung haben es, so Diana Franke-Meyer und Jürgen Reyer, trotz vielversprechender Vergleichsstudien noch nicht geschafft, Qualitätsstrukturen als verlässlichen Rahmen zu entwickeln, um einen Bildungsmehrwert darzustellen (vgl. S. 271).

Diskussion

Das umfangreiche Werk legt den Fokus auf die frühkindliche Bildung. Klassiker und Klassikerinnen bzw. Wegbereiterinnen und Wegbereiter werden vorgestellt, die in der Fachdebatte bisher kaum Beachtung fanden. Auch vor dem Hintergrund einer rezeptionsgeschichtlichen Interpretation pädagogischer Ideen ist dieses Buch interessant zu lesen. Mich stört allerdings, dass eine kritische Auseinandersetzung mit frühpädagogischen Konzepten und der aktuellen bildungsmarkt- und sozialpolitischen Vereinnahmung unterlaufen wird. DiePädagogik der frühen Kindheit gibt es nicht. Der Kindergarten und die Kleinkinderschule waren noch keine Kindertagesstätten, so wie wir sie heute kennen. Zwischen der Wegbereitung und der Bildung von Klassikern und Klassikerinnen sollte differenziert werden. Eine historische Rekonstruktion sollte meiner Ansicht nach im Interesse von wissenschaftlich unabhängiger und pädagogisch-fachlich motivierter Aufklärung erfolgen. Sie sollte nicht Argument sein, eine so oder so geartete Politik zu forcieren. Schlimm genug, dass die empirische Bildungsforschung genau mit diesem Problem zu tun hat. Historische Studien sollten meiner Ansicht nach auf einer Metaebene Vereinnahmungstendenzen entgegenwirken. Die vielen Beiträge im Buch zeigen, dass der Begriff der Bildung schillert, dass er ein Containerwort ist und informelle genauso wie curriculare Bildung meint. Die Institution war auf familienunterstützende und schulische Belange hin fokussiert.

Fazit

Das Buch ist lesenswert und ein wichtiger Beitrag im Rahmen der historischen frühpädagogischen Forschung. Es bietet wichtige Quellen zum Fachgebiet der Pädagogik der frühen Kindheit.

Rezension von
Prof. Dr. Christiane Vetter
Leiterin der Studienrichtung Soziale Arbeit in der Elementarpädagogik an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart

Es gibt 63 Rezensionen von Christiane Vetter.

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Zitiervorschlag
Christiane Vetter. Rezension vom 19.11.2015 zu: Diana Franke-Meyer, Jürgen Reyer: Klassiker der Pädagogik der frühen Kindheit. Ideengeber und Vorläufer des Kindergartens. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2015. ISBN 978-3-7799-3302-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19726.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.


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