Veronika Hofinger: Die Konstruktion des Rückfalltäters
Rezensiert von Patrick Reitinger, 23.05.2016

Veronika Hofinger: Die Konstruktion des Rückfalltäters. Von Lombroso bis zu den Neurowissenschaften. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2015. 210 Seiten. ISBN 978-3-7799-3335-9. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 51,90 sFr.
Thema
Die Kriminologie versucht seit ihrer Entstehung, das natürliche Wesen des Verbrechers zu fassen. Diese Erkundungstour fokussiert sich bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auf die Figur des ‚Rückfalltäters‘, da er es doch ist, „der durch keine Strafe abgeschreckt oder gebessert wird [und] der unabhängig vom konkreten Verbrechen als Verbrecher bezeichnet werden kann, wo die einzelne Straftat als Ausdruck einer tiefer liegenden Anlage zum Verbrecher begriffen wird.“ (23). Die Autorin zeichnet mit einem historischen Blick die Entwicklungslinien des Rückfalltäterdiskurses vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zu gegenwartsbezogenen Studien und wirft dabei einen vergleichenden Blick auf deutsche und amerikanische kriminologische Forschungen.
Autorin
Veronika Hofinger ist seit 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wiener Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie und seit 2015 als wissenschaftliche Koordinatorin Mitglied des Leitungsteams.
Entstehungshintergrund
Die Dissertationsschrift wurde durch Fördergelder des Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank ermöglicht (Projekt „Neurophysiologische Defizite als Risikofaktor? Kriminelle Karrieretäter des 21. Jahrhunderts“).
Aufbau und Inhalt
Die Dissertation ist in zwei Teile gegliedert.
- Der erste, größere Teil, beschäftigt sich mit der Geschichte des „Rückfalltäters“ und seiner Kriminologie und versucht dabei in einem ersten Teilabschnitt eine deutsche und in einem zweiten Teilabschnitt eine US-amerikanische Entwicklungslinie zu zeichnen.
- Der zweite, wesentlich kleinere Teil nimmt den „Rückfalltäter“ des 21. Jahrhunderts aus der Perspektive aktueller neurobiologischer Erkenntnisse aus der Devianzforschung in den Mittelpunkt.
Die Rekonstruktion des Rückfalldiskurses beginnt im ersten Teil des ersten Kapitels mit der Figur des ‚geborenen Verbrechers‘ bei Cesare Lombroso. Zeitlich eingeordnet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fallen die positivistischen und naturalistischen Annahmen der äußeren Sichtbarkeit und des angeborenen und unheilbaren Hangs zum Verbrechen auf (gesellschaftlich und politisch) fruchtbaren Boden. Durch Experimente und Vermessungen versucht Lombroso, den ‚geborenen Verbrecher‘ zu erkennen, um ihn anschließend von den ‚Normalen‘ und anderen abweichenden Typen trennen zu können. Auch wenn Lombrosos Annahmen schon zu seiner Zeit stark kritisiert wurden und wenig Anschluss fanden, bilden sie doch neben der Strafrechts-Reformbewegung und dem Interesse deutscher Psychiater an kriminologischen Fragen den entscheidenden Ausgangspunkt für die Entstehung der deutschen Kriminologie am Ende des 19. Jahrhunderts (49).
Größere Wirkung als Lombrosos Theorien entfaltete das Konzept ‚der Unverbesserlichen‘ des Strafrechtsprofessors und Reformers Franz von Liszt. Auch er sieht grundsätzlich ein Problem in der Figur des ‚unverbesserlichen Gewohnheitsverbrechers‘; Liszt macht jedoch einen Unterschied zwischen dem ‚geborenen Verbrecher‘ wie bei Lombroso und dem ‚Unverbesserlichen‘, der erst im Laufe seines Lebens zum Verbrecher geworden ist. Damit rücken soziale Faktoren als Ursache für Kriminalität stärker in den Vordergrund.
In einem kurzen Exkurs nimmt Hofinger die Kriminalbiologie der Weimarer Republik und das nationalsozialistische ‚Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung‘ in den Blick. Sie zeigt auf, wie die kriminologischen Überlegungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts politisch aufgegriffen werden und sich in entsprechender Gesetzgebung manifestierten. Hofinger diskutiert, inwiefern eine direkte Linie von Franz von Liszt zu den Gesetzen und Praktiken im ‚Dritten Reich‘ zu ziehen sind (61 ff.)
Der zweite Teil des ersten Kapitels wird durch einen kurzen Überblick über die US-amerikanische kriminologische Forschung des frühen 20. Jahrhunderts eingeleitet. Hier wird zunächst die groß angelegte, quantitative Längsschnittforschung von Sheldon und Eleanor Glueck vorgestellt (69 ff.). Sie stellen in den Mittelpunkt ihrer Studien die Suche nach den Ursachen von deviantem Verhalten und kriminellen Karrieren. Durch die Ermittlung psychologisch-psychiatrischer bzw. psychosozialer Risikofaktoren versuchen sie kriminelles Verhalten vorherzusagen. Im nächsten Schritt wird die Geschichte des ‚Jack-Rollers‘, einer Fallstudie von Clifford R. Shaw, dargestellt. Er legte ganz in der noch jungen Tradition der Chicago School einen starken Fokus auf die sozialen Bedingungen von Kriminalität. Als dritter Ansatz wird das soziologische Erklärungsmodell von Edwin Hardin Sutherland eingeführt, mit dem er in seinem Buch ‚The Professional Thief‘ den ‚professionellen Dieb‘ untersucht.
Im nächsten Schritt rücken kriminologische Diskurse der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Fokus, wobei auch hier wieder amerikanischen Ansätzen stärker ins Gewicht fallen. Es folgen Ausführungen über die kriminelle Karriere im Labeling Ansatz (93 ff.) mit einer Darstellung des ‚Außenseiter‘-Konzepts von Howard S. Becker und den Auswirkungen des Ansatzes im deutschsprachigen Raum. Mit Philadelphias ‚Chronic Offenders‘, dem Criminal Career-Paradigma und dem ‚Life-Course-Persister‘ der klinischen Psychologin Terrie Moffits nähern sich die Ausführungen langsam der kriminologischen Gegenwartsdiskussion. Mit einer Gegenüberstellung und einem Vergleich der genannten Rückfalltäter-Typen schließt Hofinger das erste Kapitel ab.
Die Autorin leitet das zweite Kapitel mit der Feststellung ein, dass auch im 21. Jahrhundert der ‚Rückfalltäter‘ zentraler Forschungsgegenstand der Kriminologie bleibt, der zeitgenössische Diskurs dabei aber von einer „allgegenwärtigen Risikologik, die nicht auf die Kriminologie beschränkt ist, diese aber stark beeinflusst“ geprägt ist (145).
Sie stellt den Begriff der „New Penology“ in Anlehnung an die US-amerikanischen Kriminologen Feeley und Simon dar. Darauf baut eine Verbindung der alten und neuen Kriminalbiologie auf, die am Beispiel der MAOA-Geschichte dargestellt wird. Das Beispiel des MAOA-Gens wurde deshalb gewählt, „weil sich an ihm die Bandbreite genetischer und neurowissenschaftlicher Studien zum Thema Aggressivität und Kriminalität sehr gut beschreiben und einiges an sozialwissenschaftlicher Kritik anbringen lässt“ (154.). Der Großteil des zweiten Kapitels ist geprägt von der Vorstellung der Theorien, Konzepte und Methoden neurobiologischer Devianzforschung.
Mit einer erneuten kurzen Darstellung des kriminologischen Diskurses seit dem Ende des 19. Jahrhunderts schließt Hofinger mit einem kritischen Resümee, das die Defizite der ‚Rückfalltäter‘-Konzepte noch einmal untermauert.
Diskussion
Die Darstellung der einzelnen kriminologischen Ansätze liest sich über weite Strecken als durchgängige Kritik an quantitativen Methoden. Begonnen bei Lombroso bis hin zu zeitgenössischen neurowissenschaftlichen Ansätzen führt Hofinger in der Rezeption der aufgezählten kriminologischen Theorien und Konzepte hauptsächlich Autorinnen und Autoren an, die die Schwächen der Statistik in den Vordergrund stellen und deutlich machen, welche Schwierigkeiten sich aus einem zu stark quantitativen Fokus ergeben können. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass das interpretative Verständnis des wissenssoziologisch-kritischen Ansatzes stärker von einem qualitativen Methodenfokus ausgeht.
Interessant ist sowohl die Gliederung als auch die Schwerpunktsetzung der Monographie. Hofinger verzichtet auf eine große Kapitelanzahl und versucht ihre Ausführungen auf zwei Kapitel zu beschränken. Dabei fällt jedoch auf, dass die dann übermäßig starke Unterteilung in einzelne Teilkapitel den Leser zunehmend vor Herausforderungen stellt, weil durch die kleinteilige Aneinanderreihung von Unterabschnitten der Lesefluss zunehmend erschwert wird. Zudem wird deutlich, dass der Redewendung „wer A sagt, muss auch B sagen“ eher großzügig Gültigkeit eingeräumt wird. Nach Kapitel 1.2.1, 1.5.1 und 2.2.1 folgt kein weiterer Abschnitt, was vielleicht den Eindruck erwecken könnte, an der Stelle würden Ausführungen fehlen.
Der historischen Darstellung einzelner kriminologischer Ansätze wird zudem eine weitaus größere quantitative Aufmerksamkeit geschenkt als dem vielleicht vermuteten Hauptteil in Kapitel 2. Die diskursanalytischen Ausführungen neurobiologischer Erkenntnisse am Beispiel MAOA wirken an manchen Stellen eher als kurzes Abschlusskapitel. Die eingangs angekündigte wissenssoziologische Diskursanalyse nach Keller wird im weiteren Verlauf der Dissertation fast gar nicht mehr aufgegriffen. Eine tiefere Erläuterung, wie genau die Analyse der online Versionen renommierter Journals (vgl. 153) durchgeführt wurde, findet nicht statt.
Eine logische Verknüpfung der theoretischen Perspektive (18-20) und der diskursanalytischen Darstellungen des zweiten Kapitels bleibt oberflächlich. Auch wie der unterschiedliche Umfang der Konzeptdarstellungen im ersten Kapitel gedeutet werden muss, bleibt unklar. Obwohl Sutherland als jener Autor bezeichnet wird, „der soziologische Erklärungsansätze von Kriminalität am meisten verbreitete und populär machte“ (90), bleiben die Ausführungen über ihn im Vergleich zu anderen Ansätzen eher knapp.
Fazit
Veronika Hofinger leistet mit ihrer wissenssoziologisch-historischen Diskursanalyse einen wichtigen Beitrag für die zeitgenössische kriminologische Diskussion. Die kritische Darstellung führt die rechtspolitischen Herausforderungen und Gefahren vor Augen, die sich aus der ungenauen Rezeption vor allem stark quantitativer-kriminologischer Forschung ergeben können. Besonders im Zusammenhang mit neu aufflammenden gesellschaftspolitischen Debatten über Aspekte der öffentlichen Sicherheit und im Zusammenhang mit den möglichen Gefahren des internationalen Terrorismus dürfte die Lektüre der Dissertation gerade auch für politische Entscheidungsträger gewinnbringend und mahnend zugleich sein, weil Hofinger deutlich machen kann, welche Auswirkungen eine unreflektierte Übernahme statistischer Ausführungen für die Gesellschaft und einzelne straffällig gewordene Individuen haben kann.
Die Dissertation lohnt sich vor allem als historisches Überblickswerk. Vielleicht wäre es ausreichend gewesen, wenn sich die Autorin auf diesen geschichtlichen Aspekt beschränkt, die einzelnen Ansätze noch tiefer ausgearbeitet und das Kapitel über den ‚Rückfalltäter‘ des 21. Jahrhunderts logisch in die vorherigen historischen Ausführungen eingegliedert hätte. Trotz dieser Unklarheiten in der Gliederung und Schwerpunktsetzung können historisch, kriminologisch und soziologisch interessierte Leserinnen und Leser für die aktuellen kriminalpolitischen Debatten lohnende Erkenntnisse gewinnen.
Rezension von
Patrick Reitinger
M.A.,
Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften, Professur für Historische Geographie
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