Dima Zito: Überlebensgeschichten. Kindersoldatinnen und -soldaten (...)
Rezensiert von Dipl.-Päd. Julia Bialek, Prof. Dr. phil. habil. Silke Birgitta Gahleitner, 13.09.2016

Dima Zito: Überlebensgeschichten. Kindersoldatinnen und -soldaten als Flüchtlinge in Deutschland. Eine Studie zur sequentiellen Traumatisierung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2015. 464 Seiten. ISBN 978-3-7799-3328-1. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 51,90 sFr.
Thema
In der aktuellen Diskussion zur Aufnahme von Menschen, die aus ihren Heimatländern flüchten mussten, spielt die Lebenssituation ehemaliger Kindersoldatinnen und -soldaten kaum eine Rolle, obwohl vermutet wird, dass mindestens 3,5 – 4% der hier eintreffenden unbegleiteten Minderjährigen aus einem solchen Erfahrungshintergrund geflohen sind (S. 21). Umso wichtiger ist die Auseinandersetzung mit der Lebenswelt der hier eintreffenden jungen Menschen mit extremsten Erfahrungen von Gewalt und Verletzung. Dazu leistet die im Folgenden dargestellte Arbeit von Dima Zito einen sehr wertvollen, fachlich fundierten und informativen Beitrag.
Vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes zu diesem Thema sowie zu Trauma- und Resilienzforschung analysiert Zito biografisch-narrative Interviews im Hinblick auf traumatische Lebenssequenzen der Kinder und Jugendlichen unter Bezugnahme auf das Modell der Sequenziellen Traumatisierung nach Keilson (1979). Sie erschließt dabei vier traumatische Sequenzen, von denen die letzte im Exilland Deutschland stattgefunden hat/stattfindet. Damit macht Zito auf die diesbezügliche Verantwortung der Aufnahmeländer, aber auch auf die sich daraus ergebenden Chancen aufmerksam.
Autorin
Dima Zito, Dr. phil., ist Traumatherapeutin im Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge Düsseldorf, wo sie auf die „prekäre Aufenthalts- und somit Lebenssituation“ (S. 23) ehemaliger KindersoldatInnen in Deutschland aufmerksam wurde. Schwerpunkte ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit sind Trauma und Flucht. Mit der vorliegenden Studie, angesiedelt an der „Schnittstelle einer sozialwissenschaftlich interessierten Kindheitsforschung zur erziehungswissenschaftlich bzw. psychosozial orientierten Trauma- und Resilienzforschung“ (S. 443) promovierte sie 2015 am Fachbereich für Human- und Sozialwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal.
Aufbau
Der Einleitung (Kap. 1) folgen im Theorieteil (Kap. 2-6) der Forschungsstand zu KindersoldatInnen und Flüchtlingen (Kap. 2-4), zur Trauma-/Resilienzforschung und sequenzieller Traumatisierung (Kap. 5) sowie zu Methodologie und Forschungskonzept (Kap. 6). Im Empirieteil (Kap. 7-26) werden nach Hintergrundinformationen zu den Interviewten (Kap. 7) die Auswertungen der Studie dargestellt, zunächst die Vorbedingungen (Kap. 9) sowie die traumatischen Sequenzen im Herkunftsland und während der Flucht (Kap. 10-19), anschließend die traumatischen Sequenzen im deutschen Exil (Kap. 21-25) sowie die Zukunftsperspektiven der Interviewten (Kap. 26). Das Buch schließt mit einem Ausblick (Kap. 27) und einer Zusammenfassung (Kap. 28).
Inhalt
Theoretische Rahmung (Kap. 2-5)
„Der Einsatz von Kindern als Soldatinnen und Soldaten ist kein neues, regional begrenztes oder kulturspezifisches Phänomen“ (S. 35) der heutigen Zeit, hält Dima Zito fest, sondern vielmehr eine Tatsache, die in bewaffneten Konflikten schon immer vorgekommen sei. Die Zwangsrekrutierung von Kindern ist jedoch seit den 1990er-Jahren v.a. in afrikanischen Ländern sehr stark angestiegen, besonders durch die „Neuen Kriege“ (S. 39): privatisierte Kriege „um die Kontrolle von Einkommensquellen und Ressourcen, z.B. Diamanten, Öl oder Drogen“ (S. 43). Damit sei dieses Thema auch nicht auf die Kriegsgebiete begrenzt zu betrachten, sondern vielmehr nur im Zusammenhang der „(Mit-)Verantwortung der Industrieländer an der Entstehung der Problematik“ (S. 38) zu sehen, wozu Zito mit ihrer Arbeit einen Beitrag leisten möchte. Seit den 2000er-Jahren bemühen sich internationale Abkommen um die Eindämmung des Einsatzes von KindersoldatInnen, gipfelnd in den „Pariser Prinzipien und Richtlinien zu Kindern, die mit nationalen Streitkräften und nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen assoziiert sind“ von 2007 (S. 44-46) und die bisher von 70 Regierungen unterzeichnet wurden. Dennoch wird die Zahl weltweit eingesetzter KindersoldatInnen derzeit auf ca. 250.000 geschätzt – ein Schicksal, dem sich viele von ihnen, ebenso wie die von Rekrutierung bedrohten Kinder und Jugendlichen, durch Flucht zu entziehen versuchen.
Die asyl- und aufenthaltsrechtliche Situation von KindersoldatInnen in Deutschland ist recht umfassend erforscht (BAMF, 2016), nicht jedoch, wie Dima Zito feststellt, die konkreten Lebensbedingungen der geflüchteten Kinder und Jugendlichen. Zum internationalen Forschungsstand bezüglich vergleichbarer Gruppen stellt die Autorin zusammenfassend fest, „dass die Wahrscheinlichkeit psychischer Belastungen, insbesondere Posttraumatischer Belastungsstörungen und schwerer Depressionen bei Asylsuchenden signifikant erhöht ist und die Bedingungen des Aufenthalts im Exil im direkten Zusammenhang mit der Entwicklung (Verbesserung oder Verschärfung) psychischer Erkrankungen stehen“ (S. 32; vgl. u.a. Bianco, 1999; Ludwig, 2003). Mit ihrer Studie möchte die Autorin daher insbesondere eine Analyse der „aktiven und reaktiven Verarbeitungsformen“ (S. 19) vorlegen, die ehemalige KindersoldatInnen in Deutschland entwickelt haben, und deren „differenzierte Verknüpfung mit den strukturellen Bedingungen“ (S. 25) herausarbeiten.
Zito stellt auf der Basis unterschiedlicher Kindheitskonzeptionen dar, wie das Leben von KindersoldatInnen dem Muster moderner Kindheit widerspricht, wie es die Childhood-Studies zeichnen: Statt einen Schon-, Schutz- und Spielraum fern der Erwachsenenwelt zu erhalten, leben KindersoldatInnen neben den Erwachsenen in militärischen Einheiten; anstelle von Bildung erhalten sie Unterricht, der sich darauf bezieht, Überlebensstrategien und effizientes Kämpfen und Töten zu erlernen. „In Bezug auf Kindersoldatinnen und -soldaten verschieben sich traditionelle generationale Arrangements einerseits, auf der anderen Seite spitzen sie sich zu. Nach außen verlassen sie durch die Mitgliedschaft in der bewaffneten Gruppe die untergeordnete Rolle als Kinder und erlangen Macht über andere Menschen, auch Erwachsene – bis hin zur Macht über Leben und Tod. Innerhalb der bewaffneten Gruppe hingegen sind sie in extremer Weise unterworfen – ebenfalls auf Leben und Tod. Sie werden häufig in besonderem Maße ausgebeutet und ihr Leben in riskanten Einsätzen geopfert“ (S. 207). Dima Zito wehrt sich entschieden dagegen, in KindersoldatInnen lediglich eine andere soziokulturelle Kindheitskonzeption zu sehen, vielmehr werde das Bild vom „unschuldigen“ und „schützenswerten“ Kind aufrechterhalten und taktisch genutzt, z.B. für die Verwendung als menschliche Schutzschilde (ebd.).
In ihrer theoretischen Rahmung bezieht sich Dima Zito auf die Trauma- und Resilienzforschung und legt dabei die von Fischer und Riedesser (1998, S. 79) entwickelte Definition von Trauma als „vitales Diskrepanzerleben zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ zugrunde. Desweiteren geht sie von der prozessualen Traumatisierungskonzeption der Trauma- und Resilienzforschung aus, der zufolge (personale, familiäre und soziale) Schutzfaktoren bei den Betroffenen zur Ausbildung von Resilienz führen können, Risikofaktoren jedoch die Bewältigung traumatischer Belastungen erschweren. „In Bezug auf Kindersoldatinnen und -soldaten als Überlebende extremer Gewalt sowie gewaltvoller Strukturen, deren Massivität und Ausmaß weit jenseits dessen liegen, was in unserem Alltag vorstellbar ist, zeigt sich, dass Resilienzfaktoren deutlich im Hintergrund stehen und tendenziell erst nach der Flucht, also außerhalb einer unmittelbaren Lebensbedrohung wirksam werden“ (S. 444).
Für die Analyse der Erlebnisse von ehemaligen KindersoldatInnen orientiert sich die Autorin am Konzept der Sequenziellen Traumatisierung von Keilson (1979), „da es die Möglichkeit bietet, den Einfluss der Bedingungen der verschiedenen Lebensphasen oder Sequenzen auf Verarbeitung nachzuzeichnen“ (S. 88). In seiner Longitudinalstudie von jüdischen Kriegswaisen kam Keilson zu dem Ergebnis, dass der Umgang mit den Kindern nach dem Ende des Krieges entscheidender für die Traumaverarbeitung oder -chronifizierung ist als die Zeit der Verfolgung, die sie in Konzentrationslagern und Verstecken überlebten.
Methodik (Kap. 6)
Dima Zito analysierte insgesamt 32 biografisch-narrative Interviews mit ehemaligen, jetzt in Deutschland lebenden KindersoldatInnen im Alter zwischen 16 und 27 Jahren nach den Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse. Ziel war die Herausarbeitung einzelner traumatischer Sequenzen.
Traumatische Sequenzen (Kap. 9-19)
Vier traumatische Sequenzen lassen sich laut Dima Zito anhand des Datenmaterials differenzieren: (1) die Erfahrungen von Krieg und Gewalt vor der Rekrutierung, (2) die Erfahrungen als KindersoldatInnen, (3) Haft bzw. (Nach-)Kriegssituation in der Herkunftsregion und Flucht, (4) das Exil in Deutschland.
- Erfahrungen von Krieg und Gewalt vor der Rekrutierung: Mehrheitlich der unterprivilegierten Bevölkerungsschicht entstammend, war die Kindheit aller Interviewten geprägt von sozioökonomischen Krisen und extremen Gewalterlebnissen in ihrem Land, wodurch ihnen Bildung als Ressource weitgehend versagt blieb. „Positive Erfahrungen in den Elternhäusern, die als Schutz- oder Resilienzfaktoren eingeordnet werden können, werden z.T. benannt, spielen aber im weiteren Verlauf eine untergeordnete Rolle“ (S. 156).
- Rekrutierung und Erfahrungen als KindersoldatInnen: Die meisten Interviewten wurden unter Zwang, durch massive Gewaltandrohung oder -anwendung rekrutiert, einige traten nach dem Verlust ihres familiären Lebensumfelds auf der Suche nach Schutz und Unterstützung, eine dritte Gruppe im familiären Kontext aktiv einer bewaffneten Gruppe bei. „Fast alle … beschreiben im direkten Kontext oder Vorfeld der Rekrutierung Situationen extremer Gewalt bis hin zum Mord an Eltern. Diese Erlebnisse sind nach den Kriterien des ICD-10.. einzuordnen als (potentiell) traumatische Ereignisse“ (S. 179). Handlungsspielraum und Bewältigungsmöglichkeiten der KindersoldatInnen wurden besonders durch die hierarchische, autoritäre und repressive Struktur der bewaffneten Gruppen geprägt, meist befanden sich die Kinder „in einer Situation absoluten, ausweglosen Ausgeliefertseins…Es lässt sich herausarbeiten, dass strukturelle Faktoren (also das Ausmaß der Unterworfenheit, auch das Vorgehen der Gruppen generell, bestimmte Initiationsriten sowie eben der unschlüssige Referenzrahmen und somit mangelnde Kohärenz) in besonderer Weise zu Traumatisierungen führen“ (S. 447). Überleben konnten die Kinder in diesem gewalttätigen Umfeld nur mithilfe kontinuierlicher Anpassungsleistungen, in einer „Art Kontinuum des ‚von Außen nach Innen Nehmens‘“ (S. 213), um als fremd und bedrohlich erlebte Handlungsweisen zu integrieren. Zu den wichtigsten Bewältigungsformen gehörten Drogenkonsum (S. 220) und „die Adaption eines Männlichkeitsbildes der Härte und Gefühlsabspaltung“ (S. 222) – beides durch die bewaffneten Gruppen massiv vorangetrieben. Bei den meisten Interviewten kamen so „maximal traumatisierende Ereignisfaktoren (plötzliche, gewaltsame Trennung von den Bindungspersonen, man-made-disaster, über einen langen Zeitraum wiederholte Erfahrungen extremer Gewalt und Lebensbedrohung, Gewalt durch Bezugspersonen, d.h. Kommandanten) zusammen mit starken Risikofaktoren (Vulnerabilität durch junges Lebensalter, Vorbelastungen vorherige Kriegserlebnisse, Trennungs- und Verlusterfahrungen)“ (S. 448), während „umgebungsbezogene Schutzfaktoren (sichere emotionale Bindung, positive Rollenmodelle, soziale Unterstützung)“ (ebd.) in den Gruppen quasi nicht verfügbar und personale Schutzfaktoren „aufgrund der Erschütterung des Selbstbildes durch die eigene Täterschaft weniger wirksam“ (ebd.) waren. Der Bewältigungsprozess in der bewaffneten Gruppe führte bei fast allen Interviewten zu konstanter Identifikation und Anpassung „vom Entsetzen zur Gewöhnung zur Identifikation und Gruppenzugehörigkeit“ (S. 255). Konstante Ablehnung hingegen ließ sich offenbar kaum durchhalten (S. 254f.). Distanzierung hingegen zeigte sich bei jenen, die sich selbst zum Beitritt „entschieden“ hatten (S. 256).In allen Fällen war der Prozess begleitet durch traumatypische Reaktionen, so berichteten viele der Interviewten von dissoziativen Phasen, durch die sie vieles „wie im Film“ erlebten (S. 242, 248).
- Haft bzw. (Nach-)Kriegssituation in der Herkunftsregion und Flucht: Wer nicht sofort nach Ausstieg aus der bewaffneten Gruppe floh, lebte in der Herkunftsregion weiterhin in einer Situation konstanter Bedrohung, keinem gelang die Rückkehr in die Sicherheit früherer Gemeinschaften (S. 269). Im Falle einer Inhaftierung kamen meist weitere Traumatisierungen durch massive Bedrohung, Zwangsarbeit, Ohnmacht und Folter hinzu (S. 259-262). Dima Zito hält fest, dass die Flucht bei den meisten Interviewten „direkte oder indirekte Konsequenz ihrer Beteiligung an oder Flucht aus bewaffneten Gruppen“ (S. 271) gewesen sei. Alle Kinder trafen selbst die Entscheidung zur Flucht (in zwei Fällen geebnet durch helfende Andere) „vor dem Hintergrund (subjektiv wahrgenommener) Alternativlosigkeit angesichts existentieller Bedrohungen. Diese Bedrohungssituation hängt mit der Rekrutierung durch bewaffnete Gruppen zusammen und wird wirksam in einer Situation, in der an frühere soziale Bezüge (Familie, Herkunftsgemeinde) nicht mehr angeknüpft werden kann“ (S. 289f.).
- Exil in Deutschland: Zum Zeitpunkt des Interviews befanden sich die Kinder und Jugendlichen „an unterschiedlichen Stationen eines noch andauernden Prozesses innerer und äußerer Stabilisierung, Inklusion und Verarbeitung.. oder auch der Chronifizierung von Belastung und Exklusion als Gegenpol“ (S. 295). Dima Zito hebt hervor, „dass die vierte traumatische Sequenz andauert, solange die Lebenssituation in Deutschland von aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit sowie damit einhergehender weitgehender oder zumindest teilweiser Exklusion aus gesellschaftlichen Funktionssystemen geprägt ist. Dies ist auch der Fall bei Interviewpartnern, die teilweise schon mehrere Jahre in Deutschland leben. Nur zwei Interviewte, die über eine unbefristete Niederlassungserlaubnis verfügen, sind hiervon ausgenommen… Daher können bezogen auf die traumatische Sequenz in Deutschland zwar Tendenzen, aber keine abgeschlossenen typischen Verläufe rekonstruiert werden, und es kann (im Gegensatz zur Forschungsarbeit von Keilson 1979) keine Aussage getroffen werden, welche traumatische Sequenz im weiteren Lebenslauf in Bezug auf die Verarbeitung der Traumatisierungen am bedeutsamsten ist“ (S. 450).
Risiko- und Schutzfaktoren bei der Traumabewältigung (Kap. 21-26)
Im Zuge des Asylverfahrens fühlen sich junge Menschen den – für sie undurchschaubaren – bürokratischen Entscheidungen über all ihre Lebensbereiche ohne Einflussmöglichkeit ausgeliefert, sie erleben eine „erneute Erfahrung von Unsicherheit und Unterworfensein“ (S. 451), die für sie extrem belastend ist. Gravierende Risikofaktoren bei der Bewältigung ihrer Traumatisierungen sind die Angst vor Abschiebung und die Lebensbedingungen in den Unterkünften. „Tendenziell zeigen sich die Interviewten weniger (akut) belastet, je mehr soziale (auch professionelle und therapeutische) Unterstützung, (aufenthaltsrechtliche) Sicherheit sowie Inklusion in gesellschaftliche Funktionssysteme, insbesondere Zugang zum Bildungssystem, sie erreicht haben“ (ebd.). In ihren abschließenden Desiderata fordert Dima Zito daher:(a) die Entwicklung des Sicherheits- und Schutzgefühls zu unterstützen, wozu menschenwürdige Lebensbedingungen (in sicheren Wohnungen bzw. Jugendhilfeeinrichtungen) notwendig seien; (b) die Stabilisierung zu fördern durch die Förderung sozialer Unterstützung und angemessener pädagogigischer Begleitung; (c) das Selbstbild der jungen Flüchtlinge zu stärken durch den Zugang zu Bildung; (d) die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen zu erleichtern durch den Zugang zu trauma- und kultursensibler Psychotherapie (ebd., S. 452f.).
Diskussion
Dima Zito leistet einen beeindruckenden und in der bisherigen Literatur fehlenden Beitrag zur Lebenssituation ehemaliger KindersoldatInnen, und es ist ihr hoch anzurechnen, dass sie mit ihrem Buch eine Sensibilisierung für Menschen mit diesen Lebenserfahrungen in der Fachöffentlichkeit bewirkt hat. Junge Menschen, die als KindersoldatInnen ausgebeutet wurden, werden in den deutschen Aufnahmeprozessen nicht systematisch erfasst, das Personal für die Clearinggespräche ist für die Befragung nicht ausreichend sensibilisiert; Aufnahme in Einrichtungen der Jugendhilfe, die mit der Problematik vertraut sind, kann meist nicht gewährleistet werden (BumF, 2008). Bei ihrer Aufnahme als „unbegleitete minderjährige Ausländer“ (UmA) stehen sie unter dem üblichen Beweiszwang der Minderjährigkeit und werden ohne Berücksichtigung ihrer Lebenssituation behandelt (ebd.). Mit den hier vorgelegten Forschungsergebnissen macht Zito deutlich, wie wichtig diese Prozesse im Hinblick auf die Verarbeitung bzw. Chronifizierung schwerster traumatischer Lebenserfahrungen sind, und zeigt damit die diesbezügliche gesellschaftliche Verantwortung deutlich auf. Somit sensibilisiert sie mit ihrer Arbeit nicht nur für die Lebenswelten der Betroffenen, sondern macht auch die Tatsache deutlich, dass weder Aufnahmeverfahren, die sie als „institutionalisierte Exklusion“ (S. 59) bezeichnet, noch Unterstützungsangebote ausreichend auf die Bedarfe von Menschen mit diesen Lebenserfahrungen ausgerichtet sind. Zu Letzteren leistet dieses Buch einen bedeutenden Beitrag, denn es vermittelt notwendiges Wissen in einer sehr gut dargestellten und lesbaren Form, und es macht Mut, denn es zeigt deutlich, „dass ehemalige Kindersodatinnen und Kindersoldaten sich bei entsprechender Unterstützung sehr wohl stabilisieren können.“ (S.14).
Die von Zito gewählte Forschungsmethode der biografisch-narrativen Interviews gibt den befragten Menschen viel Raum, ihre Erfahrungen und auch ihre aktuellen Lebenssituationen darzustellen, was die Autorin neben einer umfassenden inhaltlichen Rahmung ausdrücklich in den Mittelpunkt ihres Werkes stellt. Mit dem Konzept der Sequenziellen Traumatisierung hat sie außerdem ein Modell gewählt, mit dem es möglich ist, „den biografischen und sozialen Phänomenen von Fluchterfahrungen im Bewusstsein ihrer Komplexität zu begegnen. Dies erfordert eine zwischenmenschliche Sensibilität wie auch eine gesellschaftskritische Haltung, die das Spannungsfeld zwischen der Anerkennung von Traumatisierung als pathologische Stigmatisierung und die gleichzeitige Gefahr der Traumaverleugnung als Stigmatisierungsstrategie reflektiert“ (Gahleitner, Loch & Schulze, 2012, S.21). Beides gelingt Zito in ihrer Arbeit.
Fazit
Dima Zito hat mit ihrer Studie zur Sequenziellen Traumatisierung von KindersoldatInnen ein sehr empfehlenswertes Buch geschrieben, das ein breites Spektrum an Wissen auf dem aktuellen Forschungsstand vermittelt und gleichzeitig einfühlsam für die Lebenswelten der Betroffenen sensibilisiert. Besonderer inhaltlicher Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der „Überlebensgeschichten“ der Menschen und ihren subjektiven Strategien, erfahrene und erzwungenermaßen ausgeübte Gewalt zu verarbeiten. Dabei wird den Betroffenen durch die Methode der biografisch-narrativen Interviews viel Raum gegeben. Theoretisch ist die Arbeit einerseits in der psychosozialen Trauma-Resilienz-Forschung angesiedelt und bezieht sich andererseits auf sozialwissenschaftliche Theorien der Kindheitsforschung.
Besonders wichtig scheint uns dieses Buch auch für die Praxis zu sein, da es Ängsten der Professionellen vor der Arbeit mit ehemaligen KindersoldatInnen entgegenwirkt und auf konkrete pädagogische und therapeutische Möglichkeiten eingeht.
Literatur
- Bianco, G. (1999). Ehemalige Kindersoldaten – Die (un)bewußte politische Identität. Zeitschrift für Politische Psychologie, 7(1+2), 29-40. Online verfügbar: http://amnesty-heilberufe.de/wp-content/uploads/2014/02/1999-tbianco-kindersoldaten-polit-identit%C3%A4t.pdf [18.02.2016].
- Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (2016). Aktuelle Zahlen zu Asyl. Ausgabe: Mai 2016. Tabellen, Diagramme, Erläuterungen. Berlin: BAMF. Online verfügbar: https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/aktuelle-zahlen-zu-asyl-mai-2016.pdf?__blob=publicationFile [07.07.2016].
- Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (BumF) (2008). Die Verantwortung gegenüber Kindersoldaten ernstnehmen. Positionspapier zur Umsetzung der Concluding Observations des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes vom 01.02.2008. Berlin: BumF. Online verfügbar: http://www.b-umf.de/images/stories/dokumente/forderungen-kindersoldaten-2008.pdf [07.07.2016].
- Fischer, G. & Riedesser, P. (1998). Lehrbuch Psychotraumatologie. München: Reinhardt.
- Gahleitner, S. B., Loch, U. & Schulze, H. (2012). Psychosoziale Traumatologie – eine Annäherung. In H. Schulze, U. Loch & S. B. Gahleitner (Hrsg.), Soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen. Plädoyer für eine Psychosoziale Traumatologie (Reihe: Grundlagen der Sozialen Arbeit, Bd. 28; S. 6-53). Baltmannsweiler: Schneider.
- Keilson, H. (1979). Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Deskriptiv-klinische und quantifizierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden (Reihe: Forum der Psychiatrie, Bd. 5). Stuttgart: Enke.
- Ludwig, M. (2003). Ehemalige Kindersoldaten als Flüchtlinge in Deutschland. Lebenssituation und Forderungen. „I´m living like somebody that´s lost in the war“. Osnabrück: Terre des Hommes. Online verfügbar: https://2007.dfg-vk.de/dateien/kindersoldaten_studie.pdf [07.07.2016].
Rezension von
Dipl.-Päd. Julia Bialek
Systemische Familientherapeutin und Traumapädagogin/-fachberaterin, langjährige Berufserfahrung in der Fachberatung von Kindertagesstätten, Schulen und Einrichtungen der Jugend- und Behindertenhilfe. Mitgesellschafterin im Traumapädagogischen Institut Norddeutschland. Fort- und Weiterbildungen zum Thema Traumapädagogik
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Prof. Dr. phil. habil. Silke Birgitta Gahleitner
Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit für den Arbeitsbereich Psychosoziale Diagnostik und Intervention an der Alice Salomon Hochschule Berlin
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