Frank Decker, Bernd Henningsen et al. (Hrsg.): Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa
Rezensiert von Dr. Michael Kohlstruck, 04.04.2016
Frank Decker, Bernd Henningsen, Kjetil Jakobsen (Hrsg.): Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa. Die Herausforderung der Zivilgesellschaft durch alte Ideologien und neue Medien.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2015.
300 Seiten.
ISBN 978-3-8487-1206-9.
D: 54,00 EUR,
A: 55,60 EUR,
CH: 76,90 sFr.
International studies on populism, Band 2.
Thema
Neben Rechtspopulismus und Rechtsextremismus v.a. in Nord- und Westeuropa befasst sich der Band mit Rechtsterrorismus, insbesondere mit dem Fall Anders Behring Breivik, der am 22.7.2011 in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Personen ermordete.
Herausgeber
Die drei Herausgeber kommen aus der Wissenschaft.
Frank Decker ist Professor für Politische Wissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bernd Hennigsen war bis 2010 Professor für Skandinavistik/Kulturwissenschaft sowie Kultur und Politik Nordeuropas und der Ostseeregion am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin und Kjetil A. Jakobsen ist Professor für Sozialwissenschaften in Bodø in Norwegen.
Entstehungshintergrund
Im April 2013 fand in Rostock eine Tagung zum Umgang mit Rechtsextremismus und Rechtspopulismus statt, an der neben Wissenschaftlern Politiker, Journalisten und Vertreter von zivilgesellschaftlichen Organisationen teilgenommen hatten. Der Band publiziert die dort vorgestellten Einschätzungen sowie weitere Beiträge. Im Ergebnis findet sich zu den meisten Ländern West- und Nordeuropas ein Beitrag, Osteuropa ist mit einem Beitrag zu Ungarn vertreten. Die Beiträge stammen zum größten Teil von wissenschaftlichen Autoren.
Aufbau
Nach den Eröffnungsbeiträgen zweier Politiker („Positionen“) folgt der mit elf Beiträgen umfangreichste Buchteil unter dem Titel „Diagnosen“.
Für Europa im Ganzen sowie für die folgenden Staaten im Einzelnen werden rechtspopulistische Phänomene beschrieben:
- Frankreich,
- Deutschland,
- Österreich,
- Schweiz,
- Dänemark,
- Norwegen,
- Finnland,
- Niederlande und
- das Vereinigte Königreich.
Speziell die Rolle der Medien wird im dritten Teil behandelt. Hier stehen im Vordergrund die Länder Ungarn, Norwegen, Deutschland und das Thema der Deutungshoheit sowie die Bedeutung der digitalen Welt für Rechtsextremismus und Rechtspopulismus.
Der vierte Teil ist dem praktischen Umgang mit den beiden Phänomenkomplexen in Norwegen und Deutschland gewidmet.
Inhalt
Die drei Themenkomplexe Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus behandelt der Band auf unterschiedlichen Ebenen. Rechtspopulismus wird v.a. als ein Parteienphänomen verstanden. Die drei Herausgeber weisen in ihrer Einleitung darauf hin, dass die in den 1970er und 1980er neu entstandene Familie rechtspopulistischer Parteien in erster Linie als Ausdruck von soziokulturellen Wertkonflikten und weniger im Zusammenhang mit sozioökonomischen Verteilungskonflikten zu erklären sind. „Wer sind Wir?“ und „Wer wollen Wir sein?“, identitätspolitische Fragen also bilden den Hintergrund der Parteiprogrammatiken (S. 13-15). Die Analysen gehen auf rechtspopulistischer Parteien in Frankreich, Deutschland, Österreich, Schweiz, Dänemark, Norwegen, Finnland, Schweden genauer ein.
Bemerkenswert ist der Beitrag zu „Strategien gegen Rechtspopulismus“ (Olaf Ries, Universität Rostock), der insgesamt zu einem ab- und aufgeklärten Umgang rät: Auf der demokratietheoretischen Metaebene plädiert er dafür, rechtspopulistische Positionen als legitime Bestandteile des Diskurses zu betrachten. Wie für andere Positionen auch gelte hier das Ausschlusskriterium der physischen Gewalt. In soziologischer Perspektive schlägt er vor, Rechtspopulismus als „kognitives Muster und kulturelle Praxis für die Bewältigung sozialen Wandels“ zu betrachten (S. 343). In praktischer Hinsicht hält er indirekte Gegenstrategien für aussichtsreich, die das Bedürfnis nach rechtspopulistischen Positionierungen abnehmen oder es erst gar nicht entstehen lassen. Damit wird die Ebene realer Lebensbedingungen in den Blick genommen: Und exakt auf dieser Ebene hatte der Autor vor Jahren das Projekt „Jeep“ (Jugendliche mit eigener Entwicklungsperspektive) mit entwickelt. Der Vorschlag zielte darauf, für Schulabbrecher eine theorieentlastete Berufsausbildung unterhalb der klassischen Lehrabschlüsse einzurichten. „Die Homogenität einer bildungsfernen Gruppe wäre möglicherweise aufgebrochen worden, was am Ende präventiv gegen alle Arten von Vereinfachung hätte wirken können.“ (S. 348) Das Konzept dieses sog. „trialen System“ konnte leider nicht praktisch erprobt werden.
Die Behandlung des Themenfelds Rechtsextremismus wird eröffnet durch einen Überblick von Miroslav Mareš (Masaryk-Universität Brünn) zu gängigen Kategorisierungen und Typologien. Unterschieden wird dabei zwischen der ideologischen Dimension, der organisatorischen Dimension und den Auswirkungen auf das jeweilige politische System (S. 54-56). Die vorgestellten konzeptionelle Werkzeuge ermöglichen eine einheitliche Erfassung der einschlägigen Phänomene in den verschiedenen Staaten Europas. Weitere Beiträge widmen sich der Analyse von Deutungsangeboten (etwa der der rechtsextremen Geschichtspolitik in Ungarn) oder Deutungskonflikten.
Ein Beitrag behandelt die Bewertung der gewalttätigen Vorfälle in der sächsischen Stadt Mügeln im August 2007 (Britta Schellenberg, Ludwigs-Maximilian-Universität München); sie kann zeigen, inwieweit in der Öffentlichkeit „ein vor Widersprüchen strotzender Umgang mit Begrifflichkeiten und Zuschreibungen“ (S. 288) vorherrscht, der von den am Deutungskonflikt Beteiligten in unterschiedlicher Weise instrumentalisiert wird. Sichtbar macht dieser Beitrag auch, inwiefern – mindestens für die wissenschaftliche Analyse – zwischen den Ereignissen selbst und den zu ihrer Beschreibung und Erklärung verwendeten Begrifflichkeiten im öffentlichen Diskurs unterschieden werden muss.
Beiträge zu Rechtsextremismus in den digitalen Kommunikationsnetzen und zu Gegenstrategien, darunter die online-Beratung gegen Rechtsextremismus (www.online-beratung-gegen-rechtsextremismus.de), runden diesen Komplex ab.
Fünf Beiträge sind dem rechtsterroristischen Fall Breivik gewidmet, ein weiterer Beitrag behandelt Rechtsterrorismus in Deutschland.
In den Beiträgen zur Entwicklung Breiviks zum Massenmörder werden zwei relevante Ursachenkomplexe identifiziert. Die Darstellungen von Kindheit und Jugend Breiviks geben Aufschlüsse über die Entstehung einer individuellen psychischen Bedürfnisstruktur, während die Beiträge zu seiner politischen „Netzsozialisation“ eine daran anschließende Korrespondenz zwischen Internetnutzung und psychischer Struktur vorstellen. Der norwegische Schriftsteller und Literaturkritiker Aage Borchgrevink konnte auf Basis von Polizeiakten, Dokumenten zu Breiviks Kindheit und Jugend sowie Auskünften von dessen Stiefmutter die Kindheit des Terroristen rekonstruieren. Im Zentrum seiner Darstellung steht die durch das Staatliche Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie dokumentierte Fürsorgepflichtsverletzung durch Breiviks Mutter, der Antrag des Zentrums auf Übertragung des Sorgerechts auf Breiviks Vater und die Ablehnung dieses Antrags durch Jugendamt und Familiengericht: Breivik wuchs vaterlos auf. Sein hierzulande meist als „Manifest“ bezeichnetes, 1515 Seiten langes rassistisches Kompendium wird vor dem Hintergrund seiner Ablehnung durch eine psychisch kranke und überforderte Mutter „als Antwort auf Erfahrungen und Konflikte in Breiviks (…) Kindheit und Jugend“ gelesen (S. 171); dies gilt insbesondere für den teils latenten, teils manifesten Frauenhass des Textes (S. 172-174; 246). Der Fall Breivik als ein Beispiel für problematische sozialarbeiterische Entscheidungen in Fällen von Sorgerechtsverletzungen demonstriert die hohe Verantwortung sozialer Arbeit.
Als ein zweiter Verursachungskomplex wird die Mediennutzung Breiviks herausgearbeitet. Sie lässt sich als eine hochgradig eingeschränkte Nutzung inhaltlich konsonanter ideologischer websites und blogs beschreiben. Beschrieben wird dieses Verhalten als eine „Informationsinzucht“ (S. 168). Die Radikalisierung Breiviks basierte ganz überwiegend auf Informationen aus dem Internet (S. 247); er hatte sich fünf Jahre vor seinen Mordtaten weitgehend aus der anlogen Welt der unmittelbaren sozialen Interaktionen zurückgezogen und sein Dasein auf eine Cyber-Existenz vor dem heimischen Monitor beschränkt (S. 184, 261-264).
Der Band löst den Anspruch seines Untertitels besonders in den Beiträgen ein, in denen den technischen Voraussetzungen der am Fall Breivik exemplifizierten bornierten Internetnutzung nachgegangen wird. Norwegen ist dafür ein besonders geeignetes Untersuchungsland, da in den nordischen Ländern die Digitalisierung im europäischen Vergleich einen frühen Höchststand erreicht hat (S. 255). Die selektive Informationsbeschaffung wird technisch unterstützt durch die personifizierenden Netzmedien (S. 257, 259). Die Auswahl von Ergebnissen, die auf Suchanfragen der Nutzer hin präsentiert werden, verwerten die personalisierten früheren Recherchen und die Information zu den tatsächlich aufgesuchten Websites; sie folgen einer Logik des „Mehr vom Gleichen“, spätere Suchergebnisse werden zum Echoraum von früheren; Verweise auf dissonante Positionen werden systematisch reduziert.
Nicht zuletzt diese personalisierende Produktion von Rechercheergebnissen führt zur sog. „Cyber-Balkanisierung“ (Cass Sunstein) (S. 329). Etwas präziser (und balkanfreundlicher) hätte man wohl von einer „Cyber-Parzellierung“zu sprechen. Gemeint ist die Möglichkeit, dass sich in einem internetdominierten Mediensystem „kleine Gruppen mit gemeinsamen Ideen viel leichter von Argumenten und Tatsachen abschirmen [können], die gegen ihre Auffassungen sprechen als in traditionellen, an den Massenmedien orientierten öffentlichen Räumen. […] In derart isolierten Gruppen streben die extremsten Varianten jener gemeinsamen Ansichten, die die Grundlage für die Gruppenbildung waren, nach wachsender Unterstützung.“ (Kjetil A. Jakobsen (S. 260)).
Der Beitrag zum Rechtsterrorismus in Deutschland (Lazaros Miliopoulos, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn) stellt die historische Entwicklung des Rechtsterrorismus in der Weimarer Republik und der Bundesrepublik dar. Das dabei zugrundegelegte Konzept versteht Terrorismus als politisch motivierter Gewalt nicht-staatlicher Gruppen gegen die jeweilige politische Ordnung, die systematisch geplant wird und das Ziel physischen Einwirkens auf die Bevölkerung verfolgt (S. 360). Die Darstellung der Geschichte des in diesem Sinne verstandenen Rechtsterrorismus beginnt mit der Ermordung Walther Rathenaus durch die Organisation Consul 1921 und endet beim sog. „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU).
Diskussion
Der Band behandelt die drei großen Themenkomplexe Rechtsextremismus, Rechtspopulismus, und Rechtsterrorismus unter den Perspektiven der Diagnose, der Rolle von Medien und der Gegenstrategien. Es liegt auf der Hand, dass die Beiträge lediglich ausgewählte Einzelaspekte bearbeiten können – zumal wenn überdies der Anspruch erhoben wird, europaweite Phänomene zu untersuchen.
Die Stärken des Bandes liegen einmal in der Analyse der rechtsterroristischen Tat von Breivik sowie dem Umgang mit diesem Ereignis in Norwegen. Zum anderen ergänzen die Beiträge zu Nordeuropa die häufige Schwerpunktsetzung auf Westeuropa. Schließlich wird mit der Frage nach der Bedeutung der Medien nicht lediglich ein weiterer Aspekt betont, sondern dem Umstand Rechnung getragen, dass sich Basis und Form unseres Weltwissens fundamental verändern und der neue Typ einer entkonstitutionalisierten oder einer privatisierten Öffentlichkeit entstanden ist.
Nicht untypisch für einen Sammelband ist das Fehlen einer einheitlichen Klärung der titelgebenden Konzepte Rechtspopulismus und Rechtsextremismus, die deren Differenz und mögliche Gemeinsamkeiten systematisch expliziert. Speziell für den Rechtspopulismus wünscht man sich die Untersuchung eines denkbaren Zusammenhangs zwischen der Erfahrung der etablierten Parteiensysteme, den in Zeiten prosperierender Volkswirtschaften entstandenen Erwartungen in den Bevölkerungen, neuer historischer Ereignisse und dem Aufkommen rechtspopulistischer Parteien. Die Herausgeber reißen das Thema in der Einleitung lediglich an.
Fazit
Der Band behandelt Aspekte des Rechtspopulismus, des Rechtsextremismus und des Rechtsterrorismus in west- und nordeuropäischen Staaten unter den Aspekten der Diagnose, der Rolle der Medien sowie der Möglichkeiten und Grenzen kritischer Auseinandersetzung. Der politische geographische Schwerpunkt liegt auf West- und Nordeuropa.
Der Band hat seine besonderen Stärken in der Untersuchung rechtspopulistischer Parteien in verschiedenen Ländern, und in der Untersuchung der neuen Medien bei der Entstehung des neuen Typs tribalistischer Öffentlichkeiten im Sinne von isolierten Diskursgemeinschaften. Zum anderen wird an den der intensiven Untersuchung des Falls Breivik verdeutlicht, wie individuell-familiäre Voraussetzungen in Verbindung mit diesen neuen Formen digitalisierter Öffentlichkeit in Radikalisierungsprozesse einmünden können. Korrespondierend sind damit auch Ansätze gegensteuernder Entwicklungen aufgezeichnet.
Der Band vermittelt ein umfassendes Bild des rechtsterroristischen Falls Breivik; er ist für diejenigen von besonderem Interesse, die sich für die einzelnen behandelten Länder interessieren und er stellt eine gute Basis dar für vergleichende Studien zu Rechtspopulismus.
Rezension von
Dr. Michael Kohlstruck
Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsstelle Jugendgewalt und Rechtsextremismus am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin
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Es gibt 5 Rezensionen von Michael Kohlstruck.
Zitiervorschlag
Michael Kohlstruck. Rezension vom 04.04.2016 zu:
Frank Decker, Bernd Henningsen, Kjetil Jakobsen (Hrsg.): Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa. Die Herausforderung der Zivilgesellschaft durch alte Ideologien und neue Medien. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2015.
ISBN 978-3-8487-1206-9.
International studies on populism, Band 2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19785.php, Datum des Zugriffs 04.10.2024.
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