Claudia Spahn, Bernhard Richter: Musik mit Leib und Seele
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 11.04.2016
Claudia Spahn, Bernhard Richter: Musik mit Leib und Seele. Was wir mit Musik machen und sie mit uns. Balance Buch + Medien Verlag (Köln) 2015. 208 Seiten. ISBN 978-3-86739-114-6. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,90 sFr.
Thema
Zehn Essays ergründen und beschreiben die Funktion und Wirkung von Musik in Kultur, Bildung, Alltag und Konzert. Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Emotionen und Musik, welche Stimmen sprechen uns an, vor allem: wann und warum? Welche Vorgänge finden statt beim Hören? Die unterhaltsam geschriebenen Aufsätze führen in die Welt der Musik, der Musiker, berühmter Bühnenwerke und deren Bedeutung ein und beschreiben, welche Bedeutung Musik haben kann.
Autorin und Autor
- Claudia Spahn,(Prof. Dr. med., Dipl. Mus.) Instrumental- und Ballettausbildung, Studium der Romanistik, Musik und Medizin, Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, Konzerttätigkeit. Professorin für Musikermedizin und Leitung des Freiburger Instituts für Musikermedizin an der Hochschule für Musik und Universität Freiburg.
- Bernhard Richter (Prof. Dr. med., staatl. gepr. Sänger), Stimm- und Instrumentalausbildung. Studium der Musikwissenschaft, Musik und Medizin. Facharzt für HNO und Phoniatrie/Pädaudiologie. Konzerttätigkeit, Professor für Musikermedizin mit Schwerpunkt künstlerische Stimmbildung, Leitung des Instituts für Musikermedizin in Freiburg.
Aufbau und Inhalt
In zehn Kapiteln finden sich eine Mischung übergeordneter Themen, sowie die Beschäftigung mit einzelnen musikalischen Werken.
Musizieren mit Körper und Seele. Musik ist universell, Musik wirkt positiv auf Körper und Seele, Musik gehört zum Menschen seit den frühesten Kulturen, Musik begleitet und ist Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklung und markiert historische Epochen und Übergänge. Zugänge finden sich beim Singen, Tanzen, Hören und wirkt in mehrdimensionaler Richtung: in uns, durch uns und als soziales Phänomen. Diese Aspekte verknüpfen Spahn und Richter mit vielen Beispielen der Musik- und Sozialgeschichte, von den frühen Flötenschnitzereien eiszeitlicher Höhlenbewohner, über die sog. „Klassische Musik“ zur Marseillaise, zu den Beatles und in die heutige Zeit. Die Kernaussage dieses Kapitels: Musik bildet eine Brücke zwischen Körper und Seele und zwischen Menschen und ermöglicht „einen großen Reichtum an Möglichkeiten“ (31) und ist damit eine Bereicherung.
Das Dschungelbuch. „Versuchs mal mit Gemütlichkeit“, der Song des Bären Balu, die zwei Lieder der Schlange Kaa, Colonel Harthis Elefantenparade, „Ich will so sein wie du!“ von King Lui, das Quartett der Geier und schließlich das Lied des Mädchens in der Menschensiedlung („Und ich werde Wasser tragen“); das Kapitel erschließt die Geschichte und die Musik der Disneyverfilmung des „Dschungelbuch“. Die unterschiedlichen Charaktere der Geschichte, deren stimmliche Umsetzung, deren unmittelbare – geplante – Wirkung auf den Betrachter und einen Exkurs zur Filmmusik im Allgemeinen bietet Kapitel zwei. Musik und Film bilden, wie am konkreten Beispiel ausgeführt wird eine Einheit, zwei sich ergänzende Elemente, die den Film auf unterschiedlichen Ebenen erzählen.
Göttliche Stimmen. Auf Maria Callas, Elvis Presley, die besonderen Stimmen bekannter Tenöre oder die Stimme des Kastraten Farinelli als „Sonderform des gottgleichen Gesangs“ (57) wird im dritten Kapitel eingegangen. Die Besonderheit menschlicher Stimmen wird hier als Prozess der musikalischen Einbettung in soziale Zusammenhänge, in Anlässe des Hörens, in der Art der Präsentation, der Vermarktung und Inszenierung beschrieben. Es gibt schöne Stimmen und es gibt besonders schöne Stimmen. Die Klassifikation als „göttlich“ wird als Wahrnehmungsprozess beschrieben, der neben der rein physischen Ebene immer auch individuelle und soziale Aspekte beinhaltet. Musik wird dadurch personalisiert und sozialisiert, überlebt schließlich die Künstler selbst und wird als Idee einer Musik konserviert. Ein mitunter „göttlicher“ Vorgang.
Sängerkrieg der Heidehasen. Die Geschichte des Hörspiels, die Suche nach einem Ehemann für des Königs Tochter der aus einem Sängerwettbewerb hervorgehen soll und um dessen Ausgang eine Reihe von Intrigen gesponnen sind, ist Grundlage dieses Kapitels. Förderung des Gesangs, dessen aktive Ausübung, die Definition des Gesangs als „Oberbegriff für verschiedene Formen kommunikativer Lautäußerungen“ und die damit verbundene Entwicklung von Identität kann als Grundlage gesellschaftlichen Lebens aufgefasst werden. Das Kapitel geht auf diesen besonderen Aspekt musikalischen Lebens ein und beschreibt einige geschichtliche und aktuelle Projekt zur Musikförderung.
Die Zauberflöte. Inhalt und Musik dieser Oper, die Rezeptionsgeschichte, verschiedene soziale Aspekte des Handlungsstrangs werden in Kapitel fünf aufgegriffen. Die Zauberflöte ist eine der bekanntesten Opern, die allgegenwärtig aufgeführt, breite Massen an diese Kunstform heranführt. Neben der Eingängigkeit von Handlung und Musik geht es in dem Werk um Menschlichkeit und Toleranz, Frieden und Freiheit. Diese grundlegenden Inhalte werden, so die AutorInnen, in spielerischer Art und Weise vermittelt, ein Ansatz der exemplarisch sein könnte. Musik hilft auf manchmal zauberhafte Weise „Aufgaben im Leben zu meistern“ denn „sie hat Zauberkraft, wenn wir sie zu nutzen wissen“ (115), was für kleine und große Aufgaben gleichermaßen gelten kann.
Hören. Das Ohr als Tor zur Seele, hören als physikalischer Prozess und die seelische Wirkung akustischer Wahrnehmung werden im folgenden Abschnitt behandelt. Schwerpunkte liegen bei der Funktionsweise des Ohrs und der Vernetzung der physikalischen Vorgänge mit seelischen Reaktionen. Dazu referieren die AutorInnen einzelne Befunde aus der Musikwirkungsforschung, z. B. dem Einsatz von Musik zur Beeinflussung des Kaufverhaltens.
Musik und Spracherwerb. Die Möglichkeit sprachlicher Mitteilung ist essentiell für die menschliche Existenz, der Erwerb von Sprache ein früh beginnender, allmählicher Entwicklungsprozess. Sprache beinhaltet musikalische Elemente, die dem Gesagten Ausdruck und Farbe, Individualität und tieferen Sinn verleiht. Der Zusammenhang von Spracherwerb und Musik wird auch in der Sprachförderung genutzt, durch Abzählreime und einfache Lieder, die Rhythmisierung von Worten, wodurch deren Eigenschaften erfahren werden können, Zusammenhänge erschließbar werden. Dieses Kapitel erschließt diese Zusammenhänge und ermöglicht abschließend einen Blick über den Tellerrand mit Bezug auf Tonsprachen, deren Bedeutung (z. B. im Chinesischen) dargestellt wird.
Stimmen in den Medien. Stimme, Sprache und Gesang erfahren in der medialen Darstellung eine besondere Inszenierung und bilden die Grundlage für die Rezeption sprachlicher und musikalischer Inhalte. Kapitel acht widmet sich den Genres Schallplatte, Radio, Film und Fernsehen und Internet und erschließt die kulturgeschichtliche Entwicklung dieser Medien anhand exemplarischer Beispiele.
Auftrittsrituale. „Toi Toi Toi“, „Hals- und Beinbruch“ – Rituale vor dem Auftritt dienen der ritualisierten Bewältigung von Stress und Lampenfieber. Das Kapitel erschließt diese Thematik und die Rituale berühmter Musiker: Gideon Kremer, Yvette Guilbert, Vladimir Horowitz oder Enrico Caruso und gewährt damit einen Einblick hinter die Kulissen des glamourösen Musikbetriebs. Es sind Menschen, die einen Auftritt als Herausforderung, als Extremsituation wahrnehmen, der sie sich stellen und die sie bewältigen wollen. Ein nicht zu unterschätzender Aspekt.
Orpheus. Der Orpheusmythos, die griechische Göttersage und die darauf aufbauende Oper „Orpheus und Eurydike“ bilden das Abschlusskapitel der Essaysammlung. Spahn und Richter referieren den Inhalt und die Rezeptionsgeschichte des Bühnenwerks, dessen Musik und Libretto und verweisen abschließend auf die Wirkung der Musik und des Gesangs, als „überirdische“ Instanz, die den Menschen berührt und verzaubert und zu neuen Empfindungen bewegen kann.
Zielgruppe
Das Buch richtet sich an alle, die sich mit der Wirkung von Musik beschäftigen wollen: (Profi)musiker, Musikliebhaber, und „Alltagshörer“. Die Lektüre der unterhaltsam und sachkundig geschriebenen Essays setzt keine Sachkenntnis voraus.
Diskussion
Die Wirkung von Musik, mögliche gesundheitsfördernde Aspekte des Musizierens, die Faszination einzelner Musik- und Bühnenwerke, der Zusammenhang von Spracherwerb und Musik, zu diesen Aspekten sind in den vergangenen Jahren einige Publikationen erschienen (vgl. https://www.socialnet.de/rezensionen/17090.php). Die Aufsatzsammlung von Spahn und Richter nähert sich der Thematik in feuilletonistischer Art, weniger mit wissenschaftlichem, sondern eher mit unterhaltendem Anspruch. Einzelne Bühnenstücke, Lieder, Filme und Künstler werden vorgestellt und es wird deutlich, welchen Spaß die beiden AutorInnen mit der Musik und den einzelnen Stücken haben und wie wichtig ihnen die Vermittlung ihrer Überlegungen, vor allem aber ihrer Begeisterung ist.
Die Auswahl der einzelnen Themen, die Zusammenstellung der Stücke wirkt dabei zufällig. Dem Buch fehlt ein klarer Aufbau, ein Ziel, jenseits der Begeisterung für Musik und das Musizieren. Überhaupt die Auswahl: Das Dschungelbuch, die Zauberflöte. Das sind sicher gute Beispiele für die jeweiligen Genres. Nach der Lektüre bleibt allerdings offen, warum gerade diese Stücke ausgewählt wurden, warum gerade die Musikstücke aus dem Dschungelbuch so breit vorgestellt und analysiert werden. Zwischendurch finden sich ergänzende Exkurse über z. B. evolutionsbiologische Zusammenhänge des Hörens, des Spracherwerbs oder zu den besonderen Aspekten des Kastratengesangs. Das ist interessant, immer unterhaltsam geschrieben, kurzweilig. Der erwartete Tiefgang, den die beiden Musikmediziner zu bieten hätten, bleibt oft außen vor. Zu sehr drängt die Begeisterung, die Freude an der Musik wissenschaftliche Fakten zur Seite, die aber nötig gewesen wären, um die Wirkung der Musik, vor allem die gesundheitsfördernde zu erschließen. Stattdessen findet sich eine nett zu lesende Sammlung wenig sortierter Themen, ein Blumenstrauß, der hübsch anzusehen ist, der aber für sich genommen, um im Bild zu bleiben, keine Einführung in die Botanik ist. Was sind die aktuellen empirischen Befunde zur Wirkung des Singens? Welche gesundheitsschädigenden Auswirkungen finden sich bei ProfimusikerInnen? Welche Bedeutung hat der Rock´n Roll für die gesellschaftliche Entwicklung? Welche der Jazz, Rap, Volksmusik? Wie steht es um die Kommerzialisierung der Musik, die Bedeutung der Musikstreamingdienste und die damit verbundene Verfügbarkeit jeder Musikrichtung und jeden beliebigen Musikstücks?
Das Anliegen, ein Buch für das breitere Publikum zu schreiben hat einen tiefergehenden Anspruch, die Vermittlung des aktuellen Wissensstandes zur Wirkung von Musik, verhindert. Das ist bedauerlich, allerdings kein allzu großer Schaden. Die Aufsatzsammlung von Spahn und Richter bietet immer noch genügend Einblicke in die Thematik, deren Lektüre allemal ein Vergnügen ist.
Fazit
Eine unterhaltsam geschriebene Annäherung an die Frage, wie Musik auf den Menschen wirkt, wie wir mit Musik umgehen und welche Bedeutung Musik haben kann. In zehn Kapiteln werden einzelne Musik- und Bühnenwerke, physikalisch-seelische Zusammenhänge des Hörens, die Besonderheiten des Bühnenauftritts und die gesellschaftliche Bedeutung der Musik aufgegriffen. Der Anspruch des Buches ist, auf unterhaltsame Art einen ersten Einblick in einzelne Aspekte der Thematik zu verschaffen. Dadurch wird das Buch den Zugang zu einer breiteren Leserschaft finden und auf diese Weise für das Thema sensibilisieren.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 177 Rezensionen von Gernot Hahn.
Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 11.04.2016 zu:
Claudia Spahn, Bernhard Richter: Musik mit Leib und Seele. Was wir mit Musik machen und sie mit uns. Balance Buch + Medien Verlag
(Köln) 2015.
ISBN 978-3-86739-114-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19791.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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