Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Jürgen Osterbrink, Franziska Andratsch: Gewalt in der Pflege

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 29.06.2016

Cover Jürgen Osterbrink, Franziska Andratsch: Gewalt in der Pflege ISBN 978-3-406-68168-4

Jürgen Osterbrink, Franziska Andratsch: Gewalt in der Pflege. Wie es dazu kommt. Wie man sie erkennt. Was wir dagegen tun können. Verlag C.H. Beck (München) 2015. 240 Seiten. ISBN 978-3-406-68168-4. D: 16,95 EUR, A: 17,50 EUR, CH: 25,90 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

Gewalt in der Pflege ist ein Thema, über das bisher noch recht wenig bekannt ist. Repräsentative Erhebungen liegen nicht vor. Bekannt werden Einzelfälle meist durch Skandalberichte über Patiententötungen in Krankenhäusern. Auf Seite der Öffentlichkeit besteht jedoch ein großes Interesse hierüber mehr zu erfahren.

Autor und Autorin

  • Professor Dr. Jürgen Osterbrink, Krankenpfleger, Studium der Pflegewissenschaften in Schottland und Belgien, gegenwärtig Vorstand des Instituts für Pflegewissenschaft und -praxis an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg (Österreich) sowie Professor für Pflegewissenschaft an der Universität Nord-Florida in Jacksonville (USA).
  • Franziska Andratsch, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Pflegewissenschaft und -praxis an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg.

Aufbau und Inhalt

Die Arbeit ist in sechs Kapitel nebst Einleitung, Schlussbemerkungen und Anhang untergliedert.

In Kapitel 1 (Gewalt in der Pflege und ihr Ausmaß, Seite 13 – 26) werden in knapper Form Fallbeispiele bezüglich der Gewalt in der Pflege angeführt: u. a. Ruhigstellung durch Psychopharmaka bei Demenzkranken, gewaltsamer Transfer in den Rollstuhl, Schläge, fehlende Behandlung von Wundgeschwüren und falsche Medikation mit teils tödlichen Folgen. Des Weiteren werden Fälle von Patiententötungen aus dem Krankenhausbereich in Deutschland exemplarisch aufgelistet.

Kapitel 2 (Pflege – eine asymmetrische Beziehung, Seite 27 – 65) thematisiert das Machtgefälle zwischen den Pflegenden und den Kranken, Gebrechlichen und Pflegebedürftigen. Die Formen der Gewalt hierbei werden von den Autoren in personale, finanzielle, sexuelle, strukturelle und kulturelle Gewalt unterschieden und anhand konkreter Beispiele veranschaulicht. Anschließend wird kurz die „legitime“ Gewalt in der Pflege auf richterliche Anordnung hin zum Schutz der Betroffenen (Fixierungen u. a.) beschrieben. Der Abschluss des Kapitels besteht aus der Darstellung von Aggressionen in der Pflege seitens der Patienten und Bewohner anhand kurzer Falldarstellungen.

In Kapitel 3 (Lainz – ein exemplarischer Fall von Patiententötungen, Seite 66 – 134) geht es um eine sehr ausführliche Darstellung eines Falles von mehrfachen Patiententötungen durch vier Pflegehelferinnen in einem Krankenhaus in Wien in dem Zeitraum von 1983 bis 1988. Anhand der Prozessunterlagen haben die Autoren die konkreten Umstände dieses Geschehens detailliert unter den Aspekten Patienten, Arbeitsbedingungen, Handlungsspektrum der Täterinnen, Zusammenarbeit mit Ärzten und Kontrollmechanismen beschrieben und analysiert. Bei den Patienten handelte es sich überwiegend um schwerpflegebedürftige und oft auch dementiell erkrankte alte Menschen, die in großen Krankensälen mit bis zu 28 Betten untergebracht waren. Fachpflegende waren in dieser Abteilung nicht tätig, so dass die Pflegehelferinnen auch behandlungspflegerische Tätigkeiten einschließlich Spritzen setzen durchführten. Obwohl für die Station ein Arzt zugewiesen war, mussten die Pflegenden in Bedarfsfällen wie extremer Schmerz (Schreien und Krümmen) und Verwirrtheitszuständen oft stundenlang auf ärztliche Unterstützung warten. Für 35 Patienten waren pro Schicht nur zwei Pflegende vorgesehen, die alle pflegerischen Tätigkeiten zu erledigen hatten. Eine Pflegedokumentation existierte nicht. Es gab auch keine regelmäßigen Schulungen und Fortbildungen für das Pflegepersonal. Da bei Schmerzen seitens der meisten Ärzte keine Medikamentengabe verordnet wurde, griffen einige Pflegende zur Selbsthilfe und verabreichten die erforderlichen Schmerzmittel selbst, da sonst „dieses ewige Gejammer der Patienten nicht auszuhalten gewesen wäre.“ (Seite 85). Die Tötungen in Lainz erfolgten durch Spritzen (intravenöse Verabreichungen u. a. von Rohypnol und Insulin) und durch Ersticken (so genannte „Mundpflege“). „Dabei wurde Wasser in die Atemwege eingeflößt, gleichzeitig die Zunge mit einem Spatel nach unten gedrückt. Der Tod tritt bei dieser Tötung entweder durch Ersticken ein, was sich einige Stunden hinziehen kann, oder durch einen Kehlkopfkrampf, der innerhalb von wenigen Minuten zum Tod führt.“ (Seite 87). Begründet und gerechtfertigt wurde das Handeln u. a. mit dem Hinweis, dass die Tötungen letztlich eine „Sterbehilfe“ der oft schon moribunden Patienten wäre. Man wollte den Betroffenen nur weiteres Leid ersparen. Die Täterinnen wurden zu lebenslangen und langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Kapitel 4 (Demographische Entwicklungen und epidemiologische Hintergründe, Seite 135 – 156) beinhaltet einige wesentliche Fakten über die Alterung der Gesellschaft bezüglich der Pflegebedürftigkeit, die Bedürfnisse und Wünsche der alten Menschen im Falle der Gebrechlichkeit, einer Erkrankung und beim Sterben. Obwohl sich die Menschen mehrheitlich wünschen, zu Hause sterben zu können, sterben in Deutschland die Hälfte im Krankenhaus und ca.20 bis 30 Prozent in den Heimen.

In Kapitel 5 (Ursachen und Hintergründe von Gewalt in der Pflege, Seit 157 – 182) werden wesentliche Faktoren zusammengefasst, die Gewalt in der Pflege verursachen können. Die Autoren gehen von der Einschätzung aus, dass es sich bei der Pflege um eine „grenzüberschreitende Dienstleistung am Menschen“ handle, denn die „persönliche Intimgrenze wird überschritten und dadurch die seelische Integrität der Betroffenen häufig verletzt.“ (Seite 159). Als Belastungselemente werden u. a. neben der Intimität, Alter, Tod und das Leiden aufgeführt. Des Weiteren werden institutionelle Ursachen für die Gewalt in der Pflege genannt: „totalitäre Institutionszüge“ in Anlehnung an Goffman, personelle Unterbesetzung, unzureichende Führung, Konflikte bei den Mitarbeitern und unzureichende Kommunikation, schlechte Bezahlung und fehlende Anerkennung der Arbeit.

Kapitel 6 (Was wir gegen Gewalt in der Pflege tun können, Seite 183 – 216) listet eine Reihe von Strategien zur Vermeidung der Gewalt in der Pflege auf. Zu Beginn verweisen die Autoren auf den wachsenden Widerspruch zwischen der Logik des Heilwesens und der Logik der Kapitalinteressen hin. Angesichts einer zunehmenden Entstaatlichung und parallel dazu verlaufenden verstärkten Privatisierung des Gesundheits- und Sozialwesens werden die Belastungen der Mitarbeiter einschließlich der Pflegenden in Zukunft eher noch zunehmen, gilt es doch, Renditeerwartungen im Leistungsvollzug entsprechen zu müssen. Im Anschluss werden präventive Maßnahmen angeführt, die gemäß des Auftretens der Gewalt in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention unterschieden wird. Konkret werden u. a. die Unterstützung durch Supervision und Balintgruppen genannt. Dass Pflegende auch ein bestimmtes Maß an Einfühlungsvermögen besitzen müssen, um für Pflegehandlungen geeignet zu sein, wird auch erwähnt. Ausführlich wird auf die Bedeutung der „Selbstpflege“ oder „Psychohygiene“ eingegangen. Des Weiteren werden Aspekte der Zusammenarbeit u. a. in Gestalt der Kommunikation und Interaktion bei Problemen und Gewaltaspekten in der Pflege („Fehlerkultur“) als tragende Elemente für die Gewaltvermeidung herausgearbeitet.

Diskussion und Fazit

Pflege ist ein äußerst sensibles und interaktives Geschehen, das ein bestimmtes Maß an persönlichen Eigenschaften der Pflegenden und zugleich auch stützende und fördernde Rahmenbedingungen der Institutionen erforderlich macht. Werden diese Elemente nicht angemessen berücksichtigt, kann Gewalt in unterschiedlicher Form in der Pflege auftreten. Wenn dauernder Stress und Überforderung verbunden mit Verunsicherung und interaktiver Kälte den Alltag in den Heimen und Krankenhäusern bestimmen, dann leidet die Empathie und Bereitschaft zur persönlichen Zuwendung zum Wohle der Bewohner und Patienten. Mit einem von Überlastung verursachten „Tunnelblick“ kann kein krankheitsangemessener Umgangsstil bei der Pflege und Betreuung praktiziert werden.

Den Autoren ist es gelungen, die wesentlichen Wirkfaktoren für die Gewalt in der Pflege u. a. auch anhand konkreter Beispiele aus dem Pflegealltag aufzuzeigen. Das Buch kann daher als Einstiegslektüre in dieses Themenfeld empfohlen werden.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
Website
Mailformular

Es gibt 225 Rezensionen von Sven Lind.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 29.06.2016 zu: Jürgen Osterbrink, Franziska Andratsch: Gewalt in der Pflege. Wie es dazu kommt. Wie man sie erkennt. Was wir dagegen tun können. Verlag C.H. Beck (München) 2015. ISBN 978-3-406-68168-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19795.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht