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Ute Holfelder, Christian Ritter: Handyfilme als Jugendkultur

Rezensiert von Dr. Nora Katenbrink, 01.03.2016

Cover Ute Holfelder, Christian Ritter: Handyfilme als Jugendkultur ISBN 978-3-86764-608-6

Ute Holfelder, Christian Ritter: Handyfilme als Jugendkultur. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2015. 200 Seiten. ISBN 978-3-86764-608-6. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,90 sFr.

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Thema

Der Handyfilm ist einerseits ein alltägliches, jugendkulturelles Phänomen. Andererseits wird sowohl das Filmen mit dem Handy als auch das Anschauen und Teilen von Handyfilmen durch Jugendliche eher kritisch bzw. besorgt betrachtet. Die kulturwissenschaftliche Studie von Ute Holfelder und Christian Ritter analysierte die Praktiken im Zusammenhang mit dem Handyfilm aus der Perspektive der jugendlichen Akteure, um darauf aufbauend Vorschläge für eine medienpädagogische Auseinandersetzung mit dem Handyfilm zu präsentieren. Verfolgt wird ein doppeltes Anliegen. Zum einen möchten sie mit einem kulturwissenschaftlich begründeten Fokus die Perspektive der Jugendlichen auf das alltägliche Phänomen Handyfilm unter Absehung der negativen Assoziationen dazu beschreiben. Zum anderen sollen diese empirischen Ergebnisse einem breiten Publikum verständlich zugänglich gemacht werden.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in drei Teile.

  1. Im ersten Teil (Kap. 1-2) wird die theoretische Grundlage für die Rezeption der weiteren Buchabschnitte gelegt, indem in die theoretische Perspektive, das Forschungsprojekt sowie die Vorgeschichte des Handyfilms eingeführt wird.
  2. In den Kapiteln drei bis sechs werden anschließend die zentralen Ergebnisse der Studie präsentiert.
  3. Drittens (Kap. 7) schließt das Buch mit konkreten Vorschlägen für die Medienbildung.

Zum 1. Teil

Die ersten beiden Kapitel des Buches widmen sich den theoretischen und kulturellen Grundlagen des Handyfilms. In der Einleitung werden pointiert die Prämissen und Vorgehensweisen der Studie sowie die kulturelle und technische Vorgeschichte des Handyfilms vorgestellt.

So wird unter einem Handyfilm nicht lediglich ein digitaler Film, der als Datei gespeichert wird, verstanden, sondern in einem kulturell orientierten Verständnis verweise „der Begriff Handyfilm auf die Kontexte, Akteure und Handlungen, welche die Herstellung des technischen Artefakts begleiten“ (S. 9). Zudem wird der Handyfilm als jugendkulturelles Phänomen fokussiert, indem in dieser Studie lediglich Jugendliche und ihre Perspektiven und Praktiken berücksichtigt werden. Im Gegensatz zu der massenmedialen Kritik wird ferner der Handyfilm als „jugendkulturelle Ressource“ (S. 10) gesehen, weil die verschiedenen Praktiken (Filmen, Teilen, Anschauen) im Zusammenhang mit dem Handyfilm als „eine Möglichkeit betrachtet [wird], im kreativen Umgang mit Technik und Ästhetik den eigenen Alltag und die damit verbundenen Erfahrungen und Vorstellungen zu verhandeln.“ (S. 10). Die Studie wurde von 2012-2014 als transdisziplinäre Studie mit Kulturwissenschaftler/innen und Künstler/innen auf der Basis von ethnographischen Verfahren (teilnehmende Beobachtungen, Befragungen und Interviews) und film- und bildwissenschaftlichen Methoden (Auswertung von Handyfilmen) durchgeführt. Die übergeordnete Fragestellung lautet, welche sozialen Funktionen von Handyfilmen im Alltag von Schweizer Jugendlichen im Alter von 13 bis 23 Jahren auszumachen sind. Nutzung, Konsum, Verbreitung und Herstellung von Handyfilmen und auch technische und ästhetische Dimensionen. Im zweiten Kapitel wird die Geschichte der Handykamera und ihrer Nutzung durch nicht professionelle Akteure entfaltet. Deutlich wird dabei vor allem die Wechselwirkung zwischen der Geschichte der technischen Aufnahmegeräte und der Geschichte der sozialen Praktiken mit diesen.

Zum 2. Teil

Im zweiten Teil des Buches werden anhand der Themen „Praktiken“ (Kap. 3), „Handyfilm-Ästhetik“ (Kap. 4), „Aneignung und Jugendkultur“ (Kap. 5) und „Anlässe und Motive“ (Kap. 6) die zentralen Ergebnisse der Studie präsentiert.

Unter Praktiken fallen das Aufnehmen, Anschauen, Archivieren, Verschicken und/oder ins Internet Stellen von Handyfilmen. Ausgedeutet wird dies in der kulturwissenschaftlichen Perspektive als soziale Handlungen, die in Prozesse der Dokumentation, Kommunikation und Interaktion eingebettet sind. Für die Jugendlichen werden so ihre Alltagserfahrungen innerhalb ihrer sozialen Gruppe verhandelbar und der Handyfilm bietet ihnen Möglichkeit, Identitäten zu entwerfen.

Als zentrale Funktionen der Praktiken können Holfelder und Ritter das Erinnern und die Bearbeitung von Erinnerungen, Inszenierung und damit einhergehend Identitätsentwürfe und deren Erprobung, die Pflege von sozialen Beziehungen sowie das Spaßhaben herausarbeiten. Darüber hinaus können Filme zur sozialen Positionierung genutzt werden, indem sie beispielsweise die Teilnahmen an jugendkulturell bedeutsamen Events dokumentieren. Für die Autor/innen ist es zudem eine zentrale Erkenntnis, dass die Jugendlichen beim Teilen zwischen privaten und öffentlichen Bereichen unterscheiden und sich bewusst für das Teilen über das Internet bzw. das Einstellen von Handyfilmen ins Internet entscheiden.

Unter dem Stichwort Handyfilm-Ästhetik wenden sich die Autor/innen der Beschreibung der sicht- und hörbaren Ebenen des Handyfilms zu. Neben der Abhängigkeit der Ästhetik von den technischen Parametern des Aufnahmegerätes präsentiert ein Film einen bestimmten Blick auf Welt (räumlicher Ausschnitt, ausgewählter Zeitpunkt, festgelegte Dauer). Die Verfasser/innen gehen von einer unbewussten Bezugnahme der jugendlichen Filmer/innen auf mediale Vorbilder aus. Dies wird anhand der Kamerabewegung als erzählerisches Mittel, der Ästhetik der Authentizität, Einflüsse fotographischer Bildgestaltung sowie der Kombination von Ton und Bild genau entfaltet. Es zeigt sich, dass es eigene Kodes und Standards für die Ästhetik von Handyfilmen gibt: Gerade weil die technischen Möglichkeiten begrenzt sind und häufig situativ bzw. spontan gefilmt wird, unterscheiden sie sich von den perfekten Produkten aus Kino und Fernsehen.

Eine Adaption vorgefundener Medieninhalte stellt die jugendkulturelle Aneignung und Veränderung der Themen der Pop- und Jugendkultur in den Handyfilmen dar. Die Jugendlichen belegen diese Inhalte in ihrem jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext so mit neuen Bedeutungen. Anhand des Musikvideos zum Song „Gangnam Style“ kann dies zugleich als ein alltägliches wie auch globales Phänomen beschrieben werden. Auch wenn häufig der Spaß im Vordergrund steht, fällt die Aneignung von Medieninhalten oft zusammen mit Aneignung von sozialen Rollen, des technischen Geräts und der räumlichen Situation. Die jugendkulturellen Aneignungen des „Nossa Nossa Phänomens“ wird in Hinblick auf Geschlechter- und Körperbilder analysiert. Die beiden Verfasser/innen arbeiten heraus, dass es den Jugendlichen die Möglichkeit bietet, Aspekte von Körper, Geschlecht und Sexualität auszuprobieren. Es ist eine zweckfreie, spielerische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsidentität. „Die Aneignung von Körperbildern durch das Filmen mit dem Handy, so ein Fazit, kann herrschende Vorstellungen über die Repräsentation von Geschlechteridentitäten zugleich infrage stellen wie aufrechterhalten.“ (S. 78).

Schließlich werden die zahlreichen Anlässe und Motive von jugendlichen Handyfilmen beleuchtet. Durch die kombinierte Analyse von Anlass und Motiv wird die breite Verwendung bzw. werden die vielfältigen Praktiken in Bezug auf den Handyfilm noch einmal deutlich. Am Thema „Arbeit und Schule“ kann das Vorgehen der Studie exemplarisch verdeutlicht werden. In Hinblick auf beide Aspekte thematisieren Holfelder und Ritter positive bzw. sozial erwünschte Praktiken im Zusammenhang mit dem Handyfilm. So gilt ist es insbesondere in kreativen Berufen (Koch, Frisör) als legitim und erwünscht gelungene Arbeitsprozesse und -produkte filmisch zu dokumentieren. Zugleich kann das Filmen in Schule oder bei der Arbeit einen Streich oder gar eine verbotene Tätigkeit darstellen, die Sanktionen zur Folge haben kann. Dann verändert sich die Funktion bzw. der Anlass des Filmens: Das Filmen wird zur Mutprobe oder gar zur Infragestellung der Regeln des Arbeitsplatzes.

In einem abschließenden Abschnitt des sechsten Kapitels werden schließlich die Grenzen von Handyfilmen thematisiert, indem Fragen der Privatsphäre sowie der Darstellung von Gewalt behandelt werden. In der Perspektive der Jugendlichen gehören zur Privatsphäre sexuelle Handlungen, Essen, Toilettengänge und Sich-Übergeben. Das Filmen gilt hier als sozial wenig akzeptiert. Ebenso sehen es die befragten Jugendlichen als Grenzüberschreitung, wenn Unfälle, Schlägereien, sexuelle Übergriffe oder gar Selbstmordversuche gefilmt werden. Die durchaus vorhandenen, online verfügbaren derartigen Filme werden kritisch von den Jugendlichen gesehen.

Zum 3. Teil

Im dritten Teil des Buches werden fünf Module als Vorschläge für die Medienarbeit vorgestellt. Im Rahmen der Module sollen für die Jugendlichen die eigenen Erfahrungen und Praktiken rum um das Filmen mit dem Handy verstehbar werden. Diese Module wurden in Pilot-Projekten in der schulischen und außerschulischen Medienarbeit erprobt. Entsprechend sind die Adressat/innen der Vorschläge Lehrkräfte und Pädagog/innen der außerschulischen Jugend- und Medienbildung wie Sozialpädagog/innen, die die Vorschläge jedoch gegebenenfalls auf ihr Arbeitsfeld anzupassen haben. Das übergeordnete Ziel der hier fokussierten Medienbildung „besteht darin, Jugendliche für ihr eigenes Medienhandeln zu sensibilisieren und das (alltägliche) Filmen mit dem Handy als Ressource starkzumachen“ (S. 125).

Diskussion

Den selbst gesetzten Zielen wird die vorliegende Publikation außerordentlich gerecht.

  1. gelingt es in der Tat eine nicht wertende, sondern sorgsam beschreibende Perspektive auf die jugendkulturellen Praktiken im Zusammenhang mit den Handyfilmen zu entfalten. Besonders die kulturwissenschaftliche Perspektive erscheint hierfür sehr ertragreich. So ist es sicherlich eine Stärke, die empirische Breite der Praktiken aufzuzeigen und diese Praktiken zugleich immer wieder in die Mediengeschichte bzw. vorhandene und andere kulturelle Praktiken mit Medien einzuordnen. Es ist eine wohltuende Entdramatisierung eines massenmedial sehr negativ assoziierten Phänomens, ohne dass alles ‚schön geredet‘ wird.
  2. wird gerade auch aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlich wenig kundigen Leserin das Ziel erreicht, die empirisch und auch theoretisch fundierten Ergebnisse sehr verständlich zu vermitteln. Das Buch ist auch aufgrund der Einbindung von Bildmaterial bzw. die Verweise auf im Internet verfügbare Filme sehr anschaulich und sehr gut nachvollziehbar.
  3. sind die Vorschläge für die Medienbildung, die wiederholt und deutlich an die empirischen Erkenntnisse rückgebunden werden, schlüssig und erscheinen als gut umsetzbar. Und wiederum überzeugt die ressourcenorientierte Perspektive, die es glaubhaft macht, eine jugendliche Klientel zu erreichen. Einzig eine pointierte und einordnende Gesamtbilanz der empirischen Ergebnisse wäre noch zu wünschen gewesen.

Fazit

Entsprechend empfiehlt sich dieser Band durchaus auch für Wissenschaftler/innen, die sich mit Jugendlichen, Jugendkulturen und deren Praktiken beschäftigen, aber eben auch für pädagogisch Tätige, die nicht eng ins Wissenschaftssystem eingebunden sind. Nicht zuletzt durch die guten Querverweise ist es beiden Leser/innengruppen möglich, sich in der Lektüre auf die jeweilig interessanten Kapitel zu fokussieren.

Rezension von
Dr. Nora Katenbrink
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Es gibt 5 Rezensionen von Nora Katenbrink.

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Zitiervorschlag
Nora Katenbrink. Rezension vom 01.03.2016 zu: Ute Holfelder, Christian Ritter: Handyfilme als Jugendkultur. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2015. ISBN 978-3-86764-608-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19801.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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