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Rudolf Egg: Die unheimlichen Richter (Gutachter Strafjustiz)

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 16.08.2017

Cover Rudolf Egg: Die unheimlichen Richter (Gutachter Strafjustiz) ISBN 978-3-570-10242-8

Rudolf Egg: Die unheimlichen Richter. Wie Gutachter die Strafjustiz beeinflussen. C. Bertelsmann (München) 2015. 287 Seiten. ISBN 978-3-570-10242-8. D: 17,99 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 24,50 sFr.

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Thema

Rudolf Egg unternimmt mit dieser Publikation den Versuch die Arbeit rechtspsychologischer und forensisch-psychiatrischer Gutachter in Strafverfahren einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Ausgehend von seiner eigenen jahrzehntelangen Praxis in diesem Metier beantwortet er, welche Aufgabe Gerichtspsychologen haben, wie es um die Qualität der Gutachten bestellt ist, wie diese eigentlich zustande kommen und welche Rolle diese Gutachter in Strafverfahren haben. Damit möchte er dem Eindruck entgegenwirken, Gutachter seien im Justizwesen die heimlichen Richter, deren Einschätzungen über den Ausgang von Gerichtsverfahren befinden.

Autor

Rudolf Egg, Dipl. Psychologe leitete von 1997 bis 2014 als Direktor die von Bund und Ländern getragene Kriminologische Zentralstelle in Wiesbaden und lehrt seit 1990 als apl. Professor für Psychologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Langjährige Tätigkeit als Gerichtsgutachter und vielgefragter Sachverständiger in Fragen der Kriminal- und Rechtspsychologie.

Aufbau und Inhalt

In dem neben Einleitung und Anmerkungen/Register in sieben Kapitel unterteilten Werk befasst sich Rudolf Egg mit

  • den Aspekten der Aussagepsychologie und Glaubwürdigkeitsfragen („Wer sagt die Wahrheit?“),
  • kriminalpsychologischen Prognosen („Blick in die Zukunft“),
  • der Kriminaltherapie („Täterbehandlung ist kein Allheilmittel“),
  • Fragen der Schuldfähigkeit („Schuld und Strafe“),
  • Ausbildungs- und Mindeststandards in der rechtspsychologischen Begutachtung („Wege und Irrwege“), sowie abschließend mit
  • Überlegungen zur Qualitätseinschätzung rechtspsychologischer und forensischer Gutachten („Zu guter Letzt“).

Aussagepsychologie. „Das Telefon klingelte am späten Nachmittag. Ein mir unbekannter Rechtsanwalt meldete sich: ‚Ich vertrete einen Angeklagten in einem Berufungsverfahren und wollte Sie fragen, ob Sie bereit wären, eine Stellungnahme zur Glaubwürdigkeit einer Belastungszeugin zu schreiben‘“. Mit dieser Situationsdarstellung eröffnet Rudolf Egg das Kapitel zur Aussagepsychologie in Strafverfahren und die Rolle der psychologischen Gutachter dabei. Entlang des Eingangs zitierten authentischen Falles stellt Egg die relevanten Aspekte (Gutachtensbeauftragung, Exploration und Anamnese, Neutralität, Darstellung der Ergebnisse) vor und vergleicht die eingeführte Fallvignette mit anderen prominenten Fällen der neueren deutschen Rechtsgeschichte (u.a. der „Fall Kachelmann“), um daran anknüpfend im nächsten Kapitel die Grundlagen der Aussagepsychologie (Aussageverhalten bei real erlebten und erfundenen Situationen, Merkmale des Lügens, Täter-Opferbeziehung, Faktenanalyse, Körpersprache) vorzustellen und anhand realer Gerichtsfälle zu explizieren.

Kriminalprognose. Das Kapitel geht auf die Möglichkeiten und Grenzen kriminalprognostischer Aussagen, also auf die Vorhersage der Deliktwahrscheinlichkeit bei Tätern ein. Ausgehend von allgemeinen Überlegungen zu prognostischen Phänomenen („Prognosen im Alltag“) führt Egg in den Aufbau kriminalprognostischer Gutachten ein, beschreibt deren Struktur (prädeliktische Entwicklung, Anlassdelikt, postdeliktische Entwicklung, Perspektivenbereich) und die fachliche Diskussion statischer und variabler Risikofaktoren, welche anhand von Fallbeispielen verdeutlicht werden.

Kriminaltherapie. Ausgehend von einem Fall eines wiederholt straffällig gewordenen Vergewaltigers führt Egg in diesem Kapitel in die Grundlagen der Straftäterbehandlung ein. Die Bearbeitung individueller Risikoaspekte, der Deliktsstruktur (Tatanalyse), die Förderung von Schutzfaktoren, Möglichkeiten der Berücksichtigung individueller Lernerfahrungen von Straftätern werden erläutert und im Rahmen des Risk-Need-Responsivity-Ansatzes, einem in der Täterbehandlung breit eingeführtem Basiskonzepts expliziert.

Schuldfähigkeit. Das entsprechende Kapitel definiert die strafrechtlichen Grundlagen der Schuldunfähigkeit bei vorliegender psychischer Erkrankung und die in diesem Zusammenhang sich anschließende Frage der Unterbringungsvoraussetzungen im Maßregelvollzug. Die Ausführungen werden durch ein ausführliches Fallbeispiel, in dem auf zwei Fälle von Kindesentführung und -missbrauch eingegangen wird expliziert, wobei insbesondere der biografische Werdegang des Täters diskutiert wird.

Wege und Irrwege. Rudolf Egg beschreibt hier u.a. seinen eigenen -zufälligen- Zugang zur Rechtspsychologie, seine ersten Gehversuche in einer Strafanstalt, die derzeit gängigen Ausbildungswege, Grundlagen und Standards der Begutachtung in Strafverfahren, ethische Fragestellungen und die Frage des öffentlichen Erwartungsdrucks an solche Gutachten (und die damit befassten GutachterInnen). Diesen letzten Aspekt veranschaulicht Egg am medial stark rezipierten Prozess gegen den Wettermoderator Jörg Kachelmann.

Zu guter Letzt. Im letzten Kapitel geht Egg auf die Verschärfung der gesellschaftlichen Diskussion um auffällige, fraglich psychisch kranke und gefährliche Menschen ein, wie sie z.B. im Kontext des herbeigeführten Flugzeugabsturzes der German-Wings-Maschine geführt wurde. Um einen kritischen und differenzierten Umgang mit psychiatrischen Aussagen und Gutachten zu ermöglichen, gibt Rudolf Egg abschließend zehn Ratschläge, um die fachliche Güte solcher Expertisen einschätzen zu können, u.a. zu Struktur, Umfang und Qualitätsmerkmalen von Gutachten.

Zielgruppe

Das Sachbuch ist für die breite Öffentlichkeit geschrieben und verfolgt das Ziel „einem Laien verständlich (zu) erklär(en), wie Gutachter wirklich arbeiten, also was sie konkret tun, wenn sie bei einem Prozess zu Rate gezogen werden“ (12).

Diskussion

Wie ist ein trockenes, an sich nicht unterhaltsames Thema zu bearbeiten und für die breite Öffentlichkeit aufzubereiten, um die wesentlichen Aspekte nicht nur zu benennen, sondern deren Bedeutung für einen besonders sensiblen Bereich des Rechtssystems darzustellen? Rudolf Egg wagt diesen Balanceankt in seinem zwischen Wissenschaftlichkeit, Aufklärung und ansprechender Textgestaltung konzipierten Fachbuch. Als Wissenschaftler und selbst gutachterlich Tätiger hat er dafür eine Sprache gewählt, die nah an den Fällen und nah am vermuteten Lesepublikum orientiert ist, oft spannend, direkt, gelegentlich feuilletonistisch-unterhaltsam. Dabei driftet das Werk an keiner Stelle in den Boulevard ab, auch wenn theoretische Zusammenhänge an knalligen Fällen der Kriminalgeschichte beispielhaft illustriert werden.

Erwartet man ausgehend vom Titel, dass der Autor eine grundsätzliche Analyse, Kritik oder gar Anklage gegen Gutachter, deren Rolle und -unterschwellige Beeinflusssungsstrategien- in strafgerichtlichen Verfahren abliefert, wird vermutlich enttäuscht sein. Das System des gutachterlich beratenden Zeugen wird von Egg nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Vielmehr beschreibt er die fachlichen Grundlagen des Fach, bemüht sich um die Definition von Qualitätsstandards, benennt und beschreibt mögliche Fallstricke, Fehlerquellen und Konflikte und führt an Fällen der deutschen Rechtsgeschichte ausführlich vor, dass es schwierig aber möglich ist, rechtspsychologische und kriminalprognostische Aussagen zu treffen und welcher Aufwand dabei zu betreiben ist.

Damit ist das Werk für Laien interessant, gibt Einblicke in die Rechtswirklichkeit unserer Gesellschaft und nähert sich in leisen Nebentönen den Täterpersönlichkeiten an, deren biografische Hintergründe beschrieben werden und in Verbindung mit deren Deliktverhalten gebracht werden. Egg geht es dabei um die Frage von Entwicklungsprozessen, um die Untersuchung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, die Richtigkeit (Wahrheit) von Aussagen, das Erkennen von krankhaften seelischen Veränderungen und schöpft dabei aus dem reichen Fundus jahrzehntelanger beruflicher Erfahrungen.

Fazit

Ein zugleich sachliches und über weite Strecken unterhaltsames Buch, das den Berufsstand des rechtspsychologischen Gutachters aus dem Schatten holt und dessen Arbeit und Funktion einer breiten Öffentlichkeit zu zeigen versucht. Neben zahlreichen Fallbeispielen aus der deutschen (und zum Teil internationalen) Rechtsgeschichte finden sich Hinweise zur Glaubwürdigkeitsbegutachtung, Kriminalprognose, Ausbildungs- und Qualitätsstandards von Gutachtern und deren Gutachten und zur Rolle dieser Berufsgruppe in Gerichtsverfahren. Wenn es dadurch gelingt einer breiteren Leserschaft die Probleme rechtspsychologischer und forensisch-psychiatrischer Fragestellungen näher zu bringen, ist dem Buch ein breiter Erfolg zu wünschen.

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 177 Rezensionen von Gernot Hahn.

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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 16.08.2017 zu: Rudolf Egg: Die unheimlichen Richter. Wie Gutachter die Strafjustiz beeinflussen. C. Bertelsmann (München) 2015. ISBN 978-3-570-10242-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19818.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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