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Stefan Kadelbach (Hrsg.): Solidarität als Europäisches Rechtsprinzip?

Rezensiert von Prof. Dr. Peter Baumeister, 06.04.2016

Cover Stefan Kadelbach (Hrsg.): Solidarität als Europäisches Rechtsprinzip? ISBN 978-3-8487-1009-6

Stefan Kadelbach (Hrsg.): Solidarität als Europäisches Rechtsprinzip? Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2014. 77 Seiten. ISBN 978-3-8487-1009-6. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR, CH: 33,50 sFr.

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Thema

Angesichts von Finanz- und Wirtschaftskrise oder der aktuellen Flüchtlingsthematik in der EU hat das Thema der Solidarität seit einigen Jahren Konjunktur. Dies gilt in erster Linie für politische Debatten um und Forderungen nach solidarischem Verhalten der Mitgliedstaaten untereinander oder zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Das wirft auch die Frage nach dem rechtlichen Gehalt derartiger Forderungen auf. Entsprechend hat sich die Rechtswissenschaft vermehrt seit der Finanzkrise 2008 mit dem Thema beschäftigt. Zum Kreis der entsprechenden Publikationen zählt auch der hier besprochene Band von Kadelbach.

Entstehungshintergrund

Bei der Veröffentlichung handelt es sich um eine Sammlung von fünf (auf den Stand von Juni 2013 gebrachten) Beiträgen zum Elften Frankfurter Walter-Hallstein-Kolloquium vom 2.12.2011. Im einzelnen sind dies:

  • Stefan Kadelbach, Solidarität als Europäisches Rechtsprinzip?
  • Jürgen Bast, Solidarität im europäischen Einwanderungs- und Asylrecht
  • Charlotte Gaitanides, Ein Solidaritätsprinzip in der Krise? – Rettungsschirm und gemeinsame Währung
  • Adelheid Puttler, Solidarität als Finanzausgleich? Die europäische Kohäsionspolitik
  • Georg Hermes, Die Solidaritätsklausel in der europäischen Energiepolitik

Mit der Auswahl des Generalthemas für die Tagung 2011 hatte der Herausgeber des Bandes ein gutes Gespür für ein zukunftsträchtiges und auch nachhaltiges Thema bewiesen. Zudem ist es ihm gelungen, vier hochkarätige Referenten (und schließlich Autoren für diesen Band) zu gewinnen, die ihre Themen mit großem Sachverstand bearbeitet haben. Wie die Titel der Einzelbeiträge bereits offenbaren, werden neben einer Art zusammenfassender Einschätzung durch den Herausgeber verschiedene Politiken des EU-Rechts speziell aufgegriffen.

Aufbau und Inhalt

Der Herausgeber selbst geht in seinem einleitenden (und übergreifenden) Beitrag nach einer kurzen Beschäftigung mit dem Solidaritätsbegriff auf die diversen Regelungen im Unionsrecht ein, in denen die Solidarität Erwähnung findet. Dass das Solidaritätsprinzip hier in sehr unterschiedlichen Dimensionen Verwendung findet, ändert seiner Meinung nach nichts daran, dass Solidarität als ein Grundsatz des europäischen Verfassungsrechts anzusehen sei (S. 13). Im Einzelnen unterscheidet er drei „Bedeutungsschichten“ in den Verträgen (S. 15 f.):

  1. Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten,
  2. Solidarität als Wert einer Gesellschaft (mit sozialer Gerechtigkeit und sozialen Rechten) und
  3. Föderale Solidarität (mit dem Ziel des Abbaus von Ungleichgewichten in der Verteilung des Wohlstandes zwischen den mitgliedstaatlichen Gesellschaften).

Den Sinn der Anerkennung der Solidarität als europäisches Prinzip sieht er darin, dass die Solidarität damit als „Leitnorm eine Rationalisierungsfunktion für die Unionspolitik“ habe (S. 17).

Angesichts der aktuellen Situation, in der die EU bzw. verschiedene Mitgliedstaaten Ziel einer großen Zahl von Migranten aus verschiedenen Krisenregionen der Welt geworden sind, weist der erste spezielle Beitrag zum europäischen Einwanderungs- und Asylrecht von Jürgen Bast eine besondere Aktualität auch noch Jahre nach dem Vortrag beim XI. Walter-Hallstein-Kolloquium auf. Bast setzt sich eingehend mit dem rechtlichen Gehalt des in Art. 67 Abs. 2 und Art. 80 AEUV niedergelegten Prinzips der Solidarität im Bereich der Migrationspolitik auseinander. Dabei entwickelt er die sehr interessante These, dass die Regelung des Art. 80 AEUV, insbesondere dessen S. 2, entgegen der verbreiteten Meinung juristisch gehaltvoll sei. In dieser Bestimmung sieht er sowohl eine „konkrete Handlungspflicht für den Unionsgesetzgeber, die erforderlichen Normen zu erlassen, um eine gerechte Aufteilung von Verantwortlichkeiten zwischen den Mitgliedstaaten herzustellen“ als auch eine Annexbefugnis für einen „Finanzausgleich oder andere Mechanismen der Lastenumverteilung zwischen den Mitgliedstaaten“ (S. 22). Demgegenüber wird Art. 80 AEUV in der Regel nicht einmal als eigenständige Kompetenzgrundlage angesehen (vgl. etwa Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, AEUV, Art. 80 Rn. 4 mwN.).

Die Position von Bast hat interessante Folgen für die Beurteilung des sog. „Dublin-Systems“. Nach dessen Regelungen sind die Mitgliedstaaten für die Bearbeitung von „Asylanträgen“ zuständig, in die der Migrant als Erstes eingereist ist. Konsequent sind deshalb die Staaten mit EU-Außengrenzen (und hier vor allem die südlichen Staaten wie Griechenland, Italien oder Malta) verantwortlich. Zugleich fehlt es aber in der – von Bast untersuchten – Dublin-II-VO an jeglicher Lastenausgleichsregelung. Konsequent hält Bast die Regelungen der Dublin-II-VO für primärrechtswidrig. Folgt man dieser Auffassung, für die der Rezensent einige Sympathie hegt, so muss dasselbe auch für die Dublin-III-VO angenommen werden, die gleichermaßen keine Lastenausgleichsregelungen kennt.

Geradezu als Referenzgebiet für Erörterungen zur rechtlichen Bedeutung der Solidarität in der EU kann das Recht der Währungsunion angesehen werden. Europäische Rettungsmaßnahmen mit gigantischem Volumen rekurrieren in der politischen Debatte mitunter auf das oder ein Solidaritätsprinzip. Charlotte Gaitanides stellt vor diesem Hintergrund in ihrem Beitrag zunächst fest, dass Solidarität „eine der Leitideen der europäischen Integration schlechthin“ sei (S. 35). Anderseits geht sie davon aus, dass die Rettung von in die Krise geratenen Staaten nicht mit Solidarität gleichzusetzen sei. Demgegenüber hält sie aber den IWF für ein solidarisches Sicherungssystem (S. 38 f.). Hintergrund dieser Differenzierung scheint offenbar der Gedanke zu sein, dass es den vergangenen (ersten) Maßnahmen zur Rettung des Euro (bilaterale Hilfspakete, EFSM, EFSF) an einer Struktur gefehlt habe, die nicht schon vor der Krise vorhanden war. Erst wenn Mechanismen unabhängig von aktuellen Krisen für zukünftige Ereignisse geschaffen seien, ließen sich diese auf das Solidaritätsprinzip zurückführen. – Den Rezensenten überzeugt diese Differenzierung allerdings noch nicht.

Der Frage eines Zusammenhangs zwischen der Unionspolitik des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, der sog. Kohäsionspolitik, und dem Solidaritätsprinzip geht Adelheid Puttler nach. Anders als in den sonstigen, in diesem Buch behandelten Themengebieten fehlt im Vertragstext betreffend die Kohäsionspolitik (Art. 174 ff. AEUV) ein direkter Verweis auf das Solidaritätsprinzip. Kohäsionspolitik und Solidaritätsprinzip werden jedoch in Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 EUV in einem Atemzug genannt. Fraglich ist gleichwohl, ob auch eine inhaltliche Verbindung zwischen beiden besteht. Puttler untersucht diese Frage vor dem Hintergrund der Finanztransfers im Rahmen der Kohäsionspolitik. Sie versucht zu klären, ob die Transferleistungen Finanzausgleichsfunktion haben und die europäische Strukturpolitik als Ausdruck europäischer Solidarität gewertet werden kann, was sie im Ergebnis „eher bezweifelt“.

Mit der in Art. 194 Abs. 1 AEUV enthaltenen Solidarklausel auf dem Feld der Energiepolitik befasst sich schließlich Georg Hermes. Er stellt dabei heraus, dass das Solidaritätsprinzip als eines der drei in Art. 194 Abs. 1 AEUV genannten Leitprinzipien normativ auf einer anderen Ebene steht als die ebenfalls dort genannten Ziele der Energiepolitik. Auch folgt er nicht der Ansicht, dass die Erwähnung der Solidarklausel in der Regelung zur Energiepolitik neben dem allgemeinen Solidaritätsprinzip, wie es in einer Vielzahl von Regelungen des EUV (z.B. Präambel Abs. 6, Art. 2 und Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 und 3) seinen Ausdruck gefunden hat, nur deklaratorische Bedeutung habe. Über eine Darstellung „konkreter Problemfelder praktizierter Energiesolidarität“ kommt Hermes schließlich zu dem Ergebnis, dass sich aus dem Solidaritätsprinzip in Art. 194 AEUV nicht unmittelbar mitgliedstaatliche Hilfs- und Unterstützungspflichten ableiten lassen. Die Interpretation der Solidarklausel im Sinne einer Leitlinie für die Energiepolitik der Union sei hingegen möglich. Dabei käme der Solidarklausel zwar nicht die Bedeutung einer gerichtlich durchsetzbaren Verpflichtung der Unionsorgane zu, doch sei auch die Interpretations- und Legitimationsfunktion der Klausel nicht zu unterschätzen. Insoweit könne die Solidarklausel rechtliche Wirkungen erzeugen, die „weit über eine nur politisch-appellative Bedeutung“ hinausreichten (S. 74 f.).

Diskussion und Fazit

Wie angesichts des Untersuchungsgegenstandes nicht anders zu erwarten, liefert dieser Band aus fünf Beiträgen keine einfachen Erkenntnisse. Das Solidaritätsprinzip weist nicht nur eine Vielzahl von Bedeutungsinhalten auf, die auch vom konkreten Kontext, in dem das Prinzip verwendet wird, abhängig sind. Es muss als ein Leitprinzip auch hinreichend offen für unterschiedliche Entwicklungen im Rahmen der europäischen Integration sein. Insoweit kann das Prinzip der Solidarität ausufernden mitgliedstaatlichen Individualinteressen entgegengehalten zu werden.

Der schöne Band enthält zahlreiche Anregungen für die Diskussion um die Bedeutung des Solidaritätsprinzips. Dass insoweit alle Facetten behandelt worden seien, konnte nicht erwartet werden. Gerade das Verhältnis und die Abgrenzung zur Unionstreue oder zum Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit stellt ein weiteres, hier nicht bearbeitetes Themenfeld dar. Gleichwohl bieten die Beiträge interessante Einsichten, die auch noch mit dem inzwischen vorhandenen zeitlichen Abstand zu ihrer Entstehung durchaus lesenswert sind. Aus der Sicht des Rezensenten aktuell besonders dringend erscheint die Berücksichtigung der Thesen von Bast zu Art. 80 AEUV, nach denen das Dublin-System in der europäischen Flüchtlingspolitik durch ein Lastenausgleichsystem ergänzt werden muss.

Rezension von
Prof. Dr. Peter Baumeister
Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart
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Es gibt 8 Rezensionen von Peter Baumeister.

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Zitiervorschlag
Peter Baumeister. Rezension vom 06.04.2016 zu: Stefan Kadelbach (Hrsg.): Solidarität als Europäisches Rechtsprinzip? Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2014. ISBN 978-3-8487-1009-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19832.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.


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