Ines Langemeyer: Das Wissen der Achtsamkeit
Rezensiert von Prof. Dr. phil. Barbara Wedler, 03.06.2016
Ines Langemeyer: Das Wissen der Achtsamkeit. Kooperative Kompetenz in komplexen Arbeitsprozessen. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2015. 276 Seiten. ISBN 978-3-8309-3308-3. D: 34,90 EUR, A: 35,90 EUR.
Thema
Die Autorin setzt sich für einen sicheren Umgang mit Hochtechnologien ein, der von arbeitenden Menschen/ Subjekten gesteuert wird, die über kooperative Kompetenz verfügen. Mit dieser Erkenntnis stellt dieses Buch ein Plädoyer zur Überwindung von Gegensätzen wie z. Bsp. Wissen – Können, Wissenschaft – Erfahrung dar.
Autorin
Ines Langemeyer studierte Psychologie und promovierte in der Berufspädagogik. Aktuell ist sie Professorin für Lehr-Lernforschung am Institut für Technologie in Karlsruhe.
Aufbau
Nach dem Prolog und der Einleitung gliedert sich die wissenschaftliche Abhandlung in vier Kapitel, die wiederum untergliedert sind.
- Wissen als Aufmerksamkeit und Achtsamkeit
- Kompetenz
- Kooperation und Wissen
- Theoretische Erfahrung
Den Abschluss bilden der Epilog und das Literaturverzeichnis.
Inhalt
Im Prolog sensibilisiert Langemeyer die LeserInnen für das kooperativem Können, indem sie exemplarisch (u.a. die Katastrophe von Fukushima) nachweist, inwieweit die Verkettung von Fehleinschätzungen von Personen Katastrophen verstärkt bzw. auch hervorgerufen werden können. Sie zeigt sehr drastisch die Diskrepanz zwischen beruflichem Wissen und der Dimension der Kooperation. Aus dieser Diskrepanz heraus leitet sie die Notwendigkeit ab, kooperative Kompetenz zu erforschen und dass Aufmerksamkeit sowie Achtsamkeit von Akteuren neben sinnlicher Erfahrung auch eine analytische Vorstellungskraft und begrifflich-theoretische Denktätigkeit erfordert.
In der Einleitung wird deutlich, dass die Autorin Veränderungen im Zusammenspiel von Akteuren fokussiert und damit die Problemstellung in den Kontext gesellschaftlicher Praxis hebt.
Im ersten Kapitel lässt die Autorin die LeserInnen an einer simulierten Herz-OP teilhaben. Nach einer Beschreibung der videographischen Methode wird die Herzchirurgie als hochkomplexe Technik vorgestellt. Langemeyer greift auf eine Definition von Wissen-in-Praxis (Molanders) zurück, um empirisch am Team der Studierenden zu rekonstruieren, welche „spezifische Qualität das kooperativ hergestellte Wissen-in-Praxis haben müsste“, (S. 37) um dieses Wissen erfolgreich in kooperatives Können wandeln zu können. Dazu zählen u.a., so die Diskussion der Teilnehmenden ein halbes Jahr nach der Simulation, Krisenerfahrungen und eine offene Fehlerkultur. Im Ergebnis dieses empirischen Teiles stellt die Autorin ihre Definition von Wissen-in-Praxis und Achtsamkeit als eine Form von Wissen-in-Praxis vor. Die exemplarisch gewonnenen Erkenntnisse werden auf vergleichbare verwissenschaftliche Arbeitsprozesse übertragen. Dafür werden Modelle für Teamarbeit aus der Organisationsforschung kritisch diskutiert und die Besonderheiten von High-Reliability Organisationen (HRO) herausgearbeitet. Zusammenfassend stellen sich konzentrierte Kommunikation und konzentriertes Handeln im Team als Basis der Achtsamkeit (Teil der Kompetenz) heraus. Angelehnt an techniksoziologischen Forschungen gewinnt das Erfahrungswissen an Bedeutung. Dessen Verbindung zum wissenschaftlichen Wissen beeinflusst maßgeblich die Denk- und Handlungsfähigkeit von Teams.
Im Focus des zweiten Kapitels steht die Kompetenz. Ganz analytisch setzt sich Langemeyer zunächst mit dem Begriff der Kompetenz auseinander und befasst sich danach mit der Psychodynamik der Kompetenzentwicklung. Die Autorin zieht zur Erklärung dieses Phänomens neuere Ansätze der Hirnforschung hinzu und betrachtet die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Erfahrungsschichten. Zur Erläuterung des nächsten Schrittes, der Entwicklung kooperativer Kompetenz, bezieht sich die Autorin auf das persönlichkeitspsychologische Modell von Kuhl. Abschließend erfolgt eine Reinterpretation des Begriffes Kompetenz durch die Autorin.
Im dritten Kapitel entwickelt Langemeyer den Begriff der kooperativen Kompetenz weiter und verknüpft ihn mit Verwissenschaftlichungsprozessen im Kontext der HRO. Langemeyer skizziert das Modell systemischer Funktionen und Modi kooperativer Kompetenz und unterstreicht damit, dass praktische und theoretische Erfahrungen unabdingbar sind, um langfristig aufmerksam und achtsam im Denken und Handeln zu bleiben. Sie wirft einen analytischen Blick auf die kulturhistorischen Wurzeln kooperativer Kompetenz und spannt den Bogen zur Verwissenschaftlichung von Arbeit. Dabei stützt sie sich auf die Forschungen von Holzkamp und Fleck. Die Grundgedanken beider bringt sie in Verbindung mit Clot’s Entwickelnder Arbeitsforschung. Im Fazit wird die dialektische Einheit von Bewahren und Verändern in der Verwissenschaftlichung der beruflichen Praxis betont.
Im vierten Kapitel greift Langemeyer die Erkenntnisse von Kuhl zur Selbstregulation auf und verknüpft dies mit einem dynamischen Modell von Können auf kooperativer Ebene. Sie beschreibt die Bearbeitung von theoretischen Erfahrungen in Bezug auf den Arbeitsprozess im Gespräch miteinander als 1. Wahl zur Entwicklung kooperativer Kompetenz. Denn, so das Fazit, der Verwissenschaftlichung (Wissen in Praxis) der Arbeitswelt bleibt ein dynamischer Prozess. Und dieser ist stets eingebettet in gesellschaftliche Realitäten.
Im Epilog endet dieses Fachbuch mit dem impliziten Auftrag, Professionalisierung weiter zu fassen. Es gilt die je eigene Wissenschaft in ihrer Reproduktionskultur zu begreifen und sie als Ressource für die Weiterentwicklung verwissenschaftlichen Könnens und ein Wissen der Achtsamkeit zu nutzen.
Diskussion und Fazit
Eine der großen Stärken dieses Fachbuches sind die exzellenten Recherchen zu Katastrophen im Bereich HRO. Der weite wissenschaftliche Blick der Verfasserin, beruhend auf Modellen und Theorien unterschiedlicher Wissenschaftsrichtungen, belegt, dass der Faktor „Team“ den Schlüssel für die sichere und nachhaltige Anwendung modernster Technologien bildet. Im Team entwickelte Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gegenüber den Arbeitsprozessen gehören zu den förderlichen Bedingungen im Umgang mit Hochtechnologien. Darüber hinaus spielt die multiprofessionelle Kooperation einen weiteren wesentlichen Faktor dar. Alle Akteure verfügen über kooperative Kompetenzen. Doch Langemeyer bleibt nicht bei diesen Erkenntnissen stehen. Sie verweist auf die Gefahren einer dogmatisch verwendeten Technologie. Machtverhältnisse rücken somit in den Blick des Betrachters und fordern implizit auf, sich als WissenschaftlerIn, als arbeitendes Subjekt sich kritisch mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen.
Ein absolut tiefgründiges Buch zu einem in der Wissenschaft bisher wenig reflektiertem Thema, das sicherlich mehrmals gelesen werden kann und Anstöße in vielerlei Richtungen gibt. Ein Buch, das jeder (Team)Leiter durcharbeiten sollte. Und in Diskussionen um Professionalisierung sollte es die fachliche Grundlage bieten. Die LeserInnen dieses Fachbuches blicken anschließend genauer auf die Zusammenarbeit, Diskussionen um das Leitbild und die hochgradige Technisierung von Arbeitsprozessen, um nur wenige Punkte zu nennen. Auch wenn Langemeyer sich sehr spezifischer Modelle und Theorien bedient, so zeigt sie doch sehr tiefgründig und anschaulich, dass es um mehr als Kompetenz geht: es geht um kooperative Kompetenz! Jeder Mensch, dem die Zukunft, die Menschen, die sicheren, nachhaltigen Arbeitsprozesse nicht egal sind, sollten dieses Buch lesen, mehr als einmal!
Rezension von
Prof. Dr. phil. Barbara Wedler
Professur für klinische Sozialarbeit und Gesundheitswissenschaften
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Zitiervorschlag
Barbara Wedler. Rezension vom 03.06.2016 zu:
Ines Langemeyer: Das Wissen der Achtsamkeit. Kooperative Kompetenz in komplexen Arbeitsprozessen. Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2015.
ISBN 978-3-8309-3308-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19839.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
Urheberrecht
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