Peter Wehling (Hrsg.): Vom Nutzen des Nichtwissens
Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Helmert, 09.12.2015
Peter Wehling (Hrsg.): Vom Nutzen des Nichtwissens. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. transcript (Bielefeld) 2015. 273 Seiten. ISBN 978-3-8376-2629-2. 29,99 EUR.
Thema
Ignoranz, Unwissenheit und vor allem bewusstes Nicht-Wissen-Wollen gelten in den heutigen Wissensgesellschaften nach wie vor als anstößig. Nichtwissen wird als schnellstens zu behebender Mangel an vermeintlich unverzichtbarem Wissen begriffen. Aus Sicht verschiedener Disziplinen rücken die Beiträge dieses Bandes demgegenüber den vielfältigen Nutzen des Nichtwissens in unterschiedlichen sozialen Kontexten ins Licht – ohne dabei dessen Nachteile zu bestreiten. Aktives Nichtwissen schützt uns vor Informationsüberflutung, vor belastendem Wissen und falschen Eindeutigkeiten, kann aber auch strategisch zum eigenen Vorteil genutzt werden.
Herausgeber
Peter Wehling ist Privatdozent am Institut für Soziologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband entstand in Folge des im April 2012 in Konstanz veranstalteten Workshops mit dem Titel „Kulturelle Deutungen des Nichtwissens im Wandel?“.
Aufbau und ausgewählte Inhalte
Einleitung des Herausgeber: Noch vor wenigen Jahren wäre die Frage nach einem Nutzen des Nichtwissens in den selbsternannten „Wissensgesellschaften“ vermutlich auf Unverständnis oder Ablehnung gestoßen, und wer so fragte, wäre in den Verdacht der Faulheit, der Ignoranz oder des Obskurantismus geraten. Zweifellos sind solche Reaktionen noch immer zu beobachten; dennoch lässt sich seit einiger Zeit in vielen gesellschaftlichen Bereichen, gleichsam unter der Oberfläche des offiziellen Enthusiasmus für das Wissen, eine gewisse Skepsis gegenüber den vermeintlichen Vorzügen einer immer weiter beschleunigten Wissensakkumulation erkennen, so dass die Frage nach möglichen positiven Aspekten des Nichtwissens mittlerweile nicht mehr als gänzlich abwegig erscheint. Zwei Beispiele dafür:
- In den letzten Jahren hat sich erstens in einem wichtigen gesellschaftlichen Handlungsfeld und Wissensgebiet, nämlich dem der Medizin, genauer der sogenannten prädiktiven genetischen Diagnostik, ein „Recht auf Nichtwissen“ etabliert, das mittlerweile in den meisten Ländern auch politisch-rechtlich ausdrücklich anerkannt ist.
- Zweitens wird im Bereich der digitalen Kommunikationsmedien gegenwärtig über ein „Recht auf Vergessen-Werden“ im Internet debattiert, das im Mai 2014 durch ein Aufsehen erregendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) auch institutionell bekräftigt worden ist. Dieses Recht soll Privatpersonen davor schützen, durch die allgemeine Verfügbarkeit und zeitlich tendenziell unbegrenzte digitale Speicherung kompromittierender Informationen über sie dauerhaft in ihren Persönlichkeitsrechten beeinträchtigt zu werden.
Den ersten Teil des Bandes, „Praktiken des Nichtwissens in sozialen Kontexten“, eröffnet der Beitrag „Vom Nutzen und Nachteil strategischen Nichtwissens“ der Soziologin Linsey McGoey. Sie skizziert die Grundzüge des Konzepts „strategisches Nichtwissen“ und verdeutlicht an einem Beispiel aus dem Bereich der Medikamentenzulassung, dass Organisationen, Individuen und soziale Gruppen häufig keinerlei Interesse daran haben, bestehendes Nichtwissen aufzulösen. Zentral für McGoeys Argumentation ist die Unterscheidung zwischen gewöhnlichem und sozial exklusivem strategischem Nichtwissen. Während ersteres eine mehr oder weniger alltägliche, individuelle Umgangsform mit unbequemen und unpassenden Informationen darstellt, bezeichnet letzteres ein kollektives Privileg zumeist sozial hochrangiger Akteure, solche Dinge, die ihren Interessen zuwiderlaufen, nicht zur Kenntnis zu nehmen. Als exemplarisch hierfür beschreibt McGoey die anhaltende Ignoranz der etablierten Wirtschaftswissenschaften gegenüber den zahllosen empirischen Widerlegungen ihrer theoretischen Axiome.
Der Rechtswissenschaftler Gunnar Duttge befasst sich in seinem Beitrag mit den rechtlich-normativen Implikationen des Rechts auf Nichtwissen in der Medizin. Er erläutert, wie das individuelle Recht, die eigenen genetischen Dispositionen und gesundheitlichen Risiken nicht kennen zu müssen, in den letzten Jahren gegenüber dem Dogma von der informierten Einwilligung an Bedeutung gewonnen hat und schließlich gesetzlich verankert worden ist. Das Recht auf Nichtwissen soll Menschen davor bewahren, durch Wissen über Erkrankungsrisiken und zukünftig drohende Krankheiten, für die zudem häufig weder Präventions- noch Therapiemöglichkeiten bestehen, in ihrer freien Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt zu werden.
In seinem Beitrag „Familiäre Beziehungen zwischen Wissen und Nichtwissen“ beschäftigt sich Peter Wehling aus soziologischer Perspektive mit Entwicklungen, die der These, die positiven Aspekte von Nichtwissen würden allmählich gesellschaftlich immer mehr anerkannt, diametral entgegenzustehen scheinen. Beispielsweise in den Kontroversen um die anonyme Geburt und die anonyme Samenspende werden inzwischen fast ausschließlich die tatsächlichen oder vermeintlichen Nachteile des Nichtwissens thematisiert, so dass die lange Zeit üblichen Praktiken der Anonymisierung zunehmend in Misskredit geraten.
Dass Nichtwissen auch in Bildungsprozessen eine höchst produktive und kreative Rolle spielen kann, verdeutlicht Jochen Kade in seinem Beitrag „Kontingente Kontexte“. Er rekapituliert zunächst, wie Ungewissheit und Nichtwissen in den letzten Jahren in der Erziehungswissenschaft immer stärker als zentrale Handlungsbedingung wahrgenommen und theoretisch reflektiert worden sind. Anhand eines empirischen Beispiels skizziert Kade dann einen Perspektivenwechsel zu einer „aktiven Ungewissheitsorientierung“ der Erziehungswissenschaft. Diese geht über den Blick auf die Ungewissheit in Bildungsbiographien hinaus, die gleichwohl noch als kontinuierlich und zielgerichtet unterstellt werden, und erkennt die Ungewissheit von Bildungsbiographien an, die nicht länger durch ein zu erreichendes, normativ begründetes Ziel vordefiniert werden können. Ungewissheit, Nichtwissen und die Kontingenz der Handlungskontexte erweisen sich hierbei nicht als zu lösendes Problem, sondern letztlich als Bedingung für eine gelingende Zukunftsgestaltung der Individuen in Bildungsprozessen.
Der zweite Teil des Bandes, „Theoretische Aspekte und normative Dimensionen des Nichtwissens“ beginnt mit Burkhard Liebschs Beitrag „Zu einem positiven Verständnis von Nicht-Wissen in sozialphilosophischer Perspektive? am Beispiel des Vertrauens“. Er wendet sich gegen eine bloß negative Deutung von Nichtwissen als Defizit und Mangel an Wissen und zeigt demgegenüber, dass vor allem unsere Beziehungen zu Anderen durch ein positiv zu verstehendes, nicht-epistemisches Nichtwissen geprägt sind, das heißt durch ein Nichtwissen, das auch durch intensivere Wissensbemühungen nicht erreicht oder gar restlos aufgelöst werden kann.
Der Literaturwissenschaftler Achim Geisenhanslüke lenkt in seinem Beitrag „Genealogie des Wissens – Poetologie des Nichtwissens“ den Blick auf das gleichermaßen konträre wie komplementäre Phänomen der literarischen Auseinandersetzung mit Nichtwissen und den Grenzen des Wissens. Die Poetologie des Nichtwissens erkennt in der Literatur ein Archiv, das sich offen hält auch für Phänomene wie Ignoranz, Dummheit, Einfalt und Unvernunft und auf diese Weise ein Korrektiv darstellen kann gegen die Wissenszumutungen und Rationalitätserwartungen, denen das moderne Subjekt sich konfrontiert sieht.
Christoph Hausladen macht in seinem Beitrag „Sprechen und Begründen jenseits des Definiten“ deutlich, dass die Theologie über eine lange und vielfältige Tradition des Sprechens und Nachdenkens über das Nicht-Gewusste und Nicht-Wissbare (Gott) verfügt. Unabhängig davon, ob man die religiösen Überzeugungen teilt oder nicht, kann die theologische Reflexion nicht nur für die Begrenztheit empirischer Wissensansprüche sensibilisieren, sondern auch einen Rahmen oder Horizont bieten, sich dessen anzunehmen, was konstitutiv für unsere Erfahrung und unser Wissen ist und ihm sichzugleich entzieht, etwa die Welt, die Anderen, die eigene Leiblichkeit, das eigene Selbstbewusstsein.
Im abschließenden Beitrag des Bandes „Zur normativen Relevanz von Nichtwissen für eine Ethik der Biodiversität“ versteht auch Andreas Hetzel aus philosophischer Perspektive unser Nichtwissen als Einspruch gegen fragwürdige Wissens- und Managementansprüche im Kontext der aktuellen Biodiversitätskrise. Der Umstand, dass wir die komplexen funktionalen und kausalen Zusammenhänge in Ökosystemen niemals vollständig werden verstehen können, verpflichtet uns, so Hetzel, zur größtmöglichen Achtung gegenüber der biologischen Vielfalt, auch und gerade wenn wir die Bedeutung und den Wert einzelner bedrohter Arten nicht kennen.
Zielgruppen
Dieses Buch richtet sich sowohl an Wissenschaftler als auch an Laien, die von ausgewiesenen Experten etwas über den erst seit Neuerem vermehrt diskutierten „Nutzens des Nichtwissens“ erfahren möchten, ohne dabei aber auch dessen Nachteile zu bestreiten.
Fazit
Der Sammelband beschäftigt sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem bisher in der wissenschaftlichen Forschung weitgehend vernachlässigten Thema des „Nutzens des Nichtwissens“ in verschieden Zusammenhängen, wie zum Beispiel in bestimmten Bereichen der Medizin, der digitalen Kommunikationsmedien, den Wirtschaftswissenschaften und den Erziehungswissenschaften. Aktives Nichtwissen schützt uns vor Informationsüberflutung und unnötig belastendem Wissen.
Rezension von
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe
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Zitiervorschlag
Uwe Helmert. Rezension vom 09.12.2015 zu:
Peter Wehling (Hrsg.): Vom Nutzen des Nichtwissens. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. transcript
(Bielefeld) 2015.
ISBN 978-3-8376-2629-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19850.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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