Karl Lauterbach: Die Krebs-Industrie
Rezensiert von Prof. Dr. Eva Luber, 25.02.2016
Karl Lauterbach: Die Krebs-Industrie. Wie eine Krankheit Deutschland erobert. rowohlt Berlin Verlag (Berlin) 2015. 286 Seiten. ISBN 978-3-87134-798-6. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,50 sFr.
Autor
Karl Lauterbach ist seit 1998 Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie und klinische Epidemiologie der Universität Köln, war von 1999 bis 2005 im Sachverständigenrat Gesundheit und sitzt seit 2005 im Bundestag, inzwischen als stellvertretender Fraktionschef der SPD.
Diese ungewöhnliche Bündelung an Wissen und Erfahrung bildet die Grundlage des Buches. Er schreibt es angesichts der schon jetzt einsetzenden Zunahme an Krebserkrankungen, die aufgrund der demographischen Entwicklungen zukünftig jeden Zweiten treffen werden. Neue Therapien, die bislang nur bei wenigen Krebserkrankungen und meist ohne ausreichende Studien eingesetzt werden, verschlingen schon jetzt große Teile des Gesundheitsbudgets. Werden sie auch bei den häufigeren Tumoren eingesetzt, die Lunge, Darm, Brust oder Prostata und Bauchspeicheldrüse befallen, so werden die Behandlungen nicht mehr finanzierbar sein. Das Hauptproblem macht er bei den Pharmafirmen fest und macht Vorschläge, wie die Politik gegensteuern kann.
Aufbau
Das Buch umfasst neben der Einleitung sechs Kapitel.
In der Einleitung Wie der Krebs Deutschland erobert und eine ganze Industrie schafft wird der Aufbau des Buches vorgestellt. Diese ersten 23 Seiten resümieren das Buch und erläutern die einzelnen Schritte. Komplizierte biologische Zusammenhänge werden für Laien verständlich dargestellt.
Zu 1. Wie der Krebs entsteht
Im ersten Kapitel wird Krebs als genetische Erkrankung dargestellt, wobei die Veränderungen derjenigen Onkogene aufgeführt werden, die Merkmale der Krebserkrankungen bewirken. Eines dieser Merkmale ist das ungezügelte Wachstum. Onkogene können angeboren oder während des Lebens erworben sein. Wahrscheinlich entstehen im Körper ständig Onkogene, die jedoch durch Reparaturgene wieder unschädlich gemacht werden. „Es ist nur eine Frage der Lebenszeit, bis mutierte Onkogene und Schutzgene nicht mehr rechtzeitig vernichtet oder repariert werden können und der Krebs entsteht.“ (Alle Zitate sind aus dem besprochenen Buch, S. 29)
Ein weiteres Merkmal ist die Ausschaltung der Schutzgene, der Suppressorgene. Während Reparaturen geschädigter Gene ständig stattfinden, versagt der Mechanismus nach Schädigung der Suppressoren. Das erste Suppressorgen wurde 1984 entdeckt. Seitdem sind über zweihundert weitere gefunden worden. Während gesunde Zellen zu ihrer Zeit zugrunde gehen, ist ein weiteres Merkmal der Krebszelle ihre Unsterblichkeit. Alle Risiken für Krebse wirken über veränderte Onkogene und Suppressor-Gene. Sie sind die wichtigsten Ansatzpunkte der sogenannten gezielten Therapie.
Ein anderes Merkmal ist der Aufbau eigener Blutgefäße, welcher durch Angiogenesegene vermittelt wird. Ein Medikament, das Bevacizumab, kann gezielt den Aufbau eigener Gefäße eines Tumors verhindern. Tumoren mit einer ausgeprägten eigenen Gefäßausstattung metastasieren früh. Die Metastasenbildung ist ein weiteres Merkmal der Krebszelle. Diese können auch Jahre nach der Entfernung des Primärtumors wachsen und sich an ihre Umgebung so anpassen, dass sie andere Eigenschaften als dieser aufweisen und entsprechend auch einer anderen Therapie bedürfen.
Manche Therapien setzen bei einem weiteren Merkmal an, der Tarnung vor körpereigenen Killerzellen: Innerhalb der letzten zehn Jahre zeigte sich, dass Krebszellen in der Lage sind, sich so zu tarnen, dass die körpereigene Immunantwort durch spezialisierte Lymphozyten sie nicht erreicht. „Mit der Zeit jedoch gewinnen wahrscheinlich alle Krebszellen die Eigenschaft, sich vor den B- und T-Lymphozyten tarnen zu können. Beim Melanom hat man diesen Tarnungsmechanismus erstmalig durch ein Antikörpermedikament durchbrechen können, Ipilimumab (Yersoy).“ (S. 44) Melanome waren zuvor in der Regel nicht mehr therapierbar, wenn sich schon Metastasen gebildet hatten, nun können sie sich unter der Therapie zurückbilden. Medikamente mit diesem Therapieansatz, der Immuntherapie, werden für häufigere Krebserkrankungen, wie Blasen- oder Prostatakrebs entwickelt und zugelassen.
Das letzte Merkmal ist die besondere Energieversorgung. Krebszellen können sich aus Abbauprodukten ernähren. Inwieweit dieser Ansatz die Therapien bereichern kann ist noch nicht geklärt. Ein anderes Forschungsergebnis ist eher als schlechte Botschaft zu bewerten. Es gibt Krebsstammzellen, die unbemerkt, auch nach einer Behandlung, im Körper bestehen bleiben und nach Jahren wieder wachsen können.
Zu 2. Neue Therapien: gezielt und teuer
Nach einem Überblick über die Geschichte der Therapien wird der Wendepunkt um die Jahrtausendwende von den ungezielten hin zu den gezielten Therapien (targeted therapies) gesehen. Über Jahrzehnte war Konzept, die Krebszellen auszumerzen, auch wenn dabei viele gesunde Zellen geopfert wurden und die Überlebensraten niedrig blieben. Nun war es möglich, auf Grundlage der Erkenntnisse über die genetischen Veränderungen, diese gezielt zu behandeln. „Das berühmteste … Paradebeispiel ist das Medikament Imatinib (Glivec), mit dem die chronisch myeloische Leukämie (CML) bei vielen Patienten vermutlich geheilt werden kann. Im Folgenden werden die wichtigsten gezielten Therapien, die derzeit eingesetzt und erforscht werden, kurz vorgestellt und eingeordnet. Sie bilden neben teuren Verfahren der Bildgebung, Operationen, Praxen, Spezialkliniken und Vorsorgeverfahren das Fundament der Krebsindustrie.“ (S.53)
Die Pharmaunternehmen haben ihren Schwerpunkt von der Vermarktung der niedrigpreisigen Herz-Kreislaufmittel auf die teureren Krebsmedikamente verlegt. Der Einstieg begann mit den Tyrosinkinaseinhibitoren. Dies sind Moleküle, die auf die Wachstumssignalketten der Krebszelle einwirken, indem sie die Weitergabe der Signale erschweren. Besonders erfolgreich sind sie bisher bei der CML. Während bei den mit klassischer Chemotherapie behandelten Patienten nur zwanzig Prozent länger als zehn Jahre überlebten, sind es mit diesem Tyrosinkinaseinhibitator „wahrscheinlich über 80 Prozent“. Sie müssen das Medikament ihr Leben lang einnehmen. Entwickelt wurde das Medikament von einem klinischen Wissenschaftler, der weder von seiner Uni (Harvard) noch von der Pharmaindustrie unterstützt wurde. Nachdem er wusste, welches Gen bei den CML Patienten verändert ist und als Onkogen den Krebs verursacht, identifizierte er das Protein, das als Wachstumsfaktor die Zelle zu immer neuer Teilung anregt. Er fand in einem langwierigen Prozess des Versuchs und Irrtums Moleküle, die dieses Protein hemmen. Da es auch andere Proteine hemmte, wurde es so lange verändert, bis es „einigermaßen gezielt fast nur das Wachstumsprotein hemmte“. (S. 56)
Allein 2014 verdiente Novartis mit diesem Produkt Imatinib über 4,7 Milliarden Dollar. Die jährlichen Therapiekosten liegen pro Patient bei 51 000 Euro. Als die Firma Novartis den Preis des Medikaments im Jahre 2012 noch einmal deutlich erhöhte, veröffentlichten renommierte Wissenschaftler in der Fachzeitschrift „Blood“ eine Anklageschrift. In der sie der Firma „unethische Profitmache“ vorwarfen. Auch in reichen Ländern können nicht mehr alle Patienten behandelt werden, in den armen Ländern haben sie keine Chancen, es während ihrer Lebenszeit je zu bekommen. Die Firma hat die Dauer des Patents dann noch einmal um zwei Jahre verlängert. Obwohl: „Die Krebsmedikamente, die in der Zeit von 2002 bis 2004 zugelassen worden sind, haben trotz hoher Kosten die durchschnittliche Überlebenszeit der Patienten nur um 2,1 Monate verlängert und das Tumorwachstum im Durchschnitt nur um 1,5 Monate verzögert.“ (S. 61)
Ein anderer viel versprechender Ansatz sind die Checkpoint-Inhibitoren. Sie erleichtern es der körpereigenen Immunabwehr, die Krebszellen zu vernichten. Der Körper wehrt beständig Krebszellen mittels seiner Immunzellen ab. Darauf kann sich die Krebszelle einstellen, indem sie sich tarnt. Die Checkpoint-Inhibitoren können diese Tarnung abbauen und die eigene Immunabwehr kann wirken. Ein Nachteil ist die Größe der Moleküle; sie können nicht vom Darm als Ganzes resorbiert werden, sondern müssen per Spritze verabreicht werden.
Die Zulassungsstudien sind in allen Staaten ein Problem. Zu oft werden sie von den Pharmafirmen im Sinne eines Bias beeinflusst: Probanden, die außer ihrer Krebserkrankung gesund sind, werden ausgesucht, Studien werden abgebrochen, bevor sich Nebenwirkungen oder gar Resistenzen zeigen. Die Anzahl der Probanden ist zu klein und unerwünschte Ergebnisse werden nicht publiziert. Die amerikanische Krebsgesellschaft schlägt vor, die Hürden für Zulassungsstudien deutlich anzuheben.
In England existieren im Nationalen Gesundheitsdienst NHS strenge Regeln, nach denen über das National Institute of Clinical Excellence (NICE) nur solche Medikamente finanziert werden, deren Evidenz erwiesen ist. Daneben wurde nun ein eigener Topf geschaffen, um Krebsbehandlungen zu ermöglichen. „Mittlerweile werden in Großbritannien, bereits rund zwanzig Prozent der gezielten Krebsmedizin auf diesem Wege finanziert, Letztlich handelt es sich um eine vom NHS geduldete Umgehung der eigenen Verfahren der evidenzbasierten Medizin.“ (S.74)
Bis zum Jahr 2011 ruhten die großen Hoffnungen der gezielten Krebsbehandlung auf den Tyrosinkinaseinhibitoren und der Antikörperbehandlung. Eine weitere Behandlungsmethode wird erwähnt, die CART-Behandlung (Chimeric Antigen Receptor T-Cells). „Dabei entnimmt man die T-Zellen des Krebspatienten und manipuliert sie im Labor derart, dass sie die Krebszellen des Patienten besser erkennen und angreifen können.“ Diese werden dann außerhalb des Körpers vermehrt und dem Patienten in größtmöglicher Anzahl wieder zugefügt. „Anschließend sehen die Ärzte den Tumor offenbar regelrecht wegschmelzen.“
Auch bei dieser Behandlungsweise ist nicht bekannt, welche Langzeitwirkungen sie hat, der Preis steht jedoch schon fest, deutlich mehr als hunderttausend Euro pro Fall. Dieser „Lazarus-Effekt“ wird von den Medien aufgegriffen, über die tödlichen Nebenwirkungen wird nicht berichtet. Karl Lauterbach rechnet mit etwa zehn Jahren, die es dauern wird, bis diese neuen Therapien ausreichend bewertet werden sein können.
Zu 3. Die Krebs-Industrie wächst
In diesem dritten Kapitel werden fünf Vorwürfe gegen die „Krebs-Industrie“ aufgeführt, welche dann vertiefend erläutert werden. In dieser Rezension werden die Vorwürfe und weitere Erläuterungen mit ihren jeweiligen Überschriften wiedergegeben.
Vorwurf 1: Die hohen Preise haben nichts mit dem tatsächlichen Nutzen der Medikamente zu tun. Wissenschaftler der National Cancer Institute in den USA fand „keinen Zusammenhang zwischen den Kosten und der Hemmung des Krebswachstums und auch keinen Zusammenhang zwischen den Kosten und der Überlebenswahrscheinlichkeit…Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die derzeitigen Preise irrational sein und einfach nur reflektieren, was der Markt bereit ist zu zahlen.“
Vorwurf 2: Die hohen Medikamentenpreise resultieren nicht aus den Forschungskosten, sondern dienen allein den Profitinteressen der Unternehmen. Bei dieser Behauptung handelt es sich um einen Mythos, der von Lobbyisten auch an Politiker herangetragen wird. Studien haben ergeben, dass „die tatsächlichen Forschungskosten nur einen Bruchteil der von der Industrie immer wieder vorgetragenen Summe“ betragen. Wesentliche Innovationen wurden nur bei 4 Prozent von ihnen festgestellt. Und diese Kosten werden schon innerhalb weniger Monate auf dem Markt bereits erwirtschaftet.
Vorwurf 3: Die Konzerne missbrauchen ihre Marktmacht. Nur die großen Unternehmen sind in der Lage, die neuen Krebsmittel auf den Markt zu bringen. Auch wenn kleine Firmen oder wissenschaftliche Institute die Wirkstoffe zwar erfinden, können sie sie aber nicht schnell genug „durch das Zulassungsverfahren manövrieren,“ weil „ihnen dazu das Geld und auch der Einfluss auf die notwendigen Wissenschaftler in Kliniken und in Zulassungsbehörden“ fehlen. „Somit nutzen die Pharmaunternehmen ihre Quasi-Monopolmacht aus, um die Preise so hoch wie möglich zu schrauben.“ (S.104)
Vorwurf 4: Die Pharmafirmen behindern die Forschung oft sogar. Am Beispiel einiger der in den USA etablierten Krebsmedikamente wird ausgeführt, dass sie zwar von Forschungsinstituten entwickelt wurden, die die Steuerzahler finanzierten, jedoch die Gewinne nur den Pharmafirmen zu Gute kommen. „Man muss davon aufgehen, das Pharmafirmen nur etwa 1,3 Prozent ihres Umsatzes für Grundlagenforschung ausgeben; in den USA, wo die meisten Entdeckungen gemacht werden, werden 85 Prozent der Grundlagenforschung vom Steuerzahler finanziert.“ (S.104) Lauterbach fordert Wissenschaftler auf, sich nicht an Studien zu beteiligen, die nur der Vermarktung dienen. Sie sollten echte neue Therapiekonzepte und Wirkstoffe erforschen. Vor allem in Deutschland verbringen die unabhängigen Wissenschaftler viel Zeit damit, Forschungsanträge auszufüllen. „Die Pharmaunternehmen sind meines Erachtens in der moralischen Pflicht, einen deutlich höheren Anteil ihrer Umsätze an die Gesellschaft zurückzugeben.“ (S.106)
Vorwurf 5: Die hohen Preise sprengen das System. Die derzeitige und vor allem die kommende Kostenlawine macht Solidarsysteme unbezahlbar. USA Wissenschaftler sprechen von „Financial Toxicity“. In den armen Staaten, in denen mehr als sechzig Prozent der Krebsfälle zukünftig auftreten werden, sind sie schon jetzt unbezahlbar.
Die Kostenlawine durch die Krebserkrankungen der Babyboomer. Dieses Unterkapitel stellt das Herzstück des Buches dar. In den nächsten Jahrzehnten werden zunehmend Menschen an Krebs erkranken, die zwischen 1950 und 1970 geboren wurden, es sind in Deutschland rund 25 Millionen. Sie erreichen das Alter, indem der Mensch an Krebs erkrankt. Einige werden noch im Arbeitsleben stehen; die gesundheitsökonomischen Auswirkungen werden in ihrer Breite dargestellt. Es entstehen nicht nur die horrenden Kosten der Therapien, sondern auch durch die Ausfälle wegen fehlender Einzahlungen in Solidarkassen, oder, wegen des Ausfalls der sie pflegenden Angehörigen. Werden wir Behandlungen rationieren müssen, und, wenn ja, auf welche Weise?
Um eine hohe Qualität der Behandlungen zu gewährleisten, ist die Konzentration auf spezialisierte Einrichtungen notwendig. Dies bedeutet jedoch für Patienten, aber auch für Pflegepersonal und Ärzte einen zumindest gefühlten Kontrollverlust. „…weil sie sich zunehmend als verplante Räder in einer großen Industriemaschine sehen und nicht als individuell dem Patienten zugewandte Helfer…“ (S.141) Angesichts dieses neuen Wissens versagt auch der Verbraucherschutz. „Tatsache ist, dass der Krebspatient in Deutschland kaum Möglichkeiten hat, eine von der Krebsindustrie unabhängige Bewertung seiner Lage zu bekommen.“ (S.144)
Zu 4. Kapitel Was kann die Politik tun im Kampf gegen den Krebs und die Krebs-Industrie?
Im vierten wird die Bedeutung der Genetik bei Erkrankung und Therapie in den Vordergrund gestellt. Eine andere, eine genetische Datengrundlage ist erforderlich und eine gezielte Förderungspolitik der Wissenschaft — ohne die Produzenten und Vermarkter der Therapien. Dazu fehlen Voraussetzungen. Zurzeit besteht ein Gefälle zwischen der Behandlung in den universitären Zentren und denjenigen, die in Kleinstädten oder auf dem Lande behandelt werden, obwohl sie mit ihren Beiträgen eben diese Zentren mitfinanzieren. Das führt zur Forderung nach mehr Krebszentren und einer besseren Vernetzung, einem beständigen Erfahrungsaustausch zwischen den Ärzten. „Grundsätzlich müssen wir die Strukturen den neuen medizinischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten anpassen – und nicht umgekehrt.“ (S.163)
Im Gesundheitswesen gibt es zu viele Fehlanreize, unnötige, auch überflüssige Therapien zu verordnen, in den Krankenhäusern, aber auch im ambulanten Bereich. „Wir müssen selbstkritisch die Frage stellen, ob dem Patienten die Behandlung bis zum Tod zugemutet werden sollte, auch wenn viele Ärzte diesen Weg selbst niemals gehen würden.“ (S.168)
Vor allem in Deutschland sind die Aufenthalte in den Krankenhäusern zu lang. Krebspatienten sind in Krankenhäusern die Cashcows, durch die Therapien werden sie länger als nötig an das Krankenhaus gebunden und man nimmt ihnen die Möglichkeit, ihr Leben würdevoll zu Ende zu bringen. Eine frühzeitige Aufnahme der Patienten in die Palliativmedizin verlängert deren Lebenserwartung. Lauterbach fordert eine flächendeckende Versorgung mit Palliativ- und Hospizangeboten. Derzeit geben wir für eine Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV) nur sieben Prozent der Summe aus, die wir allein für die Medikamente der gezielten Therapien aufwenden. Als Konsequenz bemängelt er, der Gesundheitsökonom, dass „eine kritische Auseinandersetzung mit der Krebsindustrie“ gerade von den Instituten der Gesundheitsökonomie bisher nicht geleistet wird.
Zur Frage, wie sich Preise regulieren lassen, wird auch die Situation in anderen führenden Industrienationen besprochen. Sie alle werden, auf verschiedene Art und Weise, von den Pharmafirmen kontrolliert. Deutschland hat mit der Einrichtung des IQWiG und der Verabschiedung des AMNOG Grundlagen geschaffen, die noch zu oft durch das Handeln der Pharmafirmen und dem Entgegenkommen der Krankenkassen unterlaufen werden. So sind die Preise in Deutschland deutlich höher als in anderen Staaten. Lauterbach fordert eine Europäisierung der für Krebsmedikamente geltenden Preise, dazu müsse allerdings die EMA, die europäische Zulassungsbehörde, „wieder unabhängiger von der Industrie arbeiten können.“ (S.179)
Zu 5. Vorbeugung und Früherkennung – was hilft, was schadet
Im fünften Kapitel werden Erkenntnisse zu grundlegenden Ratschlägen verdichtet. Die fünf Prozent der Krebspatienten, die ein familiäres Risiko haben, sind besonders anfällig, aber: „95% aller Fälle sind das Ergebnis von purem Zufall oder vermeidbaren Risikofaktoren.“ Der wichtigste Risikofaktor ist das Rauchen, nicht nur für Lungenkrebs. Übergewicht, Bewegungsmangel sind für alle Erkrankungen ein Risiko, Alkohol eher für Brust- und Darmkrebs, für letzteren auch der Verzehr von rotem Fleisch und eine Ballaststoff arme Ernährung. Diese Erörterungen der Krebsentstehung als multifaktorielles Geschehen allein lohnt die Lektüre. Lauterbach weist auch auf die Schichtspezifität dieser Risikofaktoren hin und versteht sich explizit als Aufklärer.
Es folgt eine vertiefende Zusammenfassung des derzeitigen Wissens über die vier wichtigsten Krebserkrankungen, dem Lungenkrebs an erster Stelle, dann Darmkrebs, Brustkrebs und Prostatakrebs. Daraus folgen sehr präzise und unterschiedliche Empfehlungen für einzelne etablierte Maßnahmen der Prävention. Grundsätzlich gilt, dass jeder Mensch, der vermehrte Krebsfälle in der Familie hatte, unabhängig von der jeweiligen Krebsart, die angebotenen Screenings nutzen sollte.
Wie sinnvoll ist das Mammographiescreening? lautet ein Abschnitt. Die verbesserten Überlebensraten von heute mehr als achtzig Prozent sind auch den verbesserten Behandlungsmethoden geschuldet. Ob zu Mammographien geraten werden kann, wird nach 2019 besser zu beurteilen sein, wenn die laufenden Untersuchungen ausgewertet sein werden. Derzeit werden die Frauen auch von ihren Ärzten nicht in dem Umfang über deren Sinn aufgeklärt, der es ihnen ermöglicht, eine eigene Entscheidung treffen zu können.
Prostatascreening - vor allem ein gutes Geschäft? Hier wird Lauterbach klarer, er fordert, den Test als IGEL-Leistung zu verbieten und von den Kassen bezahlen zu lassen, „Falls der Patient ihn nach ehrlicher und vollständiger Aufklärung tatsächlich noch wünscht.“ Je älter der Mann, umso mehr Krebszellen finden sich in jeder Prostata. Dass sie zu einem Tumor heranwachsen ist unwahrscheinlich, die Folgen der Operation, Inkontinenz und Impotenz zu gravierend, als dass diese als Vorsorge empfohlen werden kann.
Anders bei der Darmspiegelung, hier wird die Spiegelung nicht nur als Diagnostik, sondern auch als Therapie empfohlen, denn die vorsorglich entdeckten Polypen werden gleich entfernt. Ähnlich positiv werden das Hautkrebsscreening und das Gebärmutterhalskrebsscreening bewertet.
Auch alternative Medizin und unwirksame Schutzfaktoren werden erörtert. Nach Schätzungen wenden etwa 70% der Krebspatienten in Deutschland zusätzlich alternative Methoden an. Diese werden wohlwollend beschrieben, da wo sie nachgewiesene Wirkungen haben: Grüner Tee, Beeren, vegetarische Ernährung, ungesättigte Fette, Spezialdiäten oder „Körper-Geistmethoden.“ „Überraschenderweise liegt der Schaden der Alternativen Medizin eher im Bereich der Vorbeugung, und zwar dann, wenn sich Patienten besser vor Krebs geschützt fühlen, als sie es in Wirklichkeit sind, und daher auf wahre Vorbeugungsmaßnahmen und Früherkennung verzichten oder sogar Risikofaktoren akzeptieren.“ (S. 254) Lauterbach gibt Informationsquellen an und ermuntert, sich eine zweite Meinung anzuhören.
Zu 6. Ausblick: Wann wird Krebs heilbar sein?
Dessen Behandlung wird sich weiter entwickeln, indem die Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte angewandt werden. Ein Prinzip wird sein, Krebsmerkmale gleichzeitig anzugreifen, mit mehreren gezielten Therapien, statt mit einzelnen nacheinander. Grundlage ist ein gesichertes Wissen über die genetische Beschaffenheit des Tumors. Im Bereich der Vorbeugung könnte der genetische Fingerabdruck Krebsvorstufen erkennen lassen. Auch könnten Impfungen entwickelt werden, mit deren Hilfe die eigene Immunabwehr einsetzen könnte.
Im Weiteren wird die Zwischenlösung anvisiert, den Krebs nicht entfernen zu wollen, sondern mit ihm zu leben. Gänzlich unerforscht sind individuelle Kombinationen von Nährstoffen. Das Buch endet mit folgendem Satz: „Forschung an epigenetischen Vorbeugeverfahren durch Nahrungsmittel z. B. wird bisher kaum gefördert und von der Krebsindustrie gar nicht unterstützt. Wann Krebs heilbar sein wird, ist somit auch eine Frage der Politik der nächsten Jahre.“ (S.266)
Fazit
Dieses Buch kann ohne Zögern empfohlen werden, es ist, unter denen, die in den letzten Jahren erschienen sind, eines der wichtigsten Bücher zu den Entwicklungen im Gesundheitswesen. Dies gilt nicht nur angesichts der derzeitigen und zukünftigen Entwicklung der Krebserkrankungen und ihrer Therapien. Die punktgenaue Beschreibung der Missstände unseres Gesundheitswesens: Fehlversorgung, ungleiche Versorgung, Unterfinanzierung der unabhängigen Forschung, Korruption und Monopol der Pharmaindustrie über die ärztliche Fortbildung und Aufklärung der Bevölkerung sind treffend dargestellt. Dabei wird ein Versuch gemacht, positive Wendungen, oder doch zumindest die Ansätze dazu, zu beschreiben und/oder anzumahnen.
Dem eiligen Leser seien die Einleitung, das Unterkapitel des dritten: Die Kostenlawine durch die Krebserkrankungen der Babyboomer, sowie die Empfehlungen im fünften Kapitel empfohlen. Sie geben, auf einem hohen Niveau, einen guten Einblick in die Materie. Der Politiker Lauterbach deckt Schwachstellen auf und der Wissenschaftler belegt diese Aussagen.
Rezension von
Prof. Dr. Eva Luber
MSc
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Zitiervorschlag
Eva Luber. Rezension vom 25.02.2016 zu:
Karl Lauterbach: Die Krebs-Industrie. Wie eine Krankheit Deutschland erobert. rowohlt Berlin Verlag
(Berlin) 2015.
ISBN 978-3-87134-798-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19856.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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