Armin Nassehi, Peter Felixberger (Hrsg.): Kursbuch 183. Wohin flüchten?
Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Helmert, 27.11.2015
Armin Nassehi, Peter Felixberger (Hrsg.): Kursbuch 183. Wohin flüchten? Murmann Verlag (Hamburg) 2015. 192 Seiten. ISBN 978-3-86774-425-6. D: 19,00 EUR, A: 19,60 EUR, CH: 27,50 sFr.
Thema
War das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Lager, wird das 21. Jahrhundert womöglich das Jahrhundert der Flucht. Zumindest erscheint es uns so, weil die Katastrophen an der Südflanke Europas mit ihren schrecklichen Bildern sich kaum aus dem Sinn vertreiben lassen. Doch Flucht, Vertreibung und Wanderung gehören immer schon zum Grundarsenal gesellschaftlicher Entwicklungen. Dass ist für die Kursbuchautoren Anlass genug, grundsätzlich darüber nachzudenken, woher man flieht, vor allem aber, wohin und warum – und ob es hilft.
Herausgeber
Dr. Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Peter Felixberger ist Publizist und Politologe und seit 2012 Chefredakteur des neuen Kursbuch.
Aufbau …
Das Buch ist nach einem Editorial von Armin Nassehi in die folgenden Kapitel unterteilt:
- Alfred Hackensberger: Der Tod als Waffe Flüchtlinge und ihre Träume
- Jochen Oltimer: Der lange Marsch. Europa im globalen Wanderungsgeschehen
- Roger Zetter: Angstgetrieben. Wie die Furcht vor dem Fremden die europäische Einwanderungspolitik bestimmt
- Albert Scherr:Abschiebungen. Verdeckungsversuche und Legitimationsprobleme eines Gewaltakts
- Miltiadis Oulios: Die Grenzen der Menschlichkeit. Warum Abschiebung keine Zukunft hat
- Jürger Ebach: Ethik aus Erinnerung. Biblische Perspektiven auf Flüchtlinge und Fremde
- Armin Nassehi: „Die arbeiten nichts“. Eine kleine Polemik gegen den »Wirtschaftsflüchtling«
- Carlo Kroiß: Und sie bewegen sich doch. Über Ankommen und Auskommen in Deutschland
- Friedrich Kiesinger: Empowerment von unten. Aufsuchende Flüchtlingshilfe in Berlin
- Wolfgang Bauer und Philipp Ruch: Die Flüchtlinge und wir. Ein Gespräch über falsche Betroffenheit, Ignoranz und echtes Mitgefühl
- Ferdinand Haenel: Flüchtiges Glück. Warum Deutschland kein guter Ort für Folteropfer ist
- Wilhelm Bartsch: Geistergeschichten
… und ausgewählte Inhalte
Editorial: „Wohin flüchten?“ – das ist derzeit für viele Flüchtlinge die entscheidende Frage ihres Lebens. In den unterschiedlichsten Regionen der Welt flüchten Menschen vor Verfolgung, Gewalt, Staatszerfall und ökonomischer Hoffnungslosigkeit. »Wohin flüchten?« ist womöglich nicht die erste Frage, sondern frühestens die zweite. Die erste zielt aufs Gehen. Erst mal weg hier! Wer vor dem IS flüchtet, fragt nicht: »Wohin?« Und wer aus afrikanischem Staatszerfall flüchtet, auch nicht. Und doch gibt es auf das »Wohin?« eine deutliche Antwort. Sie heißt Europa. In einer Zeit, in der Europa sich selbst krisenhafter sieht denn je, wird es von außen immer attraktiver für Flüchtlinge – trotz der Grunderfahrung, die wohl die meisten Flüchtlinge machen: dass sie letztlich nicht gewollt und nicht willkommen sind.
Das »Wohin?« ist zwar eine offene Frage, aber nicht die entscheidende. Und doch stellt sich die Frage – und auch wir stellen sie. Die Beiträge in diesem Kursbuch lavieren alle zwischen den Push- und Pull-Kräften zwischen dem Weg und dem Wohin. Und sie weisen allesamt darauf hin, dass die Kategorien der öffentlichen Diskussion über die derzeitigen europäischen Flüchtlingsfragen völlig untauglich geworden sind. Diese Kategorien speisen sich aus zwei Quellen: Zum einen ist es ein stark moralisch aufgeladener Diskurs, zum anderen eine allzu starke Konzentration auf den Asyltatbestand, im deutschen Fall gestützt durch den Artikel 16a des Grundgesetzes.
Das Kursbuch »Wohin flüchten?« bietet deshalb auch keine klaren Antworten, sondern eher eine Bestandsaufnahme eines Prozesses, der gerade beginnt. Den Beiträgen dieses Kursbuchs kann man mehr als in unseren früheren Ausgaben ansehen und anhören, wie ungeklärt die Gemengelagen um Flucht und Vertreibung sind. Umso mehr danken wir unseren Autoren dafür, sich darauf eingelassen zu haben.
Der in Tanger lebende Journalist Alfred Hackensberger beschäftigt sich der Situation und den Träumen der Flüchtlinge in seinem Wohnort: Jeden Tag fahre ich an ihnen vorbei: auf dem Weg zur Schule, zum Einkaufen, in die Stadt oder zum Strand. Bei jeder roten Ampel klopfen sie an meine Fensterscheibe. Junge Männer, die mit leidender Miene die Hand an den Mund führen und sagen, sie haben Hunger. Junge Mütter deuten auf ihre am Rücken festgeschnallten Babys und sagen, sie brauchen Milch. Es sind Menschen aus Nigeria, Kamerun, Mali oder aus dem Tschad, aber auch aus Syrien und Pakistan, die sich zum Heer der professionellen Bettler gesellen, die in Tanger zum Straßenbild gehören. Die meisten Flüchtlinge geben offen zu, sie wollten von der marokkanischen Hafenstadt aus nach Spanien. Die wenigen, die behaupten, in Marokko Arbeit zu suchen, haben Angst. Das ist verständlich, denn ihr Trip, den sie über die Meerenge von Gibraltar vorhaben, ist illegal, und sie befürchten Probleme mit der Polizei. Die behandelt sie in der Regel wenig zimperlich und kann sie völlig überraschend nach Rabat, Casablanca oder Marrakesch verfrachten. Aber Ausreden ergeben in Tanger wenig Sinn. Sie werden nur mit einem müden Lächeln quittiert. Jeder weiß, wozu die Fremden gekommen sind. Die marokkanische Millionenstadt am Mittelmeer, an der äußersten Nordspitze des afrikanischen Kontinents, gilt seit über 20 Jahren als Sprungbrett für Migranten nach Europa. Es ist die beständigste Route. Momentan ist sie jedoch in Vergessenheit geraten. Im Brennpunkt steht zurzeit Libyen, von dem aus Tausende von Flüchtlingen nach Italien in See stechen und dabei Hunderte von ihnen ihr Leben lassen. Wie lange Libyen allerdings noch Transitland bleibt, hängt vom Verlauf des Bürgerkriegs ab. In jedem Fall ist es nur ein temporäres Schlupfloch, so wie das vorher Mauretanien oder der Senegal waren. Auf Druck Europas machen die lokalen Sicherheitsbehörden irgendwann dicht, und die Flüchtlingsströme sickern aus.
In Tanger ist es anders. Denn von hier aus sind es nicht Hunderte Seemeilen, sondern nur 14 Kilometer, die Afrika vom europäischen Kontinent trennen. Marokkos Polizei und Militär verhindern zwar das Auslaufen von Flüchtlingsbooten nahezu vollständig. Aber die kurze Strecke scheint so verlockend, dass nonstop Flüchtlinge anreisen – egal wie groß oder klein die Chancen sind, auf die andere Seite des Mittelmeers zu gelangen. Laut Registrierung des katholischen Hilfswerks Caritas in Tanger sollen es rund 20 000 Menschen sein, die den Norden Marokkos belagern und auf ihre europäische Chance warten. Wahrscheinlich sind es mehr, denn nicht alle sind bei der Caritas gemeldet. Und für die Bewohner von Tanger, einschließlich mir, scheinen es so viele zu sein wie nie zuvor. Vor zehn oder 15 Jahren wohnten sie in billigen Pensionen in der Altstadt, und es gab einige Camps außerhalb der Stadt. Heute müssen sie auf die Vorstädte von Tanger ausweichen, und dort gibt es unzählige Lager im Freien. Mit ein Grund für den Anstieg: Der Weg über Tanger ist die weitaus weniger gefährliche Route. Libyen ist Bürgerkriegsland, und von dort auf wackeligen, überfüllten Booten das gesamte Mittelmeer zu überqueren, grenzt beinahe an Selbstmord.
Der Historiker Jochen Oltmer verweist zunächst darauf, dass von globaler Migration in größerem Umfang seit etwa dem 15. Jahrhundert gesprochen werden kann. Die Historische Migrationsforschung hat seit den späten 1980erJahren eine enorme Vielfalt von Wanderungsvorgängen der Vergangenheit erschlossen und ist heute in der Lage, Jahrzehnte und Jahrhunderte überblickende Entwicklungslinien zu verdeutlichen.
Die eigentliche Massenzuwanderung auf den europäischen Kontinent begann erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, gefördert vor allem vom Prozess der Dekolonisation: Die Auflösung der europäischen Kolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg führte zu einer massiven Rückwanderung von europäischen Siedlern nach Europa. Darüber hinaus wurde im Prozess der Dekolonisation die Zuwanderung kolonialer Kollaborateure in die ehemaligen Mutterländer« zugelassen, die als Verwaltungsbeamte, Soldaten oder Polizisten die koloniale Herrschaft mitgetragen hatten. Vor allem das Ende der globalen Imperien der Niederlande, Frankreichs sowie Portugals brachte umfangreiche Fluchtbewegungen und Vertreibungen mit sich. Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 1980 kamen insgesamt etwa fünf bis sieben Millionen »Europäer« im Kontext der Dekolonisation aus den ehemaligen Kolonialgebieten auf den europäischen Kontinent.
Nach dem Ende der Kolonialherrschaft in Indochina und dem Beginn des Unabhängigkeitskriegs in Algerien 1954 nahm Frankreich beispielsweise innerhalb eines Jahrzehnts 1,8 Millionen Menschen auf, die im Zuge der Dekolonisationskonflikte entwurzelt worden waren. Als noch umfänglicher erwies sich – im Verhältnis zur Bevölkerungszahl des Mutterlandes – die Zuwanderung im Prozess der Dekolonisation nach Portugal: Beginnend im Herbst 1973 kamen innerhalb nur eines Jahres fast eine halbe Million Retornados aus den ehemaligen portugiesischen Besitzungen in Afrika (Mosambik, Angola, Kap Verde, Guinea-Bissau, São Tomé und Príncipe).
In der ökonomischen Rekonstruktionsperiode der ersten drei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit ihren hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten und stark expandierenden Arbeitsmärkten kam es erneut und in noch wesentlich stärkerem Maße zur grenzüberschreitenden Fluktuation von Arbeitskräften im Rahmen eines spezifischen Migrationsregimes. West-, Mittel- und Nordeuropa bildeten das Ziel von Zuwanderern, die zumeist aus Anrainerstaaten des Mittelmeers kamen. Voraussetzung für Migration: finanzielle Ressourcen Globalisierung als Verdichtung sozialer Interaktionen und Vernetzungen zwischen Menschen, Gesellschaften, Ökonomien und kulturellen Systemen veränderte in dem vergangenen halben Jahrtausend die Welt grundlegend. Räume, in denen sich besonders dynamische Prozesse der globalen Vernetzung ausmachen ließen, können sehr häufig auch als Zentren ausgeprägter Zuwanderung beschrieben werden; denn Migration ist ein Element und ein Kennzeichen der Verdichtung von sozialen Interaktionen, sie ist Voraussetzung und Bestandteil der Vernetzung von Individuen und Kollektiven. Darüber hinaus tragen Migrationen zu Transformationsprozessen als Ergebnis der Globalisierung bei – sie veränderten die Zusammensetzung von Bevölkerungen, modifizierten ökonomische und soziale Strukturen, religiöse Praktiken oder künstlerische Ausdrucksformen. Migration war in den vergangenen Jahrhunderten ein zentrales Element der Globalisierung, ist es in der Gegenwart und dürfte es auch in Zukunft bleiben.
Die Vorstellung, in den vergangenen Jahrhunderten seien in der Regel vor allem die Menschen zu Migranten geworden, die besonders arm und bedürftig gewesen seien, ist ein Mythos. Tatsächlich bildeten finanzielle Ressourcen nicht erst in der Gegenwart eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung eines individuellen Migrationsprojekts: Formalitäten für Ein- und Ausreisen mussten auch in der Vergangenheit bezahlt werden, erhebliche Reise- und Transportkosten kamen hinzu, Agenten oder Vermittler galt es in der Regel (teuer) zu bezahlen. Meist konnte nicht sogleich nach dem Eintreffen eine bezahlte Tätigkeit aufgenommen werden, zum Teil erwiesen sich Anfangsinvestitionen als nötig, Sparkapital wurde verbraucht, Geld musste geliehen werden. Für die Allerärmsten war die Umsetzung eines solchen Migrationsprojekts immer schon illusorisch.
Unzählige Studien belegen: Armut schränkte die Bewegungsfähigkeit bereits in der Vergangenheit massiv ein. Häufig werden Teile der Wanderungsgeschichte eines Kollektivs als Beleg für die Tatkraft und den Wagemut der eigenen Vorfahren herangezogen und Teile der Zuwanderungsgeschichte als Beleg für Offenheit, Toleranz und Weitsicht. Selten allerdings gehen derlei Geschichten ein in die je aktuelle Aushandlung dessen, was als Migration und unter Migration verstanden wird. Diese Debatte bleibt weiterhin ganz einseitig geprägt durch eine Sicht, die Migration als Ergebnis von Krisen, Katastrophen und Defiziten sieht und ihre Folgen als Gefahr für Sicherheit, Wohlstand sowie gesellschaftliche und kulturelle Homogenität. Migration erscheint damit als Risiko, das dringend der restriktiven politischen Vor- und Nachsorge bedarf. Wanderungserfahrungen und geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse über abgeschlossene Wanderungsvorgänge werden in der Regel nicht als Ressource verstanden, gesellschaftliche Gelassenheit im Umgang mit dem Thema Migration zu gewinnen.
Der Soziologe Carlo Kroiß lässt ins seinem Beitrag die Flüchtlinge selbst zu Wort kommen. Asylbetrüger, Asylanten, Asylbewerber, Flüchtlinge, Geflüchtete – es gibt zahlreiche Erzählungen über Flucht: von kriminellen Schlepperbanden und ihren skrupellosen Machenschaften, von ungebremsten Flüchtlingsströmen und Asylbetrug oder von Krieg, Verfolgung, Elend und der rettenden Flucht. Doch dies sind alles Erzählungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft über Menschen, die geflüchtet sind. Die Geschichten der Geflüchteten selbst taugen maximal als Grundlage für rührselige Einzelfallporträts in der Zeitung oder als Teil einer Fallakte in einer Schublade der deutschen Ausländerbehörden. Dabei haben die Betroffenen viel zu berichten. Nicht nur von der Flucht selbst, sondern insbesondere auch vom Ankommen in Deutschland.
Im Rahmen seines Promotionsprojektes hat der Autor offene Interviews mit Asylbewerbern geführt. Ihre Geschichten bieten interessante Einblicke in das deutsch-europäische Asylregime und darüber hinaus etwas, das sonst nirgends zu finden ist: einen Blick auf Deutschland, der auf dem Grat zwischen Innen und Außen wandert. Die prekäre Lage der Flüchtlinge erlaubt Beschreibungen über inkludierende Exklusion beziehungsweise exkludierende Inklusion, die eine verfremdende und damit neue Perspektive auf vermeintlich Bekanntes eröffnet.
Die Geschichten der vier vorgestellten Asylbewerber unterscheiden sich in vielen Punkten. Die Gründe der Flucht, die Erlebnisse auf ihrem Weg nach Europa, aber auch persönliche Wertvorstellungen und Erfahrungen in Deutschland sind sehr verschieden und trotzdem nur ein kleiner Ausschnitt aus der Vielfalt der Erzählungen der ankommenden Geflüchteten. Dass individuelle Differenzen wie beispielsweise der Bildungshintergrund große Unterschiede für die Lebenschancen bedeuten, ist so offensichtlich wie banal. Dies ist auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht anders. Die entscheidende Differenz ist der prekäre Rechtsstatus. Flüchtlinge sehen die Möglichkeiten der deutschen Gesellschaft hat und sind trotzdem häufig davon ausgeschlossen, weil ihr Aufenthaltsstatus wie ein Filter den Zugang reguliert. Bildung, Arbeitsmarkt und damit zusammenhängend soziale Kontakte, Partizipationsmöglichkeiten am gesellschaftlichen und kulturellen Leben sind vom Ausgang des Asylverfahrens abhängig.
Eigentlich sind die vier Erzählungen Erfolgsgeschichten: So dramatisch einzelne Episoden auch sind, so elendig die Lage teilweise scheint, bisher haben sich alle sehr erfolgreich behaupten können und schmieden Zukunftspläne in Deutschland. Sie beschreiben sich als handlungsfähige Akteure, die sich auch von Rückschlägen nicht entmutigen lassen und ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen wollen. Die andere Seite der Medaille sind ganze Heerscharen von Helfern, die professionell oder ehrenamtlich Geflüchteten Deutschkurse anbieten, bei Rechtsproblemen oder der Jobsuche unterstützend tätig werden oder einfach nur einen netten Spielenachmittag für Flüchtlingskinder organisieren. Die guten und wirklich anerkennenswerten Absichten folgen dabei aber oft dem Bild vom Asylbewerber als hilflosem Opfer, das man an der Hand nehmen und in das neue Leben einführen müsste. Keine Frage: Viele dieser Hilfsangebote machen das Ankommen leichter beziehungsweise füllen wesentliche Lücken in der staatlichen Betreuung und Versorgung. Für viele geflüchtete Menschen sind solche Kontakte sehr wertvoll und eröffnen Beziehungen und Möglichkeiten – Voraussetzung für die Inklusion in Bildung, Beruf oder soziales Leben. Aber es besteht auch die Gefahr eines paternalistischen Verhältnisses, das Flüchtlinge nicht als potenzielle neue Mitbürger ernst nimmt, sondern als Projektionsfläche für die eigenen guten Absichten missversteht.
Zwischen den Polen der helfenden Hand und der Abschiebehaft bewegt sich die Diskussion in der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Die schrillsten Debattenbeiträge kommen dabei aus einem nationalistischen und rechtskonservativen Lager, das sich im Abwehrkampf für ein christliches Abendland wähnt und noch jedes Gerücht nutzt, um mit Ressentiments gegen Asylbewerber Politik zu machen. Doch egal, welche Position man zu Fragen der Einwanderung nach Deutschland bezieht, die ganze Debatte krankt an einem ofensichtlichen Bias: Es wird mit Vorliebe über und nicht mit den Geflüchteten gesprochen. dabei würden gerade hier große Potenziale liegen. Dabei würden gerade hier große Potenziale liegen. In den Interviews wurde deutlich, dass Asylbewerber die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird, sehr reflexiv verarbeiten. Erfahrungen in verschiedenen Ländern werden miteinander verglichen, die Unterbringungssituation in den Unterkünften wird differenziert bewertet, und auch die Notwendigkeit, eigene Anstrengungen für eine umfassende Inklusion zu unternehmen, ist allen bewusst. Aus meiner Sicht liegt hier das entscheidende Potenzial für Kritik. Wenn statt Flüchtlingsabwehr eine wie auch immer geartete Willkommenskultur Einzug halten soll, dann müssen wir auf die Berichte derjenigen hören, die man zu Recht als Experten ihrer selbst beschreiben kann: die Asylbewerber, die wissen, wo der Schuh drückt.
Zielgruppen
Alle politisch aufgeschlossenen Leser, die sich nicht nur für Gedankengänge des Mainstream interessieren.
Fazit
Ein lesenswerter Essayband, in dem in den zwölf Beiträgen zu verschiedenen Facetten der aktuellen Flüchtlingsdebatte kontrovers in den Inhalten und Schlussfolgerungen Stellung bezogen wird.
Rezension von
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe
Es gibt 101 Rezensionen von Uwe Helmert.
Zitiervorschlag
Uwe Helmert. Rezension vom 27.11.2015 zu:
Armin Nassehi, Peter Felixberger (Hrsg.): Kursbuch 183. Wohin flüchten? Murmann Verlag
(Hamburg) 2015.
ISBN 978-3-86774-425-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19863.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.
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