Julie Klinkhammer, Maria von Salisch: Emotionale Kompetenz bei Kindern und Jugendlichen
Rezensiert von Prof. Dr. Horst Jürgen Helle, 25.08.2017

Julie Klinkhammer, Maria von Salisch: Emotionale Kompetenz bei Kindern und Jugendlichen. Entwicklung und Folgen. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2015. 188 Seiten. ISBN 978-3-17-028392-3. 32,00 EUR.
Thema
Die Klinische Psychologin Julie Klinkhammer und die Professorin für Entwicklungspsychologie Maria von Salisch präsentieren auf den Seiten 9 – 162 (der reine Text des Buches) eine umfassende Übersicht über den neueren empirischen Forschungsstand zu den Emotionen junger Menschen. An dem langen Literaturverzeichnis (S. 163 – 186) erkennt der Leser, dass im Vorfeld dieser Publikation ein Forschungsprojekt abgearbeitet worden ist. Das ausgewertete Material führt die Verfasserinnen und ihre Leser häufig in die U.S.A. und zu den dort charakteristischen Fragestellungen und Vorgehensweisen. So lautet das Thema z.B. bei P. L. Harris „Das Kind und die Gefühle“ oder bei L. R. Dougherty „Children´s emotionality“.
Thema des hier besprochenen Buches sind dann aber nicht primär Emotionen und Gefühle sondern das, was die Verfasserinnen „Emotionale Kompetenz“ nennen. Es geht ihnen, wie sie selbst zu klären bemüht sind, um „individuelle Unterschiede zwischen verschiedenen Menschen bei den verschiedenen Komponenten von Emotionen. Diese Unterschiede werden oft unter dem Oberbegriff der emotionalen Kompetenz oder der emotionalen Intelligenz zusammengefasst.“ (S. 20).
Aufbau und Inhalt
Die Verfasserinnen gliedern ihr Buch in acht Abschnitte, eine Einleitung, die Kapitel 2 bis 7 und einen „Ausblick“ am Ende.
1. Einleitung: Hier wird u.a. erläutert, dass Defizite bei der emotionalen Kompetenz zu fehlerhafter Wahrnehmung von Emotionen der Mitmenschen und daher zu Fehldeutungen ihrer Absichten führen können. Die Verfasserinnen „hoffen,“ dass ihre Ausführungen „Studierende der Psychologie, der Bildungswissenschaften und der Lehramtsstudiengänge sowie Praktiker/innen mit Interesse an Entwicklung, Beratung und Pädagogischer Psychologie informieren können.“ (S. 11)
2. Emotionen und emotionale Kompetenz: Hier folgen eine Begriffsklärung und die Vorstellungen der Methoden zu Erfassung des Untersuchungsgegenstandes. Die einschlägige Literatur (ca. der Jahre 1985 bis 2014) wird ausführlich referiert, Messverfahren werden beschrieben (die Modelle emotionaler Kompetenz und Intelligenz von Salovey und Mayer (S. 20-24) und verschiedene weitere Konzepte emotionaler Kompetenz werden referiert und verglichen (S. 25-33).
3. Entwicklung emotionaler Kompetenz bei Kindern und Jugendlichen: Hier werden Erfolg oder Misserfolg bei dem Erwerb von Fähigkeiten im Ausdrucksverhalten, bei der Wahrnehmung, der Verarbeitung, der Regulierung und der Sicherheit im Umgang mit dem Vokabular zu Emotionen erörtert. Im Anschluss an L. A. Sroufe ist bei Neugeborenen von „Vorläuferemotionen“ die Rede (S. 36). „Bei der Geburt verfügt der Säugling über ein dreigeteiltes emotionales Ausdrucksvermögen: Er zeigt Distress durch Weinen und Irritabilität, lächelt bei Vergnügen und zeigt Aufmerksamkeit und Interesse an der Umwelt.“ (S. 37). Am Ende des Kapitels werden „Emotionserleben..“ und „Emotionsregulation im Jugendalter“ (S. 67) besprochen.
4. Individuelle Einflussfaktoren auf die Entwicklung emotionaler Kompetenz: Thema des Kapitels sind z.B. sprachliche Fähigkeiten, Aufmerksamkeit, Geschlecht und Temperament: „Sprachliche Fähigkeiten sind vor allem bei jungen Kindern von Bedeutung, nicht nur, wenn es darum geht, eigene und fremde Emotionen zu verstehen und mehr über sie zu lernen, sondern auch um die eigenen Gefühle ‚in den Griff zu bekommen.‘“(S. 72) Ein Vergleich der Geschlechter führt zu dieser Einsicht: „So zeigen Jungen mehr Ärger bzw. Enttäuschung und weniger Trauer als Mädchen, während Mädchen Trauer eher mitteilten und Ärgerausdruck deutlich kontrollierten..“ (S. 76).
5. Erziehung und Umwelteinflüsse..: Hier kommen Eltern, Gleichaltrige, sozioökonomischer Status und Kultur als Quellen von Einflüssen zur Sprache. Die Verfasserinnen mahnen an, dass Eltern mit ihren Kindern „über Gefühle sprechen“ (S. 87) müssen. Dazu gehört, dass Mütter und Väter „die Fähigkeit zur emotionalen Perspektivenübernahme fördern“ und den Kindern „eine aktive Teilnahme an ihrer kulturellen Gemeinschaft“ ermöglichen sollten (S. 87, nach Thompson 2006, zitiert nach Tennenbaum et al., 2008).
6. Folgen für den Schulerfolg: „Emotionale Kompetenz ist mit der psychosozialen Anpassung von Kindern und Jugendlichen und ihren zwischenmenschlichen Beziehungen eng verknüpft“ (S. 106). Sogenannte „Vorläuferfähigkeiten“ bilden die Voraussetzung für das Eintreten oder Ausbleiben des Schulerfolgs. Auch in diesem Kapitel referieren die Verfasserinnen empirische Untersuchungen, vorwiegend aus den U.S.A., in denen u.a. nach Zusammenhängen zwischen „Emotionswissen, Emotionsregulierung und Schulerfolg“ (S. 111 ff.) gefragt wird. Dabei fällt die etwas gewöhnungsbedürftige Verwendung des Begriffs „akademisch“ auf: Berichtet wird aus einer Untersuchung über des „Emotionsverständnis von 72 Kinderkartenkindern und deren spätere akademische Kompetenz (Lese- und Rechenfertigkeiten und Leistungsmotivation) …“ (S. 111).
7. Prävention: Programme zur Förderung emotionaler Kompetenz: Was durch Prävention vorausschauend verhindert werden soll, ist eine fehlerhafte oder fehlende Entwicklung des „Emotionswissens.“ Dabei wird nun die „emotionale(n) Kompetenz von Heranwachsenden“ (S. 123) einbezogen. Vorgestellt und diskutiert werden verschiedene Präventionsprogramme, deren Einsatz „vor Schulanfang“ (S. 124) bzw. „im Kindergarten“ (S. 127) vorgesehen ist. Zur Kindergartenprävention werden konkret die Programme „Kindergarten plus“ (S. 127 bis 130), „Papilio“ (S. 130 bis 133) und „Faustlos“ (S. 133 bis 138) besprochen sowie anschließend verglichen und evaluiert (S. 138 bis 154). Am Schluss des Kapitels kommen die Verfasserinnen in ihrer Zusammenfassung (S. 154 bis 155) für „Faustlos“ zu diesem überraschenden Ergebnis: „Lediglich im Interview mit den Kindern und beim Beobachtungsverfahren zeigten sich einzelne positive Effekte, die für eine Wirksamkeit des Programmes sprechen … Auf längere Sicht ist insgesamt von einer abnehmenden Wirksamkeit aller Interventionen auszugehen …“ (S. 155).
8. Ausblick: Zu ihrem „Ausblick“ schreiben die Verfasserinnen, dies sei „ein kurzes Kapitel zu den Folgen emotionaler Kompetenz für die Entwicklung der Lebensspanne.“ (S. 11). Auch hier werden aber wieder Ergebnisse anderer Untersuchungen referiert (S. 156 bis 160), was zum Teil zu Wiederholungen führt. Dann folgt der Aufruf: „Statt mit spezialisierten Präventionsprogrammen einzelne Brandherde zu löschen, erscheint es gewinnbringender, Kindern und Jugendlichen jene elementaren Fähigkeiten zu vermitteln, die ihre Zukunftschancen verbessern.“ (S. 160). Abschließend liest man noch zu den „Folgen emotionaler Kompetenz im Erwachsenenalter“ (S. 161 f.): „Menschen, die im Leben erfolgreich sind, gelingt es, ihre Erwachsenen-Rollen (als Freund/in, Ehemann/-frau, Mitarbeiter/in, Elternteil) angemessen auszufüllen; sie können sich an verschiedene Situationen anpassen und kommen in den praktischen Dingen des Lebens zurecht. Empirische Ergebnisse belegen beispielsweise, dass Fähigkeiten der Emotionsregulation zum ‚Erfolg‘ einer Ehe beitragen“..(S. 161).
Diskussion
Wie das zuletzt hier angeführte Zitat vielleicht illustriert, beschleicht den Leser bei der Lektüre diese Buches immer wieder einmal der Gedanke, dass dort etwas als wissenschaftliche Erkenntnis vorgetragen wird, was im Grunde „common sense“ ist. Dabei kann ja gar kein Zweifel an der Bedeutsamkeit des Themas bestehen. Seit Spinoza in seiner Ethik die Religionsgemeinschaften seiner Zeit mit der Erkenntnis schockierte, das Neid nicht Sünde, sondern naturgegebene Emotion sei, seit „Durkheims Beitrag zur Soziologie der Emotionen“ [1]) haben Georg Simmel, Erving Goffman und zahllose andere Geisteswissenschaftler in Philosophie, Psychologie, Literaturgeschichte, Kulturanthropologie und anderen Disziplinen sich zu Liebe, Hass, Angst, Hoffnung und anderen Emotionen grundlegend geäußert.
Kann es sich das Forschungsprojekt ELEFANT (Emotionales Lernen ist fantastisch), von dem in diesem Buch berichtet wird, leisten, diese ganze Wissenschaftstradition zu ignorieren? Kann es sich die zeitgenössische Psychologie leisten, mit hoher Präzision erhobene Daten zu „common sense“ Tatbeständen dadurch wichtiger erscheinen zu lassen, dass sie im Gewand naturwissenschaftlich abgesegneter mathematischer Auswertungsmethoden daherkommen? Ist es vertretbar, dass noch nicht einmal die schon erreichten Erkenntnisse neuerer Emotionsforschung weitergetragen werden? [2]. Und wenn diese hier nicht ganz ohne Polemik angedeuteten Probleme tatsächlich existieren, kann man die Konsequenzen, zu denen sie führen, dann den beiden Verfasserinnen der hier zu rezensierenden Seiten anlasten? Es ist keine Frage, dass man tun könnte. Ob man es auch tun sollte, bleibt ungeklärt.
Fazit
Wie hier oben zu Beginn schon erwähnt wurde, die Verfasserinnen „hoffen,“ dass ihre Ausführungen „Studierende der Psychologie, der Bildungswissenschaften und der Lehramtsstudiengänge sowie Praktiker/innen mit Interesse an Entwicklung, Beratung und Pädagogischer Psychologie informieren können.“ (S. 11) Das können sie ohne jeden Zweifel. Es ist ihr großes Verdienst, einen Literaturbericht vorgelegt zu haben, der sich in seinem Umfang und in seiner Ausführlichkeit kaum übertreffen lässt. Wenn das ihre Absicht war, das ist ihnen gelungen. Wenn allerdings die deutschsprachige Wissenschaftslandschaft nicht in der Lage ist, eine Thematik von solch grundlegender Tragweite interdisziplinär und mit mehr geisteswissenschaftlichem und wissenschaftshistorischem Tiefgang bearbeiten zu lassen als hier geschehen ist, dann bietet dieses Buch vielleicht einen dringend nötigen Anlass, darüber nachzudenken.
[1] Heinz-Günter Vester, Zwischen Sakrileg und Sakralem. Durkheims Beitrag zur Soziologie der Emotionen, S. 1 – 26 in: Soziologie der Gefühle: Zur Rationalität und Emotionalität sozialen Handelns, herausgegeben von R. Schumann und F. Stimmer. München: Sozialforschungsinstitut 1987 – ISBN 3-922503-12-8
[2] Herbert E. Colla Müller, Emotionen und suizidale Handlungen von Jugendlichen, S. 156 – 170 in: Soziologie der Gefühle (Siehe hier Anmerkung 1!).
Rezension von
Prof. Dr. Horst Jürgen Helle
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Soziologie
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