Rainer Balloff, Nikola Koritz: Praxishandbuch für Verfahrensbeistände
Rezensiert von Prof. Dr. Anusheh Rafi, 08.08.2016

Rainer Balloff, Nikola Koritz: Praxishandbuch für Verfahrensbeistände. Rechtliche und psychologische Schwerpunkte für den Anwalt des Kindes. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2016. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. 322 Seiten. ISBN 978-3-17-026923-1. 69,00 EUR.
Autor und Autorin
- Dr. phil. Rainer Balloff ist Diplompsychologe und als Gerichtsgutachter und Geschäftsführer des Instituts „Gericht & Familie Berlin Service GbR“ tätig.
- Dr. jur. Nikola A. Koritz, LL.M. ist Fachanwältin für Familienrecht.
Beide sind in der Ausbildung von Verfahrensbeiständen tätig.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Drittel des Buches werden nach Gliederung der Verfasser die rechtlichen Rahmenbedingungen der Verfahrensbeistandsschaft aufgeführt (ca. 100 Seiten) und im Rest des Buches psychologische Schwerpunkte.
Der rechtliche Abschnitt beginnt mit den formellen Voraussetzungen und ergänzt diese durch eine Darstellung von materiell-rechtlichen Regelungen. Insgesamt werden diese Aspekte in 25 Kapitel gegliedert, in denen alle wesentlichen rechtlichen Fragen für Verfahrensbeistände angesprochen sind:
Nach einer kurzen Einführung in das Recht der Verfahrensbeistandsschaft (Kapitel 1) werden die Voraussetzungen für die Bestellung des Verfahrensbeistandes, die Art und Weise der Bestellung und Auswahl einer geeigneten Person beschrieben (Kapitel 2-6). Kapitel 7-9 skizzieren die Aufgaben des Verfahrensbeistandes (originärer und erweiterter Aufgabenkreis) sowie dessen Rechtsstellung im Verfahren und im Vergleich zu anderen Verfahrensbeteiligten. Über das Akteneinsichtsrecht (Kapitel 10) und die Anhörung des Kindes (Kapitel 16) werden dem Leser Grundlagen darüber vermittelt, wie er an die erforderlichen Informationen kommt, um seinen Bericht abfassen bzw. eine Stellungnahme abgeben zu können (was in Kapitel 11 besprochen wird). Hierbei wird bei der Anhörung des Kindes auch darauf eingegangen, was für Probleme auftreten können.
Knapp werden relevante datenschutzrechtliche Fragen in Kapitel 12 aufgeführt, wobei deutlich wird, dass die bundesrechtlichen und landesrechtlichen Datenschutzregelungen größtenteils nicht auf den Verfahrensbeistand anwendbar sind, sofern er nicht Daten vom Jugendamt erhält und diesbezüglich Sozialgeheimnis nach § 35 SGB I unterfällt. Vergütungs- und Haftungsfragen werden in den folgenden Kapitel beschrieben. Abschließend werden in Kapitel 17-19 noch Verfahrensfragen beantwortet (Entscheidungen nach dem FamFG, Rechtsmittel- und Vollstreckungsverfahren). Bezüglich der Vergütung und der Einlegung einer Beschwerde werden dem Verfahrensbeistand Musterschreiben zur Verfügung gestellt.
Im materiellrechtlichen Teil des ersten Teils des Buches gibt es eine kurze Einführung in das Sorge- und Umgangsrecht (Kapitel 20 und 21), wo auf die nunmehr bestehende Möglichkeit des biologischen Vaters hingewiesen wird, gegen den Willen der Mutter sorgeberechtigt zu werden. Beim Umgangsrecht wird auch auf die Umgangspflegschaft und den begleiteten Umgang eingegangen. Anschließend wird der Begriff der Kindeswohlgefährdung erläutert (Kapitel 22), Besonderheiten einer Verbleibensanordnung und Dauerpflege behandelt und auf zwei besondere Verfahrensarten eingegangen, in denen ein Verfahrensbeistand bestellt werden kann (Unterbringungsverfahren Minderjähriger sowie Verfahren nach dem Haager Kindschaftsübereinkommen zur Regelung von Fällen grenzüberschreitender Kindesentziehung).
Die folgenden 17 Kapitel zu den psychologischen Schwerpunkten sind ausführlicher als die Kapitel im ersten Teil. Teilweise überschneiden sich die Themen, werden inhaltlich aber häufig mit anderen Schwerpunkten behandelt.
Ein Schwerpunkt liegt auf Fragen des Kindeswohls, der Erziehung und des Umgangs. Diese Fragen werden mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung in den Kapiteln zum Kindeswohl und Kindeswillen (Kapitel 1), der Beziehungs- und Bindungstheorie (Kapitel 2), dem Parental Alienation Syndrom (Kapitel 3), dem Wechelmodell (Kapitel 4), der Regelung der elterlichen Sorge und des Umgangs bei Trennung und Scheidung sowie den Auswirkungen der Trennung und Scheidung auf das Kind (Kapitel 5-6) und der Kindeswohlgefährdung (Kapitel 7) erörtert. In den Kapiteln werden die aus dem ersten Teil bekannten rechtlichen Grundlagen teilweise wiederholt und vertieft und grundlegende psychologische Dynamiken beschrieben. Bezüglich der Rolle des Verfahrensbeistands wird die Auffassung vertreten, dieser habe grundsätzlich den Willen des Kindes in das Verfahren einzubringen. Nur wenn der Kindeswille kindeswohlgefährdend sei, dürfe und müsse der Verfahrensbeistand die Diskrepanz zwischen Wille und Wohl benennen. Ferner wird auch in späteren Kapiteln darauf hingewiesen, dass sich der Verfahrensbeistand mit allgemeinen Handlungsempfehlungen zurückhalten sollte, da dies eher die Aufgabe anderer Verfahrensbeteiligter sei.
Es folgen einige Kapitel zu besonderen Situationen, die teilweise schon im rechtlichen Teil angesprochen wurden (z.B. zu Fällen der internationalen Kindesentziehung oder der freiheitsentziehenden Unterbringung), teilweise auch neu aufgeführt sind (z.B. zur Adoption, zur Wegnahme des Kindes aus der Pflegefamilie, zur Kinderdeliquenz). Kapitel 11 enthält Hinweise zu praxisrelevanten Problemen bei der Erziehung (seelische Erkrankung der Eltern, stoffliche Suchterkrankung (insbesondere Alkohol und Medikamente), Misshandlung und Vernachlässigung des Kindes sowie sexueller Kindesmissbrauch). Es wird deutlich gemacht, dass der Verfahrensbeistand in solchen Fällen darauf achten sollte, seine eigenen Kompetenzen nicht zu überschreiten und andere Experten mit einzubeziehen.
Sehr praxisrelevant ist das 15. Kapitel, in dem das methodische Vorgehen des Verfahrensbeistands beschrieben und insbesondere auf die Gesprächsführung mit dem Kind und Interaktionsbeobachtungen eingegangen wird. In dem Kapitel wird auch explizit das Gespräch mit dem Kind in Fällen der Kindesmisshandlung thematisiert.
Die letzten Kapitel befassen sich noch mit dem Aufbau der Stellungnahme sowie den Standards der Bundesarbeitsgemeinschaft Verfahrensbeistandsschaft für Verfahrensbeistände.
Diskussion
Das Praxishandbuch für Verfahrensbeistände ist von wechselhafter Qualität. Zunächst einmal hält es, was es im Titel verspricht: Es ist weitgehend praxisorientiert. Verfahrensbeistände erhalten mit dem Buch einen guten Überblick über die Anforderungen an ihre Tätigkeit und finden zu jedem relevanten Bereich hilfreiche Anmerkungen.
Nicht überzeugend ist die Trennung zwischen einem juristischen und einem psychologischen Teil. Die Tätigkeit des Verfahrensbeistandes erfordert disziplinübergreifende Kompetenzen und die Darstellung juristischer Fragestellung ohne die psychologische Vertiefung zentraler Begriffe (wie Kindeswohl) und Aufgaben des Verfahrensbeistandes lässt die juristischen Ausführungen etwas trocken und oberflächlich bleiben. Ebenso erfordert die Psychologie die Berücksichtigung juristischer Rahmenbedingungen – wie z.B. den Umstand, dass die Rechte des biologischen Vaters gestärkt wurden oder das Kindeswohl nur in begrenztem Rahmen in HKÜ-Verfahren erörtert wird. Glücklicher Weise werden im psychologischen Teil des Buches juristische Aspekte mit berücksichtigt, so dass der disziplinübergreifende Ansatz im Buch enthalten ist. Dadurch entstehen allerdings vermeidbare Wiederholungen. Ferner leidet die Übersichtlichkeit, da zusammengehörige Passagen getrennt im Buch aufgeführt werden.
Der Rechtsteil ist eine überwiegend präzise und thematisch umfassende Darstellung der rechtlichen Themen, die dem Verfahrensbeistand begegnen können. Einige terminologische Ungenauigkeiten sollten in der nächsten Auflage korrigiert werden (der Amtsermittlungsgrundsatz wird mit dem Amtsverfahren verwechselt (S. 56), Suspensiv- und Devolutiveffekt vertauscht (S. 64) und es wird nicht sprachlich zwischen einer Umgangspflegschaft und dem begleiteten Umgang differenziert (S. 87), sind für die praktische Tätigkeit des Verfahrensbeistands jedoch sekundär. Dort, wo aktuelle Entscheidungen referiert werden, gewinnt die rechtliche Darstellung. Ansonsten bleibt sie leider zu abstrakt und gibt in vielen Teilen sehr allgemeine Regelungen und den Gesetzestext wieder. Es wäre wünschenswert, wenn mehr Beispiele und Problempunkte benannt und diskutiert würden. Stattdessen könnten längere Ausführungen zur alten Rechtslage nach dem FGG und der ZPO gestrichen werden, da diese eher von rechtsgeschichtlichem Interesse sind.
Im Gegensatz zum rechtlichen Teil ist der psychologische Teil anschaulicher, da hier häufiger die reine Darstellung durch begründete Meinungen ergänzt wird. Zwar wären auch hier mehr konkrete Beispiele hilfreich (z.B. zur Deutung des Kindeswillens (S. 133 f.)), doch wird an einigen Stellen viel klarer als im Rechtsteil herausgearbeitet, wann rechtliche Rahmenbedingungen die Intuition des Verfahrensbeistandes trügen könnten. Das gilt z.B. für die Bedeutung der Elternrechte bei einem Rückführungsbegehren aus einer Pflegefamilie (S. 192 ff.) und für die HKÜ-Verfahren (insbesondere S. 265).
Während es gut ist, dass die Gesprächsführung mit Kindern thematisiert wird, bleibt die Darstellung zu oberflächlich. Zwar werden einige grundlegende Gesprächstechniken beschrieben, doch fehlt völlig eine entwicklungspsychologische Betrachtung, die erforderlich ist, um die Aussagen der Kinder richtig einordnen zu können, die Dauer der Befragung angemessen zu halten und die Umstände des Gesprächs angemessen zu wählen.
Sehr überzeugend ist die Rollenbeschreibung des Verfahrensbeistandes als jemand, der den Willen des Kindes einzubringen hat, dessen Wohl im Falle einer Kindeswohlgefährdung im Blick behält und sich eher mit Empfehlungen zurückhält. Für angehende Verfahrensbeistände wäre hier noch der Hinweis hilfreich, dass viele Richterinnen und Richter eine Empfehlung erwarten, da sie ihnen die Entscheidung erleichtert.
Es wird m.E. zwar zu recht aber zu einseitig betont, dass dem Kind ein Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht zugebilligt wird, wenn es um die Ausgestaltung eines Wechselmodells geht (S. 153). Es fehlen diesbezüglich Ausführungen dazu, wie das Kind vor Loyalitätskonflikten geschützt werden kann, wenn ihm eine Entscheidungsverantwortung zugebilligt wird. Auch an der Stelle wäre eine Differenzierung nach Alter notwendig sowie ein Hinweis auf die Gefahren von zu viel Entscheidungsverantwortung für das Kind und wie diesen Gefahren begegnet werden kann.
Fazit
Das Buch bietet einen guten Überblick über die Anforderungen an einen Verfahrensbeistand. Auch wenn die Aufteilung in einen rechtlichen und einen psychologischen Abschnitt nicht überzeugt, ermöglicht das detaillierte Inhaltsverzeichnis einen schnellen Überblick. Kleinere Ungenauigkeiten und die fehlende entwicklungspsychologische Perspektive stehen fundierten Ausführungen zu besonderen Aufgaben des Verfahrensbeistands gegenüber. Insofern handelt es sich um ein solides Grundlagenbuch, was nicht uneingeschränkt, aber doch empfohlen werden kann.
Rezension von
Prof. Dr. Anusheh Rafi
Rektor der Evangelischen Hochschule Berlin, 1. Vorsitzender des Bundesverbands Mediation e.V.
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