Mouez Khalfaoui, Matthias Möhring-Hesse (Hrsg.): Eine Arbeitsgesellschaft - auch für Muslime
Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Helmert, 08.12.2015
Mouez Khalfaoui, Matthias Möhring-Hesse (Hrsg.): Eine Arbeitsgesellschaft - auch für Muslime. Interdisziplinäre und interreligiöse Beiträge zur Erwerbsarbeit. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2015. 277 Seiten. ISBN 978-3-8309-3262-8. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.
Thema
Die Bundesrepublik ist eine Arbeitsgesellschaft und damit von der Erwerbsarbeit eingenommen und auf Erwerbsarbeit hin ausgerichtet. Wie alle Bürgerinnen und Bürger werden Glaubende gleich welcher Religion und Konfession den weitreichenden Ansprüchen der Erwerbsarbeit ausgesetzt – und müssen diese mit den ebenso weitreichenden Ansprüchen ihres Glaubens vereinbaren. Für eine Theologie, die sich für den Lebensalltag der Glaubenden interessiert, ist Erwerbsarbeit daher ein Thema – und zwar mit der doppelten Herausforderung, sich theologisch auf Erwerbsarbeit einzulassen und zugleich ihren ausufernden Ansprüchen auf das Leben der Menschen zu widersprechen.
Der Sammelband beschäftigt sich mit der Frage, ob und inwiefern die Religiosität von Erwerbstätigen ihre Erwerbsarbeit prägt, wie und in welchem Ausmaß Religion in die Erwerbsarbeit einfließt und welchen Raum Erwerbsarbeit für Religiosität bestehen lässt. Besonders interessieren dabei Benachteiligungen, die religiösen Menschen aufgrund ihrer besonderen – oder nur zugeschriebenen – Eigenschaften und Merkmale in und über die Erwerbsarbeit erwachsen. Theologisch stellt sich dieses Thema nicht innerhalb der Grenzen von Religionen und Konfessionen. Geht es um Benachteiligungen, gar um Diskriminierungen von religiösen Menschen, dann sind Theologien interkonfessionell.
Herausgeber
Prof. Dr. Mouez Khalfaoui hat seit 2012 einen Lehrstuhl für islamisches Recht an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und Matthias Möhring-Hesse ist seit 2011 Professor für Theologische Ethik/Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.
Entstehungshintergrund
Die Beiträge des Sammelbandes wurden in zwei Workshops in interdisziplinärer Besetzung und interreligiöser Besetzung vorbereitet. Der erste Workshop fand 2013 an der Universität Tübingen, der zweite 2014 in der Katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart statt. Beide wurden vom Graduiertenkolleg Islamische Theologie der Stiftung Mercator gefördert.
Aufbau
- Vorklärungen
- Muslime und ihre Erwerbsarbeit
- Theologische Versuche über Erwerbsarbeit
Im Folgenden werden einige besonders interessante Inhalte exemplarisch vorgestellt.
Zu Kapitel 1
Berthold Vogel entwickelt in seinem Beitrag „Arbeit, Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat“ aus der Industrie- und Arbeitssoziologie heraus ein für das Buch grundlegendes Verständnis von Erwerbsarbeit. Mit dem Begriff Erwerbsarbeit wird ein gesellschaftlich reguliertes Verhältnis bezeichnet, in dessen Rahmen die Mehrheit der in der Bundesrepublik lebenden Erwachsenen arbeitet. Dass Sozialpolitik nicht nur die Folgen von Erwerbsarbeit kompensiert, sondern aktives Moment der gesellschaftlichen Durchsetzung, Verbreitung und Aufrechterhaltung von Erwerbsarbeit ist, war in den Hochzeiten der industrie- und arbeitssoziologischen Forschung zwar gegenwärtig, wurde aber wenig explizit gemacht. Ein entsprechender Blick auf die Erwerbsarbeit ist aber auch für die gegenwärtigen in diesem Brich stattfindenden Veränderungen relevant: Die größere Verwundbarkeit von Beschäftigten, die wachsende Unverbindlichkeit ihrer Beschäftigungsverhältnisse, aber auch die zunehmende soziale und materielle Ungleichheit innerhalb des Erwerbssystems werden maßgeblich von sozialpolitischen und arbeitsrechtlichen Interventionen verursacht. So aber werden die sozialen Verhältnisse in der Arbeitswelt in materieller, aber auch in soziokultureller Hinsicht immer ‚unähnlicher‘. Deshalb wird auch in diesem Band nicht über die ein und gleiche Erwerbsarbeit für alle Erwerbstätigen gesprochen werden können.
Zu Kapitel 2
In diesem Kapitel werden Benachteiligungen von Muslimen bei der Erwerbsarbeit sowie die Wahrnehmung dieser Benachteiligungen im Christentum untersucht. Im ersten Beitrag beschäftigen sich Jana Wetzel und Christine Hunner-Kreisel mit der Lage von muslimischen Jugendlichen vor ihrem Übergang von der Schule zu Ausbildung, Hochschule oder anderweitiger Beschäftigung. Im Rahmen ihres Forschungsprojektes können sie die starke Bedeutung von Erwerbsarbeit für die Lebensentwürfe der von ihnen befragten Jugendlichen nachweisen. Während Jugendliche, die sich mit höheren Bildungsabschlüssen auf ein Zugang zum Studium vorbereiten, stärkere eigene Präferenzen und Fähigkeiten ansprechen und sich ihre eigenen Bildungserfolge selbst zusprechen, bevorzugen Jugendliche mit geringeren Bildungsabschlüssen kollektivistische Zuschreibungen und antizipieren deshalb auch ethnisch begründete Schließungen. Sie messen schulischen Leistungen keinerlei Bedeutung für ihren Übergang in Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt zu. Aber auch di Jugendlichen mit höheren Bildungsabschlüssen sind sich kollektivistischen und eben auch ethnischen Zuschreibungen bewusst.
Seit den Hartz-Reformen setzt der bundesdeutsche Sozialstaat verstärkt eine ‚Arbeitspflicht‘ gegenüber allen Erwerbstätigen durch und „fordert und fördert“ in Erwerbsarbeit hinein.In ihrem Beitrag „Arbeitspflicht für Muslime und Musliminnen im Sozialstaat“ untersucht Judith Dick, ob und inwiefern der deutsche Sozialstaat bei der Durchsetzung dieser ‚Arbeitspflicht‘ den religiösen Pflichten Rechnung trägt, die Muslime für sich in Anspruch nehmen. Sowohl bei den Sozialversicherungen als auch bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende sieht sie rechtliche Möglichkeiten solcher Art sozialstaatlicher Rücksichtnahme. Diese Möglichkeiten ließen sich weiter ausbauen, wenn das deutsche Sozialrecht konzeptionell stärker auf Solidarität und Menschenrechte verpflichtet würde.
In ihrem Beitrag „Arbeiten mit Kopftuch und Gesichtsschleier“ sichtet Kirsten Wiese Gesetzeslage und Rechtssprechung zur Zulässigkeit der religiös bedeutsamen Kopf- und Gesichtsbedeckung in öffentlichen und privaten Arbeitsverhältnissen. Das aus dem Koran herausgelesene Gebot der Kopfbedeckung steht ihr zufolge für eine grundgesetzlich unzulässige Trennung der Geschlechter und für eine ebenso unzulässige Dominanz von Männern über Frauen.
Wie werden die Benachteiligungen und Probleme von Muslimen im Christentum wahrgenommen? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Beitrag von Hansjörg Schmid. Die christlichen Kirchen und Theologien haben in Deutschland den Muslimen gegenüber durchweg eine anwaltschaftliche Rolle eingenommen und ihre Interessen in vielerlei Angelegenheiten vertreten, dabei aber ihre Benachteiligungen in der Erwerbsarbeit zumeist übersehen. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass die Kirchen nicht nur als Beobachter, sondern konkret als Arbeitgeber betroffen sind. Die Anwaltschaftlichkeit wird in den christlichen Kirchen und Theologien allerdings oft bis hin zur Bevormundung von Muslimen betrieben, wobei auch die Abgrenzung als ein gegenläufiges Paradigma hinzutritt. In der Auseinandersetzung mit dem Islam partizipieren die christlichen Kirchen und Theologien an einer verbreiteten Islamkritik und an den Trends der allgemeinen Islamdebatte, statt sich diesen zu verwehren.
Zu Kapitel 3
In diesem Kapitel werden theologische Versuche über Erwerbsarbeit aus der christlichen und der islamischen Theologie vorgestellt. Torsten Meireis verfolgt in seinem Beitrag „Protestantismus und Arbeitsgesellschaft“ die Wechselwirkung zwischen protestantischen Vorstellungen über Arbeit und gesellschaftlichen Sozialbeziehungen und legt dar, dass sich erst in dieser Wechselwirkung die in Deutschland vertraute Arbeitsgesellschaft mit ihrem ‚Arbeitsversprechen‘ im 19. und 20. Jahrhundert ausbilden konnte.
In ihrem Beitrag „Den Himmel auf Erden verwirklichen: Geschichte und Gegenwart der CAJ“ stellt Sarah Prenger die Christliche Arbeiterjugend (CAJ), einen christlichen, an die katholische Kirche gebundenen Jugendverband, und dessen Engagement bezüglich Problemen der Erwerbsarbeit Jugendlicher vor. Weil sie in ihrem Engagement in theologischer Sprache auf Gottes Gerechtigkeit in der Welt verpflichtet sind, beschäftigen sich die Aktivisten des CAJ mit konkreten Problemen der Erwerbsarbeit, mit der Situation von Jugendlichen in der Gastronomie, mit prekärer Arbeit und mit Problemen von Jugendlichen ohne Aufenthaltstitel, und machen ihr entsprechendes Engagement für eine gerechtere Erwerbsarbeit zu einem Moment ihres Glaubens an einen ‚Himmel auf Erden‘.
Abdelaali El-Maghaoui versucht in seinem Beitrag „Das Arbeiten im Bankenwesen aus Sicht muslimischer Gelehrter“ die besondere Form der Arbeit in Banken theologisch zu interpretieren,und zwar angesichts des des religiösen Verbots von Zinsen. Aufbauend auf dem immer wichtiger werdenden Bereich des Islamic banking werden zwei Ansätze zum Arbeiten im Bankwesen dargestellt. Während muslimische Gelehrte aus Saudi-Arabien am klassischen Verbot jeglicher Tätigkeit in diesem Bereich festhalten, versuchen ägyptische Gelehrte dieses Verbot aufzuweichen. Diese unterschiedlichen Positionen lassen sich nach Ansicht des Autors anhand der sozioökonomischen Situation in den beiden Ländern erklären.
Muhamed Haj Salems Beitrag „Kann Glücksspiel ein Beruf sein? Spielverbot in der muslimischen Kultur als Fallbeispiel“ wirft einen Blick auf Arbeit aus einer anthropologischen Perspektive – und setzt dabei beim Glücksspiel an. Während es im gegenwärtigen Erwerbsverständnis als eine Bedrohung und Verschwendung angesehen wird, wohnten dem Glücksspiel in vorislamischer Zeit wichtige religiöse, wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Dimensionen inne. So wurde über das Glücksspiel der Lebensunterhalt von Armen und Benachteiligten gesichert sowie der soziale Ausgleich in einem Stamm und damit auch dessen Zusammenhalt gewährleistet. In religiöser Hinsicht wurde das Glücksspiel ähnlich der Arbeit geschätzt und galt geradezu als Prototyp der theologisch gewollten Kombination aus Arbeit und Freude.
Zielgruppen
Der Sammelband richtet sich an christliche und islamische Theologen, an Repräsentanten der christlichen und muslimischen Religionen und an Akteure, die sich mit der Integration von Muslimen in Deutschland beschäftigen.
Fazit
Das Buch bestätigt, dass islamische und christliche Theologie der modernen Erwerbsarbeit und ihres ganzheitlichen Zugriffs auf Menschen und ihren Beziehungen Grenzen setzen und dem gegenwärtigen Ausgreifen von Erwerbsarbeit widersprechen. Gleichwohl sind auch religiöse Menschen dem Zugriff der Arbeitsgesellschaft ausgeliefert. Daher führen religiöse Pflichten, aber auch über Religion laufende kollektive Zuschreibungen zu Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt sowie in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Dass davon in Deutschland gegenwärtig vor allem Muslime betroffen sind, wird in dem Buch gezeigt.
Rezension von
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe
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Zitiervorschlag
Uwe Helmert. Rezension vom 08.12.2015 zu:
Mouez Khalfaoui, Matthias Möhring-Hesse (Hrsg.): Eine Arbeitsgesellschaft - auch für Muslime. Interdisziplinäre und interreligiöse Beiträge zur Erwerbsarbeit. Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2015.
ISBN 978-3-8309-3262-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19877.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.
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