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Haim Omer: Wachsame Sorge

Rezensiert von Christoph Klein, 18.03.2016

Cover Haim Omer: Wachsame Sorge ISBN 978-3-525-40251-1

Haim Omer: Wachsame Sorge. Wie Eltern ihren Kindern ein guter Anker sind. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2015. 246 Seiten. ISBN 978-3-525-40251-1. D: 24,99 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 33,90 sFr.

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Thema

Sein Buch widmet der israelische Autor Haim Omer Eltern und Therapeuten, die sich für die Aufgabe einer fürsorglichen elterlichen Begleitung interessieren. Thema sind sehr praxisbezogene und auch grundsätzliche gut begründete Überlegungen, wie eine aktive und respektvolle Teilhabe von Eltern am Leben ihrer Kinder insbesondere im Jugendalter gelingt. Damit richtet er sich eigentlich an alle, die sich berufen fühlen, Eltern und Kindern hilfreich zu sein, sei es der Mitarbeiter im Jugendamt, der Klassenlehrer, die Erzieherin oder Sozialarbeiterin in der Kita bzw. in einer Wohngruppe Jugendlicher. Es behandelt Möglichkeiten der Prävention bis hin zur Krisenintervention – immer mit dem Ziel, Eltern zu ermutigen und zu befähigen, ihre elterliche Funktion auszuüben, ohne damit allein sein zu müssen.

Autor und Entstehungshintergrund

Im Laufe der letzten zehn Jahre haben Prof. Haim Omer (Lehrstuhl für klinische Psychologie, Universität Tel Aviv) und sein Team ein auf dem Konzept des gewaltfreien Widerstandes basierendes Modell entwickelt, um Eltern im Umgang mit Kindern zu stärken. Das New Authority Center (NAC) unterstützt Eltern und Schulen, ihre Präsenz und Autorität in der heutigen sich stetig wandelnden Welt zu erhöhen. Ursprünglich in Israel entwickelt, wird dieser Ansatz gegenwärtig in vielen therapeutischen und beratenden Einrichtungen in Deutschland, England, Schweiz und Holland angewandt (www.newauthority.net).

Aufbau und Inhalt

Ausgehend von den in früheren Büchern des Autors veröffentlichten Grundsätzen der Elterlichen Präsenz (Omer, v. Schlippe 2012 u. 2014), dem Modell der Neuen Autorität (Omer, v. Schlippe 2010 u. 2013) und der Ankerfunktion (Omer, Lebowitz 2012), präsentiert Omer in seinem neuen Buch (2015) den Begriff und das Konzept der Wachsamen Sorge. Gemeint ist eine flexible Haltung von Eltern, die auf Bedürfnisse ihrer Kinder Rücksicht nimmt und gleichzeitig stark im Willen ist, gerade in stürmischen Zeiten ihren Kindern ein guter Anker auf festem Grund zu sein, als Leuchtturm dafür zu sorgen, dass niemand verloren geht. Statt der zum Scheitern verurteilten Absicht, Kinder einschüchtern, belehren und kontrollieren zu wollen, zeigt Omer, wie es gelingt, Kindern gerade dann den notwendigen Halt und Orientierung zu geben, wenn sie z.B. mit heftigem Protest, Drohungen der Selbstgefährdung oder auch mit Rückzug reagieren. Statt die Verantwortung als Eltern in solchen Situation aufzugeben, das Kind allein zu lassen bzw. sich in Machtkämpfen zu erschöpfen, geht es ausführlich darum, wie sowohl die auch andere Familienmitglieder, Schule, Freunde und Helfer einbeziehende elterliche Präsenz als auch die Erfahrung von wachsamer Sorge für Kinder der wirksamste Weg hin zu einer sich entwickelnden Selbstachtung und zukünftiger Selbstfürsorge ist.

Zunächst werden drei Grade der elterlichen Fürsorge beschrieben, anhand derer Omer wesentliche Unterschiede in den Eltern-Kind-Interaktionen verdeutlicht.

  1. Den schwächsten Grad kennzeichnet eine offene Aufmerksamkeit, in der vor allem ein offener Dialog für Nähe und das Gefühl einer schützenden und fürsorglichen Begleitung sorgt.
  2. Sobald Anzeichen von Schwierigkeiten z.B. in der Schule oder Zuhause wahrgenommen werden, ermöglicht es der Grad der fokussierten Aufmerksamkeit, durch gezieltes Fragen mitzubekommen, was sich gerade im Leben des Kindes tut oder verändert hat. Das Kind erfährt Interesse und ggf. auch die Beharrlichkeit, mit der seine Eltern Informationen einfordern, um sich ein Bild machen und die Situation einschätzen zu können.
  3. Einseitige (Schutz-)Maßnahmen sind der höchste Grad der wachsamen Sorge. Einseitig heißen sie deshalb, weil sie allein von den Eltern und nicht von der Zustimmung des Kindes abhängen. Eltern legitimieren ihr Handeln damit, dass das genauere Betrachten der Warnzeichen tatsächlich auf negative Entwicklungen bzw. drohende Gefahren hinweisen.

Was im Kleinkindalter meist selbstverständliche Fürsorge ist, soll auch später unter Berücksichtigung des altersangemessenen Autonomiestrebens in Jugendjahren seine Bedeutung nicht ganz verlieren: Eltern üben Achtsamkeit und begleiten das Kind mit einer Distanz, der für sie und das Kind angebracht ist, sind aber im Notfall dazu bereit, eine das Kind betreffende Sachlage aus unmittelbarer Nähe zu betrachten und, wenn es zum Schutz des Kindes nötig ist, einzuschreiten.

In den folgenden Kapiteln über Begleitung und Nähe im Alltag sowie den Umgang mit dem Widerstand des Kindes werden viele Gründe diskutiert, warum Eltern davor zurückschrecken, ihre Kinder zu beaufsichtigen und ggf. auch gegen den Willen des Kindes Maßnahmen zu ergreifen. Anhand von Fallbeispielen geht Omer ausführlich und immer wertschätzend gegenüber der Eltern-Kind-Beziehung ein auf die Themen elterlicher Legitimität und Ängste hinsichtlich ihres Vorgehens, auf die Vertrauensfrage, auf zum Scheitern verurteilte Kontrollbedürfnisse, sowie berechtigten Forderungen Jugendlicher nach Unabhängigkeit und Privatsphäre.

Im Ergebnis wird Eltern Mut gemacht, sich auf ihren eigenen Standpunkt zu konzentrieren, ihrem Kind gegenüber aktiv zu werden und ihre teils lähmende Angst vor negativen Folgen oder auch Scham zu überwinden, indem sie sich an andere Familienangehörige, Freunde, Lehrer und andere Eltern wenden. Auf diese Weise durchbrechen sie ihre Isolation und lernen, sich geduldig und zuversichtlich für ihre wichtige elterliche Funktion im Leben ihres Kindes einzusetzen.

Im letzten Teil des Buches geht es um Probleme und Herausforderungen, mit denen sich Eltern besonders in den Jugendjahren ihrer Kinder konfrontiert sehen. Und wieder werden anhand von Fallbeispielen typische Themen erörtert, darunter Lügen, Geld, Freunde, Internet, Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum sowie Autofahren. Nicht zuletzt stellen Omer und sein Team konkrete Hilfestellungen vor, wie sich Eltern im Sinne der wachsamen Sorge dazu verhalten können.

Diskussion

Haim Omer versteht es auch in diesem Buch, Begriffe, die politisch und pädagogisch historisch missbraucht wurden, nicht aufzugeben, sondern diese gerade wegen ihrer ins Schattenreich verbannten aber weiterhin umhergeisternden Verführungsmacht ans Licht zu holen und neu zu bewerten. Die in seinen Publikationen der letzten Jahre verwendeten Begriffe Neue Autorität, Wachsamkeit, elterliche Präsenz und Aufsicht würdigen immer das gemeinsame und gegenseitige Band zwischen Kindern, Eltern und ihrer Lebenswelt und beleben es mit konstruktiver Kraft.

In allen Büchern beschwört Omer eine Bindung, die nicht nur am Anfang des Lebens steht, sondern die auch weiter nicht fehlen darf, um sich als eine aufeinander bezogene und miteinander verbundene Familie bzw. Gemeinschaft erleben zu können. Die zentrale Beziehungsbotschaft im Sinne Omers, die sich durch die elterliche Präsenz im Leben des Kindes vermitteln soll, nennt Arist von Schlippe in seinem Vorwort: Ich bin da!

In dem nun vorgelegten Buch zur wachsamen Sorge will Omer mehr als das. Im Unterschied zu dem unerfüllt gebliebenen Sehnsuchtstraum, dass sich Kinder in einem Umfeld voller Freiraum ohne Forderungen und Grenzsetzungen zu liebenden und kreativen Menschen entwickeln, nimmt Omer die Eltern in die Pflicht. Die Ausübung der wachsamen Sorge versteht er als eine Ausweitung und Vertiefung seiner Prinzipien einer positiven und konstruktiven Autorität und Präsenz im Leben des Kindes ohne Machtorientierung, ohne das traditionelle Gebot des Gehorsams und ohne Gewalt.

Omer lädt ein, ermutigt, inspiriert. Er begründet seine Haltung, veranschaulicht sie beispielhaft und widmet sich Vorbehalten und Einwänden. Er sucht den Dialog statt Recht haben zu wollen. In diesem Sinne ist diesem Buch viel Erfolg zu wünschen.

Fazit

Es gilt als erwiesen, dass elterliche Präsenz im Leben des Kindes nicht nur wirksam gegen die Gefahren des Abenteuers der Adoleszenz ist, sondern den Kindern selbst Stärke verleiht, den überall lauernden Verlockungen zu widerstehen und sich nicht in Schwierigkeiten verwickeln zu lassen. Der hier präsentierte Begriff und das Konzept der wachsamen Sorge beschreibt eine elterliche Haltung, die sensibel für die Bedürfnisse von Kindern ist, und dennoch keine Auseinandersetzung und Begleitung scheut, wenn das Verhalten der Kinder die Befindlichkeiten innerhalb der Familie missachtet oder eine gesunde Entwicklung gefährden. Gemeint sind Eltern, die es verstehen, sich selbst, ihre Wertevorstellung und ihre Funktion im Leben der Kinder ernst zu nehmen, ohne diese deshalb zu entmündigen, ihre Eigenständigkeit und ihr Streben nach Unabhängigkeit zu bekämpfen und auch ohne ihnen das Gefühl zu vermitteln, nicht auch anders denken und fühlen zu dürfen.

Es ist ein ermutigendes, Buch, eines, in dem wir uns alle wiederfinden und dass uns auffordert, Kinder sich nicht selbst zu überlassen, deren Welt ins Wanken gerät, sondern hinzuschauen und aktiv zu werden. Nein, es ist kein Rezeptbuch, wie Kinder erzogen werden müssen! Durch und durch würdigt dieses Buch die Bedeutung des Dialogs und wertschätzender Eltern-Kind-Interaktionen. Es zeigt uns, woran wir ihre Qualität erkennen können und macht Eltern Vorschläge, wie sie Helfer aktivieren und sich (wieder) stark fühlen können. Beziehung kann nur dort gelingen, wo Menschen es sich Wert sind, sich zu zeigen, und gerade in Krisen füreinander da sind. Diese vor allem auch dann auch in Zukunft haltversprechende Bindung darf nicht wegen fehlender Zustimmung, dem Rückzug oder dem Widerstand des heranwachsenden Kindes geopfert werden.

Weiterführende Literatur

  • Omer, H., von Schlippe, A. (2010): Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 360 Seiten ISBN 978-3-525-40203-0
  • Omer, H., Lebowitz, E. (2012): Ängstliche Kinder unterstützen. Die elterliche Ankerfunktion. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 207 Seiten ISBN 978-3-525-40218-4, vgl. die Rezension.
  • Omer, H., von Schlippe, A. (2013): Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstandes in der Erziehung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 7. Auflage, 262 Seiten ISBN 978-3-525-49077-8, vgl. die Rezension.
  • Omer, H., von Schlippe, A. (2014): Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. Elterliche Präsenz als systemisches Konzept. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 9. Auflage, 214 Seiten ISBN 978-3-525-01470-7, vgl. die Rezension.

Rezension von
Christoph Klein
Dipl- Pädagoge, Familientherapeut, systemischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Supervisor und Lehrender für systemische Therapie an der GST Berlin; Mitbegründer des PUK Berlin und Trainer für das Mehrfamilienprogramm Kinder aus der Klemme für Familien in Trennungskonflikten.
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Es gibt 7 Rezensionen von Christoph Klein.

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ISSN 2190-9245