Hans-Jürgen Balz, Peter Plöger: Systemisches Karrierecoaching
Rezensiert von Dipl.-Psych. Corinna Honsu, 30.03.2016

Hans-Jürgen Balz, Peter Plöger: Systemisches Karrierecoaching. Berufsbiografien neu gedacht. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2015. 292 Seiten. ISBN 978-3-525-40372-3. D: 24,99 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 33,90 sFr.
Thema
Das Buch „Systemische Karriereberatung“ beleuchtet das Themenfeld aus vielerlei Richtungen: es beschäftigt sich mit den Veränderungen der aktuellen Arbeitswelt und ihren Konsequenzen für die Arbeit im Karrierecoaching, es reflektiert die grundlegende systemische Haltung und gibt einen breiten Überblick über systemische Methoden und ihren Einsatz im genannten Themenfeld. Es schließen mehrere Kapitel zu konkreten Praxisfeldern (Karriereberatung für Führungskräfte) und häufigen Praxisfragen an.
Die Autoren benennen als Ziel des Buches eine Integration von Theorie und Praxis im genannten Themenfeld.
Autoren
Dr. Hans-Jürgen Balz ist Professor für Psychologie an der Evangelischen Fachhochschule Bochum und war langjährig im Psychologischen Dienst der Arbeitsagentur sowie als Coach und Karriereberater tätig. Er arbeitet als systemischer Supervisor und Trainer und ist Gesellschafter des Instituts für Lösungsfokussierte Kommunikation in Bielefeld.
Dr. Peter Plöger ist freier Autor, Coach und Trainer. Schwerpunkt seiner Beratungstätigkeit ist das berufliche Orientierungscoaching.
Das Kapitel „Führungskräftecoaching“ ist ein Gastbeitrag von Kirsten Dierolf.
Aufbau
Das Buch beinhaltet einen Grundlagen- sowie einen methodenorientierten Teil.
In den beiden Kapiteln „Die W-Fragen des Karrierecoachings“ und „Gesellschaftliche und individuelle Antworten auf berufswahl- und Karrierefragen“ werden Begriffe der Formate geklärt, die Zielsetzung systemischen Karrierecoachings umrissen, und es wird auf veränderte Formen von beruflich-biographischen Übergangsprozessen fokussiert, einschließlich ihrer Auswirkungen auf heutige Karriereverläufe.
Das Kapitel „Menschenbild und Haltung im systemischen Karrierecoaching“ bietet die Grundlagen systemischen Denkens (Konstruktivismus/ systemtheoretische Grundannahmen) und ihre Implikationen für eine systemische Haltung im Karrierecoaching. Das Kapitel „Systemische Methoden im Karrierecoaching“ führt komprimiert in systemische Methoden und deren Anwendung im Coachingkontext ein.
Die beiden Kapitel „Führungskräftecoaching“ und „Anwendungsfragen im Karrierecoaching“ bieten zum einen den Einblick in Praxisbeispiele und reflektieren dann spezifische Fragestellungen im Karrierecoaching.
Das Buch endet mit einem Resumee sowie Arbeitsmaterialien, die auch als kostenloses Download zur Verfügung stehen.
Die W-Fragen des Karrierecoachings
Wenn man Karrierecoaches als Personen betrachtet, die helfen wollen, Orientierung zur Verfügung zu stellen, dann müssen sich diese Berater selber mit 4 zentralen Fragen auseinandersetzen:
1. Worin bestehen die neuen Herausforderungen in der aktuellen Arbeitswelt und damit an das Karrierecoaching?
-mehr Eigenverantwortung, Selbstgestaltung der beruflichen Biographie, keine feste Bindung mehr an einen Arbeitgeber = Leitbild des Selbstunternehmers. Chance für den Einen, Belastung für den Anderen. Es entstehen komplett neue Berufslaufbahnen. Der Karrierecoach kann bei dieser Diversität nicht mehr direktiv beraten. Es gibt eine neue Tendenz die gesellschaftlichen als auch marktwirtschaftlichen Bedarfe mit individuellen Neigungen zusammen zu führen.
-ursprüngliche Laufbahnmodelle und Kriterien erstrebenswerter Arbeit (Arbeitskraft gegen Geld) lösen sich auf; jeder muss seine Beurteilungskriterien selber finden (Geld, Selbstverwirklichung, Beitrag zur Gesellschaft,.?) und sich die Frage beantworten, ob die Arbeit zu ihm/ ihr paßt. Grundsätzlich ist eine Verschiebung/ ein Wertewandel von Arbeit als „Pflicht und Broterwerb“ hin zu Arbeit als „Selbstverwirklichung in einer interessanten Tätigkeit“ hin zu beobachten. Coaching unterstützt dann bei der Entwicklung von klientenindividuellen Passungskriterien. Zudem geschieht diese Positionsbestimmung nicht mehr einmalig, sondern verändert sich hin zur lebenslangen Daueraufgabe. Damit wird auch das grundsätzliche Gestalten von Veränderungen/ Übergängen/ Krisen als Kernthema von Karriereberatung sichtbar, damit diese Übergänge als erfolgreich in die eigene Berufsbiografie integriert werden können. Bei diesen immer individuelleren Arbeitsmodellen bekommt auch das Thema lebenslanges Lernen sowie die selbstgesetzten Arbeitsstrukturen/ Work-Life-Balance eine neue Bedeutung.
Karrierecoach als „Übergangshelfer, Krisenbegleiter, Orientierungsberater und Skill-Trainer“. Statt eines Fahrplans müssen sich Coach und Klient gemeinsam auf die Suche nach Orientierungspunkten machen. Beide wissen in der Regel gleich wenig über das Terrain, das sie gemeinsam betreten.
2. Was ist mit „Karriere“ und „Coaching“ eigentlich gemeint?
Es wird ein Versuch der Begriffsklärung (Coaching, Beratung, Mentoring, Supervision, Psychotherapie) unternommen bzw. es werden hilfreiche Hypothesen darüber gebildet, warum es offensichtlich bisher nicht gelingt sinnvolle Abgrenzungen zu bilden, und warum diese vermutlich auch in näherer Zukunft nicht gelingen wird. Als hilfreiche Orientierungskriterien bieten sich grundsätzlich der Adressatenkreis, die genutzte Methodik sowie das Thema/ der Inhalt des Coachings an.
Die Autoren schlagen eine präzisierte, vorläufige Arbeitsdefinition von Coaching vor und grenzen diese von anderen Formaten ab. Dazu bieten sie einen hilfreichen tabellarischen Vergleich der Formate in Bezug auf die Kriterien des Adressaten, der Methode, des Gegenstands, des Settings und der Qualifikation. Weiter wird auch der Begriff der Karriere (Fokus auf Realisierung von individuellen Werten, Interessen, Kompetenzen) abgegrenzt von dem der Laufbahn (gebunden an betriebliche Hierarchie, Einkommensniveau, sozialer Status). Man schließt sich der Begriffsbildung von Prof. Rappe-Giesecke an: Karriere als emergentes Produkt von fachlicher Profession, organisationaler Funktion und Person (psychische Struktur, biografische Prägung).
Zwei Aspekte von Karrierecoaching werden ergo in den Mittelpunkt gestellt: Sorgfalt in Bezug auf Übergänge, Brüche und Wechsel in der Berufskarriere als auch der weite Blick auf die Gesamtheit der Person bei der Betrachtung beruflicher Fragestellungen.
3. Systemisches Karrierecoaching in Abgrenzung zu anderen Formen beruflicher Beratung?
Als Anlässe von Karrierecoaching lassen sich die Schwerpunkte „lebensbiografische Übergänge/ normative Übergänge“, „berufliche Krisen“ und „nichtnormative Übergänge“ (z.B. Outsourcing) unterscheiden. Das tatsächliche Angebot eines Karrierecoaches hängt in der Regel von seinem institutionellen Kontext ab (Berufsberater in Schulen, Absolventenberatung, Weiterbildungsberatung etc.). Die Autoren konzentrieren sich dann auf die externe Orientierungsberatung durch freie Berater. Hier wird die Prozessbegleitung (Schein) als zunehmend hilfreicher beurteilt als die Expertenberatung.
Gesellschaftliche und individuelle Antworten auf Berufswahl- und Karrierefragen
Das Kapitel beschäftigt sich mit den Einflussbedingungen, die berufliche Übergänge begünstigen. Exemplarisch werden zwei Übergänge -im Jugend (Schule-Beruf) und im Erwachsenenalter (Outplacement)- vertieft betrachtet. Modelle zur Beschreibung von Übergängen werden vorgestellt -welche Phasen durchläuft der Klient- und es wird auf die Anforderungen im Selbstmanagement des Klienten eingegangen.
Sowohl für den Übergang Schule-Beruf als auch für das Feld des Outplacements werden ausführliche Situationsbeschreibungen geliefert, am Beispiel erläutert und die wesentlichen Ansprüche an die jeweilige Beratungssituation herausgearbeitet. Dabei wird ein Fokus auf die Selbstmanagementanforderungen der Klienten gelegt.
Zusätzlich werden wissenschaftliche Ansätze zu Laufbahnfragen vorgestellt, so die die Kongruenztheorie von Holland, der entwicklungstheoretische Ansatz von Super, ein Überblick zu sozial-kognitiven Ansätzen.
Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass herkömmliche Betrachtungen Karriereberatung zu sehr auf die Passung von definierten „Berufen“ zur Situation auf dem Arbeitsmarkt fokussieren. Damit werden sie der aktuellen Flexibilität, Vielgestaltigkeit und hohen Individualisierung heutiger Arbeitsformen nicht mehr gerecht.
Menschenbild und Haltung im systemischen Karrierecoaching
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Grundhaltung des systemischen Coaches. Was möchte ein systemischer Coach in seiner Beratung erreichen und auf Grundlage welchen Menschenbildes tut er dies?
Als Grundlage werden die Annahmen des Konstruktivismus dargestellt; das Thema „Wirklichkeitskonstruktion“ und seien Konsequenzen für die Arbeit im Beratungssetting wird anschaulich und übersichtlich dargelegt. Auch die Rolle der Kultur und der Sprache wird im Hinblick auf ihren Einfluss bei der Konstruktion von „Realität“ thematisiert. Aufgabe des Coaches im Beratungsprozess ist es, die -oft nicht hilfreiche- Wirklichkeitskonstruktion des Klienten angemessen zu irritieren und damit zu einer neuen, hilfreicheren Konstruktion anzuregen, die Lösungen und Ressourcen zugänglich macht.
An die Grundlagen des Konstruktivismus schließt die Beschreibung systemischen Denkens an. Eine Beschreibung des Systembegriffs und seiner Charakteristika (Selbststabilisierung und ihre Herausforderungen). Als besonderer Herausforderung an den Berater wird die Wichtigkeit der Systemveränderung im Beratungsprozess hervorgehoben. Wenn der Klient Veränderungen in seiner Wirklichkeitskonstruktion vornimmt, muss der Coach dies erkennen und „mitgehen“. Feste Zuschreibungen im Sinne von „Eigenschaften“ einzelner System-Bestandteile sind somit nicht folgerichtig und auf jeden Fall nicht hilfreich. Beziehungsmerkmale zwischen Systembestandteilen rücken in den Vordergrund.
Aus den Beschriebenen Grundlagen leiten die Autoren Merkmale des Menschenbilds im systemischen Coaching ab. Im Zentrum stehen die Begriffe „Persönliche Verantwortung“ (Erkennen meiner subjektiven Wirklichkeitskonstruktion), Betrachten der sozialen Kontexte, Eigendynamik, Lösungspotenziale erkennen und die Selbstexpertise des Klienten.
Daraus ergibt sich die Praxis der systemischen Haltung: die hilfreiche Einführung der Außenperspektive, die Achtung und Wertschätzung des Klienten, die gleichwertige Behandlung aller Weltdeutungen, Klienten nicht zu „diagnostizieren“, Lösungen in den Fokus zu stellen und grundsätzlich die Sicht des Klienten als vorrangig zu behandeln. („Was der Klient sagt, führt durch den Prozess“)
Die Aspekte der systemischen Weltsicht werden von den Autoren mit „Mini“-Übungen angereichert, die kleine Selbsterfahrungsmöglichkeiten anbieten.
Systemische Methoden im Karrierecoaching
Das Kapitel beschäftigt sich mit einer Vorstellung der Kriterien zur Auswahl einer Methode (zu welchen Anlässen mach sie Sinn?), beschreibt dann die Struktur der Methode, den Ablauf und detailliert die Anleitung der einzelnen Übung. Zuvor werden die Unterschiede von Expertenberatung und systemischer Beratung sowie von einer „objektivierenden Sicht“ (Diagnosen) vs einer „systemischen Sicht“ herausgearbeitet.
Systemische Frageformen, unterschiedlichste Methoden in der Ressourcenarbeit, Arbeiten mit Wertschätzung, Komplimenten und Reframing, biographisches Arbeiten werden detailliert vorgestellt.
Führungskräftecoaching
In Kapitel Führungskräftecoaching von Kirsten Dierolf werden sehr anschaulich drei klassische Coachingsituationen mit Führungskräften geschildert. Zum einen eine Bewerbung auf eine neue Stelle intern (Aufstieg); eine interne Suche nach einer neuen Position, die noch nicht definiert ist und ein Führungscoaching nach einer Umstrukturierung und daraus folgenden Irritationen auf Seiten der Führungskraft und des neuen Vorgesetzten.
Allen Coachingsituationen gemeinsam ist die Fokussierung auf Ressourcen und kooperativen Lösungen. Hervorgehoben wird die höhere Komplexität der Situation und die Tatsache, dass das Unternehmen des Klienten in der Regel in den Prozess mit eingebunden ist.
Anwendungsfragen im Karrierecoaching
In diesem Kapitel werden häufige Praxisfragen behandelt. Dabei werden der Umgang mit Entscheidungen/ Entscheidungssituationen sowie der Umgang mit Begrenzungen als häufiges Thema im Karrierecoaching thematisiert. Daran schließt ein kurzer Exkurs zum Einsatz diagnostischer Methoden an, wobei für das Karrierecoaching vor allem Methoden der Erfassung berufsbezogener Kompetenzen im Vordergrund stehen. Die in der Regel normorientierten Leistungsmessungsverfahren (also Verfahren, die unabhängig von der konkreten Situation versuchen kognitive Leistung zu erfassen), bieten sich für das systemische Coaching wenig an, da sie kaum situativ handlungsleitende Informationen bieten. Systemische Diagnostik betont dagegen die Vorläufigkeit und Situationsabhängigkeit der gewonnenen Information. Im Vordergrund steht die Selbstbeschreibung des Klienten und der Ressourcen, die er selber wahrnimmt. Dazu werden Fremdbewertungen des Umfeldes mit einbezogen. Der Nutzen normorientierter Verfahren im Coaching sollte weiter diskutiert, zumindest erstmal nicht ausgeschlossen werden.
Als weiteres, häufiges Themenfeld, wird die individuelle Sinnkonstruktion im Arbeitskontext beleuchtet, sowie die Begleitung von Realisierungsschritten und Übergängen. Das Kapitel schließt mit einigen Interviews, in denen Praktiker Fragen beantworten wie „Wo setzen Sie systemische Methoden ein? Was schätzen Ihre Klienten besonders an ihnen? Wo sind die Grenzen der systemischen Methoden?“.
Diskussion und Fazit
Zwei Autoren mit sehr unterschiedlichem beruflichen Background haben sich hier in Personalunion einem sehr facettenreichen Thema angenommen. Das Ziel, eine Integration von Theorie und Praxis zu erarbeiten, ist aus meiner Sicht inhaltlich vortrefflich gelungen. – und regt auch zu weiterem Diskurs an!
Mit ihrer Beschreibung einer sich extrem verändernden Arbeitswelt und ihre Konsequenzen für ein hilfreiches Handeln im Karrierecaoching ist Ihnen eine hochdifferenzierte Darstellung gelungen – die Veränderungen und Herausforderungen sind plastisch herausgearbeitet. Begrifflichkeiten werden an vielen Stellen sehr detailliert geklärt und ggf. neu formuliert, was sowohl für Anfänger im Bereich der Karriereberatung als auch für Erfahrenen eine schöne Möglichkeit der vertieften Reflexion bietet. Diese sehr gelungene Durchdringung der wahrgenommen Veränderungen der Arbeitswelt ist aus meiner Sicht ein Highlight der Buches.
Die Kapitel über systemische Grundhaltung und Methoden bieten eine detaillierte Aufarbeitung und Beschreibung der Grundlagen. Diese kann als Nachschlagewerk genauso dienen, wie der Methodenteil auch als Anregung für neue Ideen.
Die Praxis des Führungskräftecoachings bietet einen lebendigen Einblick in dieses Feld und seine zum Teil besonderen Kontextbedingungen. Auch bei der Betrachtung der häufigen Praxisfragen („Werkstatt“) entstehen lebendige Bilder.
Die sehr detaillierten und tiefgründigen Betrachtungen der Herausforderungen in diesem komplexen und dynamischen Arbeitsfeld werden durch einen Wechsel von teilweise eher essayistischen Beiträgen, dann wieder sehr wissenschaftlichen Betrachtungen angeboten. Das ist für die jeweiligen Inhalte sehr stimmig, macht allerdings den Lesefluss des Gesamtwerkes stilistisch etwas mühsam. Stellenweise hätte ich mir eine klarere Strukturierung der Kapitel und einen deutlicheren roten Faden gewünscht. Hervorragende inhaltliche Beiträge scheinen unterschiedlichen Entstehungshintergründen zu entspringen, die dann die Anschlussfähigkeit untereinander etwas holprig macht.
Empfehlenswert erscheint mir daher eher das gezielte Nutzen von Einzelbeiträgen des Buches, als eine Gesamtlektüre.
Rezension von
Dipl.-Psych. Corinna Honsu
Wirtschaftspsychologin / systemische Beraterin, Geschäftsführerin Honsu, Vellguth, Weidling GbR
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