Ulrike May: Freud bei der Arbeit
Rezensiert von Mag.a Barbara Neudecker, 15.02.2016
Ulrike May: Freud bei der Arbeit. Zur Entstehungsgeschichte der psychoanalytischen Theorie und Praxis, mit einer Auswertung von Freuds Patientenkalender. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2015. 350 Seiten. ISBN 978-3-8379-2445-9. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 53,90 sFr.
Thema
In mehreren Beiträgen behandelt das Buch Aspekte der Frühgeschichte der Psychoanalyse. Zum einen wird gezeigt, in welcher Weise Sigmund Freud bei der Theoriebildung durch die Auseinandersetzung mit Ansätzen seiner Schüler beeinflusst wurde, zum anderen gibt die Auswertung von Freuds Patientenkalender aus den Jahren 1910 – 1920 einen Einblick in seine Arbeit mit Patienten.
Autorin
Ulrike May ist Psychoanalytikerin in Berlin und forscht und publiziert seit vielen Jahren zur Frühgeschichte der Psychoanalyse.
Entstehungshintergrund
Der Band versammelt neun Studien zur Frühgeschichte der Psychoanalyse, die in den letzten 25 Jahren als Einzelarbeiten in Zeitschriften wie „Psyche“ oder „Luzifer-Amor“ oder in verschiedenen Sammelwerken erschienen waren.
Aufbau
Das Buch umfasst zwei Teile.
- Der erste Teil des Buchs umfasst Beiträge zur frühen Theoriegeschichte der Psychoanalyse. Sie beziehen sich auf die Entwicklung psychoanalytischer Theorien in den Arbeiten von Sigmund Freud und frühen Schülern Freuds wie Isidor Sadger oder Karl Abraham.
- Der zweite Teil des Bandes wendet sich Freuds Patienten zu und versammelt mehrere Arbeiten, die aus dem Studium und der Auswertung von Freuds Patientenkalender von 1910 bis 1920 entstanden.
Zu Teil 1
Im ersten Beitrag zeichnet die Autorin nach, auf welche Weise Freud dazu kam, eine narzisstische Stufe in der psychosexuellen Entwicklung einzuführen und auf welche Weise Beobachtungen und Überlegungen seines Anhängers Isidor Sadger in Freuds Vorstellungen über den Narzissmus einflossen.
Die nächsten Beiträge befassen sich damit, wie sich Arbeiten von Karl Abraham auf Freuds Theoriebildung auswirkten. Dabei folgt die Autorin dem Gedanken, dass aktuelle klinische und theoretische Vorstellungen in der Psychoanalyse stärker von Abraham geprägt sind als uns bewusst ist. Zunächst geht es um die Ätiologie der Depression. Anders als Freud, der die Rolle des Vaters für die kindliche Entwicklung betonte, rückten in Abrahams Verständnis der Depression aggressive Komponenten in der frühen Beziehung zur Mutter in den Vordergrund. May zeichnet nach, wie Freud und Abraham mit diesen differierenden Ansichten umgingen. Ebenso wird darauf aufmerksam gemacht, dass Abraham als erster das Bild der präödipalen „bösen Mutter“ in die Psychoanalyse einführte. Im nächsten Beitrag wird anhand von Abrahams erster psychoanalytischer Publikation aus dem Jahr 1907 aufgezeigt, wie schwierig es für Freuds Anhänger war, seine Theorien in all ihrer Komplexität nachzuvollziehen. In seinem Aufsatz entwickelte Abraham den Gedanken der „Traumatophilie“, also der Annahme, dass Kinder mit abnormer Konstitution – die später zur Entstehung von Neurosen oder Psychosen führt – sexuelle Traumen unbewusst wollen und provozieren. Freuds Kommentar zu dieser Arbeit veranschaulicht, wie der Begründer der Psychoanalyse mit abweichenden Ansichten besonders geschätzter Schüler umging. Auch in der folgenden Studie wird der Grundannahme nachgegangen, dass Abrahams „Grundvorstellungen vom Psychischen anders beschaffen waren“ (May 2015, 154) als jene Freuds, und zwar am Beispiel der Entwicklung des Konzepts des oralen Sadismus durch Abraham. Die Autorin zeigt auf, dass beide ein unterschiedliches Verständnis in Bezug auf objektfeindliche Regungen in der oralen Phase hatten und dass Freud Abrahams Konzeptionen der frühen Objektbezogenheit des Säuglings und der frühen sadistischen Aggression nicht teilen konnte.
Auch im nächsten Kapitel wird die These, dass die heute gängige psychoanalytische Vorstellung gegen das Objekt gerichteter sadistischer Impulse des Säuglings auf Abraham zurückgeht, weiter entfaltet. Neben einem Abriss der Bedeutung von Oralität in der frühen Psychoanalyse bis in die 1920er Jahre wird auf den holländischen Psychoanalytiker August Stärcke näher eingegangen, der den Säugling mit einem „Raubtier“ an der Mutterbrust vergleicht. Das folgende Kapitel beschreibt die historische Entwicklung der Analerotik in den Anfängen der Psychoanalyse und arbeitet dabei Unterschiede zwischen Freud und einigen seiner Schüler wie Abraham, Stärcke, Ernest Jones oder Jan van Ophuijsen heraus.
Der letzte Beitrag des theoriegeschichtlichen ersten Teils des Bandes stellt eine Annäherung an das Konzept des Todestriebs dar, den Freud 1920 in „Jenseits des Lustprinzips“ eingeführt hatte.
Zu Teil 2
Zunächst wird die Analyse des ungarischen Barons Viktor von Dirsztay dargestellt, dessen Behandlung mit insgesamt rund 1400 Stunden zu den längsten Analysen Freuds zählt. May untersucht nicht nur die äußeren Daten dieser psychoanalytischen Behandlung, sondern führt einen Roman von Dirsztays, in dem ein Doppelgänger eine zentrale Rolle spielt, mit einer Veröffentlichung Freuds zusammen, in der ebenfalls dieses Motiv behandelt wird und in der die Autorin Aspekte der Behandlung des Patienten wiederfindet.
Der umfangreichste Beitrag des Buches ist die systematische Darstellung von 36 Analysen Sigmund Freuds über einen Zeitraum von zehn Jahren, basierend auf der Auswertung seines Patientenkalenders. Die Analysen von 17 Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern, die sich zu Ausbildungszwecken oder aufgrund von Leidenszuständen bei Freud in Behandlung begaben und von 19 Patientinnen und Patienten, die nicht der psychoanalytischen „Community“ angehörten, werden getrennt ausgewertet. Es wird deutlich, dass sowohl die Dauer als auch die Frequenz der Behandlungen bei Freud stark variierten. Dauerten manche Analysen nur wenige Monate, so gab es auch wenige Fälle, die über einen Zeitraum von zwei Jahren und länger behandelt wurden. Oft kamen Analysandinnen und Analysanden in mehreren Tranchen mit längeren Unterbrechungen dazwischen zur Behandlung. Auch in der Frequenz der Behandlungen gab es Unterschiede: Am häufigsten lassen sich sechsstündige Kuren mit je einer Sitzung von Montag bis Samstag finden, Freud arbeitete aber auch niederfrequenter mit drei bis fünf Stunden pro Woche, so wie sich auch Fälle mit mehr als sechs Wochenstunden finden lassen. Zudem lässt sich in vielen Fällen nachweisen, dass Freud die Frequenz während der Behandlung änderte.
Zusammenfassend kommt May zu dem Schluss, dass Freud sich „in Bezug auf die Dauer und die Frequenz von Analysen undogmatisch und liberal“ (May 2015, 341) verhielt.
Diskussion
„Freud bei der Arbeit“ zu erleben, verspricht uns der Titel des Buches – und tatsächlich wird diese Ankündigung mehrfach eingelöst. Es liegt auf der Hand, dass wir im zweiten, praxisnahen Teil des Buches einen sehr konkreten Einblick in die Arbeitsweise des Begründers der Psychoanalyse erhalten, symbolisiert durch die handschriftlichen Aufzeichnungen im Patientenkalender. Wie intim dieser Einblick ist, wird von Ulrike May dadurch betont, dass sie sich zu Beginn kritisch mit der Legitimation der Veröffentlichung von Patientendaten Freuds auseinandersetzt. Doch auch der erste, theoriegeschichtliche Teil des Buches zeigt uns „Freud bei der Arbeit“, indem er Freuds Denken, aber auch den fachlichen Diskurs mit seinen Kollegen bei der Entwicklung seiner Theorien nachzeichnet. Damit bezeichnet der Titel des Buchs den roten Faden, der die einzelnen Beiträge miteinander verbindet.
Ulrike May bearbeitet die Themen der einzelnen Beiträge sorgfältig und ausführlich und schafft es, auch komplexe Themen so zu vermitteln, dass der Überblick nicht verloren geht. Das ganze Buch hindurch wird das Bemühen der Autorin spürbar, eine Systematik in Freuds Gedankengängen zu einzelnen Theoriebereichen, aber auch in Bezug auf die psychoanalytische Theoriebildung im allgemeinen nachzuzeichnen. May gibt eine Übersicht der „Fakten“, zeichnet Prozesse fast akribisch nach und macht die theoriegeschichtliche Darstellung für den Leser damit gut nachvollziehbar. Gleichzeitig wird immer deutlich gemacht, wo die Darstellung persönlich wird: „Es handelt sich dabei freilich um Ergebnisse meiner Betrachtung, die cum grano salis zu nehmen sind.“ (May 2015, 154) Dieser persönliche Ton macht die Lektüre noch leichter „verdaulich“.
Deutlich wird auch der Versuch, durch die Beschäftigung mit der Frühgeschichte der Psychoanalyse Brücken zur Gegenwart zu schlagen und an aktuelle Tendenzen in der Psychoanalyse anzuknüpfen. Bei der Fülle der behandelten Themen schadet es auch nicht, dass es in den einzelnen Beiträgen mitunter zu kleinen Redundanzen kommt – sie helfen in der oft sehr komplexen Darstellung, zentrale Aussagen besser zu erfassen.
Fazit
Wer mit der psychoanalytischen Theorie vertraut ist und sich für die Frühgeschichte der Psychoanalyse interessiert, dem bietet dieses Buch einen umfassenden Ein- und Überblick. Besonders für Ausbildungskandidatinnen und -kandidaten, die vor der Herausforderung stehen, sich im schier unüberschaubaren Gebiet der psychoanalytischen Theoriebildung zu orientieren, wird dieses Buch sehr lehr- und hilfreich sein. Wer sich ohne psychoanalytische Vorkenntnisse dafür interessiert, wie Freud theoretisch und praktisch arbeitete, wird hingegen mit anderen, weniger anspruchsvollen Veröffentlichungen besser bedient sein.
Rezension von
Mag.a Barbara Neudecker
MA, Psychotherapeutin (IP) und psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberaterin, Leiterin der Fachstelle für Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche in Wien, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Innsbruck, eigene Praxis
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Es gibt 19 Rezensionen von Barbara Neudecker.
Zitiervorschlag
Barbara Neudecker. Rezension vom 15.02.2016 zu:
Ulrike May: Freud bei der Arbeit. Zur Entstehungsgeschichte der psychoanalytischen Theorie und Praxis, mit einer Auswertung von Freuds Patientenkalender. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2015.
ISBN 978-3-8379-2445-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19889.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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