Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Armin Nassehi, Peter Felixberger (Hrsg.): Protest. Revolte. Kritik. 50 Jahre Kursbuch

Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Helmert, 25.11.2015

Cover Armin Nassehi, Peter Felixberger (Hrsg.): Protest. Revolte. Kritik. 50 Jahre Kursbuch ISBN 978-3-86774-424-9

Armin Nassehi, Peter Felixberger (Hrsg.): Protest. Revolte. Kritik. 50 Jahre Kursbuch. Murmann Verlag (Hamburg) 2015. 220 Seiten. ISBN 978-3-86774-424-9. 15,00 EUR.
Kursbuch 182.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

In diesen 50 Jahren war das „Kursbuch“ stets ein Organ des Protestes, ein Medium der Kritik, bisweilen sogar ein Apologet der Revolte. Doch genauso, wie sich die Welt in den letzten 50 Jahren verändert hat, haben sich auch Kritikformen verändert. War es vor 50 Jahren vielleicht noch relativ klar, von welcher Position Kritik und Protest ausgingen, ist das inzwischen nicht mehr so eindeutig. Auch die Themen haben sich verändert, ähnlich wie die Medien, Technologien und nicht zuletzt die Adressaten der Kritik. Und stets war das „Kursbuch“ ein Ort der kritischen Aneignung dieser Veränderungen. Genau besehen betreibt dieses „Kursbuch“ also nichts anderes als Selbstkritik.

Herausgeber

Dr. Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Peter Felixberger ist Publizist und Politologe und seit 2012 Chefredakteur des neuen „Kursbuch“.

Entstehungshintergrund

Das „Kursbuch“ wird 50 Jahre alt. Gegründet im Jahre 1965 von Hans Magnus Enzensberger, weitergeführt von Nachfolgern in wechselnden Verlagen und Formaten, sind bis zum Frühjahr dieses Jahres 181 Ausgaben erschienen. Dass diese kontinuierliche Zählung womöglich mehr Kontinuität suggeriert, als es die diskontinuierliche Geschichte des „Kursbuchs“ in seinen Textsorten, Denkungsarten und Autoren, aber eben auch im Wandel der Zeitläufe verbürgt, kann nur einem Beobachter aufstoßen, der Kontinuität mit Stillstand oder Stabilität gleichsetzt.

Aufbau …

Das Buch ist nach einem Editorial in die folgenden Kapitel unterteilt:

  1. Georg von Wallwitz:Schlafwandler aus den Kommunen. Nach dem Ende des gesellschaftlichen Brodeins
  2. Peter Schneider:Revisiting end. Anatomie eines Irrwegs
  3. Konrad Paul Liessmann:MENSCH 2.0. Die Kritik gehört zu einer Welt von gestern
  4. Armin Nassehi:Mehr Kritik, bitte! Aber welche?
  5. Hannelore Schlaffer:Maximal unverbindlich. Der neue Mitsprachebürger braucht keine intellektuelle Leitfigur
  6. Stefan Welzk:Der Wald, die Angst und das Geld. Vertagte Katastrophen, bedrohte Symbiosen
  7. Rahel Jaeggi:Das Ende der Besserwisser. Eine Verteidigung der Kritik in elf Schritten
  8. Barbara Klemm, Herlinde Koelbl, Regina Schmeken:Zweifler, Herausforderer, Rebellen
  9. Krisztina Koenen:Die Freiheit, die sie meinten. Warum in Mitteleuropa kaum noch ein Rechtsstaat existiert
  10. Bahman Nirumand:Zufallstreffer. Die „Kursbuch“-Autoren haben Deutschland verändert – aber anders als gedacht
  11. Mark Greif: Eine andere Welt. Wer verändern will, muss überrachen
  12. Cora Stephan: Schule des Schreibens. Was ich dem „Kursbuch“ alles verdanke
  13. Barbara Sichtermann: Trash, Pornos und chinesische Kleinbauern
  14. Karen van den Berg: Kritik, Protest, Poiesis. Künstler mischen sich ein – von 1970 bis heute

… und ausgewählte Inhalte

Die Herausgeber haben Autorinnen und Autoren des „Kursbuch“ gebeten, eigene frühere Texte buchstäblich weiterzuschreiben. Dabei haben wir sie mit einem Ausschnitt eines Textes konfrontiert, an den sie frei anschließen sollten. Der älteste dieser Texte stammt von Bahman Nirumand aus dem „Kursbuch“ 13 aus dem Jahre 1968, der jüngste von Barbara Sichtermann aus dem „Kursbuch“ 145 aus dem Jahre 2001. Die Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität ist diesem Weiterschreiben ja gewissermaßen als zweite Natur eingeschrieben. Die acht Beiträge arbeiten sich regelrecht daran ab, wie sich die eigenen Perspektiven verändern, wie Befürchtungen sich bewahrheitet haben, wie sich Fragen heute ganz anders stellen, wie begrenzt mancher frühere Blick war und wie sehr das auch bedeutet, dass uns die Begrenzungen unseres heutigen Blicks ähnlich unsichtbar bleiben wie diejenigen von damals.

So beeindruckt Krisztina Koenens Beitrag aus dem „Kursbuch“ 102 von 1990 damit, wie sie die damals geradezu revolutionären Erwartungen an eine Demokratisierung Europas nach 1990 bezweifelt hat, um sich nun, weiterschreibend, am Beispiel Ungarns darin bestätigt zu sehen. Sie weist dabei auf die geradezu paradoxe Folge hin, dass mit der Integration gescheiterter Demokratien in die westliche Hemisphäre deren demokratische Selbstkritik geradezu unmöglich wird, weil man dann das eigene wieder zum anderen machen müsste.

Besonders beeindruckend und vielleicht auch repräsentativ für eine ganze Generationserfahrung ist die Relektüre von Bahman Nirumand. Seine Rolle bei der Öffnung des sehr engen, auf sich selbst bezogenen Blicks der Bundesrepublik für deren Verflechtung mit der sogenannten Dritten Welt kann nicht unterschätzt werden. Jenseits von Vietnam hat er am Beispiel des Irans bereits früh auf Verflechtungen hingewiesen, die erst sehr viel später als Globalisierungserfahrung geradezu universal werden sollten. Beeindruckend ist, wie er zeigt, wie sehr diese Aufklärungsarbeit damals von ganz eigenen Scheuklappen begleitet war – etwa in der Einschätzung der chinesischen Kulturrevolution, die man damals nicht als das große Verbrechen wahrnehmen wollte, das sie in erster Linie war. Und dennoch haben diese Scheuklappen keineswegs jenen Lernprozess behindert, den Nirumand beschreibt: dass Deutschland und Europa weltoffener und pluralistischer geworden sind – was man vom Iran wohl kaum behaupten kann, der vom autoritären Modernisierungsregen des Kalten Krieges in die Traufe der Islamisierung kam.

Hannelore Schlaffer, Barbara Sichtermann, Cora Stephan, Stefan Welzk, Konrad Paul Liessmann und Peter Schneider, die sechs weiteren Leser und Kommentatoren ihrer eigenen Texte, machen allesamt ganz ähnlich darauf aufmerksam, wie sich die Perspektiven verschoben haben und wie sehr Kritik an die eigenen Kontexte gebunden ist, ohne ihren Stachel über die Zeit zu verlieren, gerade weil sie sich an manchen Stellen selbst korrigieren muss.

Karen van den Berg exerziert dies an einem geradezu klassischen Thema durch, nämlich am Beispiel der Kunst, die der bürgerlichen Gesellschaft als ihr ganz eigenes Anderes stets den Spiegel vorgehalten hat. Van den Berg macht hier eine deutliche Kontinuität aus, die sich heute freilich neue Arrangements für die künstlerische Bearbeitung von Asymmetrien zwischen Kunst und Establishment sucht.

Die beiden Beiträge von Rahel Jaeggi und Armin Nassehi beginnen theoretisch und methodisch an ganz unterschiedlichen Stellen und kommen auch zum Teil zu unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich der Möglichkeitsbedingungen von Kritik – aber beide machen besonders stark deutlich, dass Kritik immer weniger mit dem Überblick des Kommandohügels operieren kann. Kritik muss immer stärker mit den konkreten empirischen Ressourcen rechnen, die zur Verfügung stehen, sie muss Praktikabilität nachweisen, um nicht ins Leere zu laufen.

Daran schließt Mark Greifs lapidare Bemerkung an, dass wir uns Kritik nicht mehr wie in Kants „Diktum vom Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“ vorstellen dürfen. Erwachsen zu werden reiche nicht, meint der Mitbegründer und Mitherausgeber des amerikanischen Literaturmagazins „n+1“.

Der historische Beitrag von Georg von Wallwitz bindet die beiden Textsorten zusammen, weil er auch eine Relektüre darstellt. Von Wallwitz rekonstruiert die revolutionäre Bedeutung von Kommunarden – gemeint sind einerseits diejenigen aus dem Paris des Jahres 1871, andererseits die Kommunarden der 1968er Jahre, die sich semantisch explizit auf die Pariser Kommune bezogen haben. Die zweite, so von Wallwitz, war eine bürgerliche Bewegung, die erste, so seine Bemerkung, meinte es wirklich ernst. So unterschiedlich beide waren, so sehr hat sich beider Kritik in die gesellschaftliche Entwicklung eingeschrieben. 1871 und 1968, so schreibt von Wallwitz, haben die Gesellschaft toleranter, durchlässiger und kritikfähiger gemacht – nicht ohne andeutend hinzuzufügen, dass diese gute Nachricht auf eine neue Belle Èpoque hinweist, die zwar genossen werden will, uns aber auch zu Schlafwandlern machen kann.

Zielgruppen

Alle politisch aufgeschlossenen Leser, insbesondere aber die Freunde des „Kursbuchs“, die sich nicht nur für Gedankengänge des Mainstream interessieren.

Fazit

Der Essayband aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des „Kursbuchslässt langjährige „Kursbuch“autoren zu Wort kommen, die in ihren Beiträgen reflektieren, wie sich die Welt und die Kritik sowie die Zukunftsperspektiven in den letzten 50 Jahren verändert haben.

Rezension von
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe

Es gibt 101 Rezensionen von Uwe Helmert.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Uwe Helmert. Rezension vom 25.11.2015 zu: Armin Nassehi, Peter Felixberger (Hrsg.): Protest. Revolte. Kritik. 50 Jahre Kursbuch. Murmann Verlag (Hamburg) 2015. ISBN 978-3-86774-424-9. Kursbuch 182. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19891.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht