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Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit

Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Helmert, 18.12.2015

Cover Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit ISBN 978-3-86774-377-8

Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Murmann Verlag (Hamburg) 2015. 344 Seiten. ISBN 978-3-86774-377-8. 20,00 EUR.

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Thema

Wer heute die Gesellschaft zu beschreiben versucht, stößt auf ein grundlegendes Problem: Die alten Grenzziehungen funktionieren nicht mehr. Früher war man rechts oder links, progressiv oder konservativ, liberal oder sozialdemokratisch. In diesen Containern ließen sich alle Probleme vortrefflich lösen. Aber vor der Komplexität unserer Welt muss solch eindimensionales Denken kapitulieren und sich entweder in moralischen Appellen verlieren oder immer schon wissen, was richtig ist. Die Alternative ist ein neues vernetztes Denken, das mit Instabilität rechnet und Abweichungen zulässt – gegen die Gralshüter eindeutiger Wahrheit und Moral. Armin Nassehi seziert gängige Zeitdiagnosen und Diskurse, die auf naive Einsicht oder auf die richtige Einstellung oder Moral setzen. Ein Buch gegen die Selbstüberschätzung und Selbstüberhöhung derer, die ihrem Publikum nach dem Mund reden.

Autor

Dr. Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Aufbau

Das Buch ist nach der Einleitung in die folgenden Kapitel unterteilt:

  1. Rechts – links, konservativ – progressiv. Wirklich keine Alternativen?
  2. Zwischen kollektiver Einheit und besserer Einsicht. Wie kann die Welt verbessert werden?
  3. Komplexität. Warum dezentriert die Heliozentrik die Welt?
  4. Zwei Welten. Gibt es analoges Leben in digitalisierten Welten?
  5. It´s the society stupid, stupid! Ist Ökonomisierung nur eine Metapher gesellschaftlicher Komplexität?
  6. Übersetzungskonflikte. Die Geburt der Kritik aus dem Geist der Perspektivendifferenz?

Im folgenden werden Inhalte exemplarisch vorgestellt.

Zu Kapitel 1

Das Buch beginnt im ersten Kapitel mit der Diskussion der im Untertitel behaupteten Unterscheidung rechter und linker Beschreibungsformen und gipfelt in der Formel, dass wir links reden und rechts leben. Dass die intellektuelle Beschreibung schon deshalb, weil sie mit einem weißen Blatt beginnen kann, sich leichttut, universalistische Argumente zu formulieren, sich die Welt aus einem Guss vorzustellen oder sie in einer bestimmten Weise für umbaufähig zu halten. Die konkrete Lebenspraxis dagegen folgt dieser Logik nicht und ist eher partikularistisch, gebrochen durch Unübersichtlichkeiten, Zugehörigkeiten und alltagstaugliche Stereotype. Es ist unbestritten: rechts und links machen einen Unterschied. Wir wissen auf den ersten Blick, was damit gemeint ist. Eine eher linke Perspektive interessiert sich vorwiegend für die Schwächeren, für die Unterprivilegierten, und erkennt an, dass soziale Ungleichheit vor allem das Ergebnis sozialer Strukturen ist.

Eine eher rechte Perspektive wird individuelle Schwächen hauptsächlich den Individuen zurechnen, zugleich Individuen ohnehin Großgruppen, also Völkern, Ethnien, Nationen, Konfessionen, Familien usw., zuordnen. Eine eher linke Perspektive kann Pluralität aushalten, eine eher rechte nicht. Irgendwie merkt man schnell, wie ein Gegenüber tickt – und oft passt das dann auch nicht recht zu den allgemeinen politischen Orientierungen, die in etablierten politischen Systemen ohnehin kaum nach rechts und links zu diskriminieren sind. Wenn es ums Argumentieren geht, hat das Linke allerdings einen Diskursvorteil. Es hat als Beschreibungsperspektive insofern stets einen Kredit des Fortschrittlichen – fortschrittlich deshalb, weil es den Mythos des Umbaus der Gesellschaft kraft eines begründbaren Konzepts und dadurch den Nimbus des Neuen und Innovativen in sich trägt. Das Linke hat auch deshalb Kredit, weil es dem intellektuellen Selbstverständnis des schreibenden Subjekts entspricht.

Links und rechts ist keineswegs nur eine normative Unterscheidung. Es ist vielmehr eine Unterscheidung, deren Bezugsproblem in der Erfassung gesellschaftlicher Komplexität liegt – darin, für wen und vor wem wir die Gesellschaft als Gesellschaft beschreiben. Beschreibungstraditionen gibt es freilich fast nur dafür, die eher linken Gründe gegen die eher rechten Praktiken auszuspielen. Der Effekt ist, dass sich die beiden Orientierungen wechselseitig bestätigen, und zwar nicht darin, dass sie sich einig sind, sondern gerade darin, dass sie sich in ihrer gegensätzlichen Struktur einig sind. Sie brauchen sich gegenseitig – und kapitulieren dann doch davor, dass dort analog gelebt werden muss, wo wir es inzwischen mit digitalen Gemengelagen zu tun haben.

Zu Kapitel 2

Das zweite Kapitel zeigt am Beispiel zweier prominenter Formen von Kapitalismuskritik, einer eher linken und einer eher konservativen, dass sich in öffentlichen Debatten insbesondere zwei Hebel etabliert haben, die eine Veränderung der Gesellschaft nahelegen: entweder im Sinne der linken Idee eines Umbaus der Gesellschaft, die sich vermeintlich auf ein Prinzip zurückführen oder wenigstens als eine Einheit beschreiben lässt; oder im Sinne einer eher konservativen Idee durch die Einsicht in moralische oder verzichtsorientierte Notwendigkeiten. In diesem Kapitel wird außerdem diskutiert, dass Beschreibungen wie diese nur funktionieren und plausibel sein können, weil sie auf entgegenkommende Milieus mit ihren Erwartungen oder auf kulturelle Muster zurückgreifen können. Diese Adressen sind es, die entsprechende Texte plausibel machen und die an jene Hebel glauben wollen, für die es letztlich keine wirklichen Argumente gibt. Als Fazit des zweiten Kapitels formuliert der Autor, dass die angedeuteten Formen von Kapitalismuskritik zwar auf höchstem Niveau argumentieren, aber letztlich die Komplexität und Eigendynamik einer modernen Gesellschaft völlig unterschätzen.

Zu Kapitel 3

Mit Komplexität beschäftigt sich das dritte Kapitel. Komplexität ist bisweilen ein Allerweltsbegriff für alles, was uns irgendwie zu schwierig, zu unübersichtlich, gewissermaßen unentrinnbar erscheint. Komplexität ist manchmal auch ein selbstimmunisierender Begriff, der nichts weiter erklären muss, weil er ja die Möglichkeit des Erklärens negiert. Komplexität ist manchmal auch eine Kapitulation davor, genauer hinzusehen. Dass Komplexität freilich ein Schlüsselkonzept genau dafür ist, die Unübersichtlichkeit des Gegenstandes in eine Übersicht zu bringen und daraus diagnostische Konsequenzen zu ziehen, wird selten gesehen beziehungsweise systematisch bearbeitet. Statt komplizierter differenzierungstheoretischer Begrifflichkeiten versucht der Autor, dies mithilfe der technischen Metapher der verteilten Intelligenz zu erläutern, und erhofft sich davon, dass das differenzierungstheoretische Design der modernen Gesellschaft damit tatsächlich narrationsfähig wird.

Zu Kapitel 4

Im vierten Kapitel werden weitere technische Metapher aufgenommen, nämlich die Unterscheidung analoger und digitaler Welten. Der Autor entwickelt dort den Begriff „soziale Digitalisierung“, der noch einmal deutlich macht, dass die moderne Gesellschaft sich nicht mehr in den analogen Begriffen unserer Alltagserfahrung darstellen lässt. Soziale Konflikte zum Beispiel stellen wir uns normalerweise als Konflikte zwischen konkreten sozialen Gruppen oder Milieus vor. Die moderne Gesellschaft ist aber so komplex, dass konkurrierende Gruppen unsichtbar, also digitalisiert werden. Reale Konkurrenten sind keine sozialen Gruppen mehr, sondern statistische Gruppen, abstrakt, unsichtbar, nicht beschreibbar. Genau das macht es so plausibel, in angeblich sichtbaren sozialen Gruppen, etwa sogenannten Fremden, eine Adresse für Kritik und Ablehnung zu finden. Die technische Digitalisierung, also das Internet und seine verteilten Intelligenzen, wird in diesem Zusammenhang nicht als Ausgangspunkt und Ursache, sondern eher als Folge und Symptom einer sozial digitalisierten Gesellschaft dargestellt.

Die Welt sieht analog aus, nämlich so, wie wir sie sehen, sie operiert aber digital. Wir gehen im Alltag zumeist davon aus, dass unser Gegenüber uns versteht und wir unseren Gegenüber verstehen, eben weil es so aussieht, als sei es so. Wir sind sogar so sehr darin geübt, dies kontrafaktisch vorauszusetzen, dass wir im Alltag mit vergleichsweise unscharfen Signalen umgehen können. Unser Alltagsverständnis von Kommunikation ist so aufgebaut, dass wir mit analoger Übertragung rechnen. Was unser Gegenüber sagt, ist uns ein Hinweis darauf, was er oder sie meint. Was wir sehen, halten wir für die Wirklichkeit. Und solange sich begriffliche Bedeutungen praktisch bewähren, stehen sie ganz und gar analog für das, wofür sie stehen. Wir sind es gewohnt, die Signale, die wir empfangen, als analoge Signale anzusehen. Selbst wenn die Signalverarbeitung viel komplizierter ist, bringt uns unser Gehirn dazu, so zu tun, als würden wir die Welt analog wahrnehmen. Digitalität meint zunächst nichts anderes als Zählbarkeit – digitus ist der Finger, an dem sich die Dinge abzählen lassen. Die digitale Verarbeitung der Welt setzt also auf zählbare, zeit- und wertdiskrete Repräsentationen der Welt. Sie verarbeitet Information nicht als Eins-zu-eins-Korrelation. Sie baut vielmehr Unterbrechungen ein, die es erlauben, den Ausgangsreiz in Daten zu verwandeln, denen man die analoge Struktur nicht mehr ansehen kann. Wichtig ist allemal: Gelebt wird in analogen Welten, verarbeitet werden diese aber digital. Es geht also bei all diesen komplexen Prozessen der Kommunikation, der Informationsverarbeitung, der Wahrnehmung und sogar der Herstellung von Bedeutung darum, auf die Rekombinationsfähigkeit digitaler Verarbeitungsformen zu setzen, dabei aber eine lebbare analoge Welt zu erzeugen.

Zu Kapitel 5

Im fünften Kapitel nimmt der Autor noch einmal die Kapitalismuskritik auf. Er vertritt dort unter dem Slogan „It´s the society, stupid!“ die These, dass die fast ubiquitäre Diagnose einer „Ökonomisierung“ der Gesellschaft so plausibel ist, weil man in der modernen entfesselten Ökonomie auch eine Metapher für eine nahezu nicht steuerbare, komplexe Dynamik sehen kann. It´s the economy, stupid! – diese Formel ist zu einem geflügelten Wort geworden. Sie hört sich wie eine minimalistische Kurzform des marxistischen Denkens an. Die Ökonomie, das sei die Basis des Gesellschaftlichen, der Boden aller gesellschaftlichen Horizonte, der Schlüssel zum Verständnis aller Konflikte und Interessen. It´s the economy, stupid! ist letztlich eine Formel, die den Geist der klassischen Kapitalismuskritik atmet. Aber klassische Kapitalismuskritik ist sie wahrlich nicht – sie stammt aus der Wahlkampagne von Bill Clinton aus dem Jahre 1992, wurde aber danach zu einer Formel, die die Basis-Überbau-Metapher modernisiert hat: Ihr könnt über alles Mögliche reden, über Konflikte und Interessendifferenzen, über politische Konzepte und Stilfragen, über Lösungsmöglichkeiten usw., aber am Ende bleibt alles eine Frage der Ökonomie, also der Produktion und Verteilung knapper Güter und der sozialen Gerechtigkeit. Und am Ende geht es darum, diese eigensinnigen Formen miteinander zu koordinieren, obwohl ein koordinierendes Zentrum nicht ausgemacht werden kann. Nur: Es bleibt nichts anderes übrig, als das Unmögliche zu tun. Denn das ist das grundlegende gesellschaftliche Problem der modernen Gesellschaft – deshalb gilt tatsächlich: It´s the society, stupid!

Zu Kapitel 6

Im sechsten und letzten Kapitel wird unter dem Stichwort Übersetzungskonflikte darauf hinweisen, dass die moderne Gesellschaft weder als integriert noch als aus einem Guss bestehend noch als eindeutig beschreibbare Einheit gedacht werden kann. Mit der Figur der Übersetzung führt der Autor einen Mechanismus ein, an dem gezeigt werden kann, dass sich eine Gesellschaft immer nur temporär, immer nur in praktischen Gegenwarten, immer nur vorläufig und immer nur an konkreten Stellen integrieren kann und immer wieder neu damit beginnen muss. Dies wird am Verhältnis von ökonomischen und politischen Perspektiven als einem Schlüsselproblem verdeutlicht und es wird argumentiert, dass Lösungshorizonte für Komplexitätsprobleme nur als Übersetzungsleistungen in Echtzeit zu denken sind. Es wird erörtert, ob und wie sich daraus womöglich ein neuer Kritiktypus generieren lässt.

Diskussion

Dass das Links-Rechts-Schema kaum noch tauglich ist, um die politische Kultur in Deutschland darzustellen, ist bei weitem keine neue Erkenntnis. So gibt es vielfältige Ansätze, die das Rechts-Links-Schema erweitern. Kaum zur Sprache kommt in dem Buch das Phänomen der seit 30 Jahren kontinuierlich sinkenden Beteiligung bei politischen Wahlen in Deutschland. Nassehi macht sich nicht die Mühe, auf diesen Tatbestand näher einzugehen.

Zielgruppe

Zielgruppen für das Buch sind insbesondere Philosophen und Politologen sowie Leser mit Interesse an gesellschaftlichen und politischen Veränderungen.

Fazit

Armin Nassehi setzt sich mit gängigen Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen und politischen Diskursen auseinander, die auf naive Einsicht oder auf die richtige Einstellung oder Moral setzen. Er konstatiert, dass die alten Grenzziehungen nicht mehr funktionieren. Früher war man rechts oder links, progressiv oder konservativ, liberal oder sozialdemokratisch. In diesen Containern ließen sich alle Probleme vortrefflich lösen. Aber vor der Komplexität unserer Welt muss solch eindimensionales Denken kapitulieren und sich entweder in moralischen Appellen verlieren oder immer schon wissen, was richtig ist. Damit warnt der Autor auch vor Selbstüberschätzungen, die ihrem Publikum nach dem Mund reden.

Rezension von
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe

Es gibt 101 Rezensionen von Uwe Helmert.

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Zitiervorschlag
Uwe Helmert. Rezension vom 18.12.2015 zu: Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Murmann Verlag (Hamburg) 2015. ISBN 978-3-86774-377-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19892.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.


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