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Christian Fleck: Etablierung in der Fremde

Rezensiert von Miriam Rothe, 15.12.2016

Cover Christian Fleck: Etablierung in der Fremde ISBN 978-3-593-50173-4

Christian Fleck: Etablierung in der Fremde. Vertriebene Wissenschaftler in den USA nach 1933. Campus Verlag (Frankfurt) 2015. 475 Seiten. ISBN 978-3-593-50173-4. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 53,90 sFr.

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Thema

Mit seinem 475-seitigen Buch liefert der österreichische Soziologe Christian Fleck einen Beitrag zur Exil-Forschung, indem er darstellt, wie (überwiegend sozialwissenschaftliche) Akademiker, die 1933 oder nach dem „Anschluss“ an NS-Deutschland aus Österreich geflohen sind, im Ausland (insbes. England und USA) Fuß fassten oder bei ihrer Etablierung auch scheiterten. Das Buch behandelt neben der Rolle institutionalisierter Flüchtlingskomitees für einen akademischen Neuanfang der Exilanten in Fallstudien das berufliche Schicksal vierer Akademiker im Exil durch die Vertreibung der Nationalsozialisten. Bei diesen Personen, deren Leben und Werk in der Exil-Forschung bisher kaum bekannt war, handelt es sich um Edgar Zilsel, Gustav Ichheiser, Paul F. Larzasfeld und Joseph A. Schumpeter.

Autor

Christian Fleck lehrt an der Universität Graz. Er war Gründungsdirektor des Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich (AGSÖ) und ist im Gebiet der Geschichte der Soziologie in Österreich durch zahlreiche Publikationen ausgewiesen. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Untersuchung österreichischer Zwangsemigranten zur NS-Zeit. So ist dieses Buch in Teilen auch eine Zusammenfassung seiner bisherigen Arbeiten.

Entstehungshintergrund

Trotz der ausgeprägten Erinnerungskultur zu Opfern des Nazi-Regimes sieht Fleck einige Themen der Exil-Forschung als vernachlässigt an: „Was wurde aus jenen, die der Möglichkeit beraubt wurden, ihre bis dahin eingeschlagenen Lebenswege dort fortzusetzen, wo sie sie begonnen hatten? Wohin gingen diejenigen von ihnen, die den Schergen des Regimes entkamen? Wer und was half ihnen in der unvertrauten Umgebung Fuß zu fassen?“ (S. 10).

Fleck strebt in seinem Buch eine Beantwortung dieser Fragen an, und möchte durch seine Forschung besonders zum Puzzle der Exil-Forschung beitragen. Zur Beantwortung der Fragestellungen hat Fleck neben der Fachliteratur eine Fülle an Material aus Archiven in Europa und Amerika verwertet.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in zwei Teile mit jeweils ähnlich stattlichem Umfang.

  1. Im ersten Teil (Kapitel 1-2) werden die Hilfsorganisationen behandelt, die Exilanten bei einem Neuanfang im Ausland unterstützen.
  2. Der zweite Teil (Kapitel 3-6) umfasst die vier oben genannten Fallbesprechungen.

Kapitel 7 behandelt zusammenfassend die Problematik der Etablierung in der Fremde.

Das Buch wird durch ein Personen- und Sachverzeichnis abgerundet.

Inhalt

1. Gründungsgeschichte(n). Kurze Zeit nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 gründeten englische Akademiker das „Academic Assistance Council“ in London. Die Fakultät der „London School of Economics“ (LSE) unterstützte die Hilfesuchenden Exilanten bei ihren ersten Schritten in England. Dieses Vorhaben wurde vom Direktor des LSE, William Beveridge, einem einflussreichen Politikberater, initiiert. Die Idee der Gründung eines Hilfskomitees für deutsche Professoren, die 1933 unter dem Nazi-Regime ihre Stelle verloren hatten, fand möglicherweise in einem Wiener Kaffeehaus ihren Ursprung. Dort traf der Ökonom Ludwig von Mises William Beveridge und den Ökonomen Lionel Robbins. Es war von Mises´ Idee der Einrichtung eines Hilfskomitees, jedoch verfügte er nicht über die Verbindungen und die Möglichkeiten, Geld und Spenden für den Zweck zusammenzutreiben. Diese Aufgabe übernahm der ungarische Physiker Leo Szilard. Es wurden viele tausend Pfund gespendet, um einigen deutschen Akademikern dabei zu helfen, einen Neuanfang in der englischen Universitätswelt zu ermöglichen. Ziel des Academic Assistance Fund war es, Akademiker mit internationaler Reputation in englische Universitäten zu bringen. – In diesem ersten Kapitel schlüsselt Fleck die Zusammensetzung der geförderten Exilanten nach akademischer Position und Disziplin detailliert auf. Die Dauer und Höhe der Hilfe wurde durch die akademische Position bestimmt. Freiberufler, Privatgelehrte und promovierte Wissenschaftler erhielten halb so viel Hilfe wie verbeamtete Akademiker. Zu Beginn wurden vor allem Mediziner, Mathematiker und Naturwissenschaftler auf die Liste der Hilfsbedürftigen gesetzt. Insgesamt wurden 1933/4 1.231.200 US-Dollar für die akademische Hilfe gespendet. Fleck stellt zudem bereits im ersten Kapitel heraus, dass Hilfsbereitschaft und die persönliche Anteilnahme häufig als wichtiger empfunden wurden als die finanzielle Hilfe. Im Jahre 1933 wurde in New York ebenfalls eine Hilfsorganisation gegründet: Das „Emergency Commitee“ (EC), welches deutsche Exilanten mit einigen Jahresgehältern in amerikanischen Universitäten unterbringen sollte. Das Emergency Commitee sammelte seine Spenden privat, sodass die Aktion kein Aufsehen in der Öffentlichkeit erregte. Grund dafür waren eine Welle von Entlassungen folgend auf die Große Depression und der auch in Amerika verbreitete Antisemitismus – immerhin war ein sehr großer Teil der Exilanten jüdisch.

2. Die Praxis des Emergency Commitee. Das zweite Kapitel beinhaltet empirische Analysen und gibt einen Einblick in die Praxis des EC. Dargestellt sind Daten, gewonnen aus hunderten Personenakten des ECs. Manche Universitäten wie die Columbia University und die New York University waren kooperativ, während andere Universitäten wie Harvard sich überhaupt nicht für den Zweck interessierten. Der Haltung der Harvard University widmet Fleck ein Unterkapitel. Das EC operierte als Vermittler zwischen den Akademikern und den kooperierenden Universitäten. Manche Akademiker lehnten es ab, sich an abseits gelegenen oder weniger angesehenen Einrichtungen oder Instituten Hochschulen für Farbige niederzulassen. Vom EC wurden insgesamt 277 geflüchtete Wissenschaftler unterstützt. Anders als das Academic Assistance Council förderte das EC zu einem großen Teil Geisteswissenschaftler. Besonders Max Horkheimers Institut für Social Research profitierte von einer erfolgreichen Zusammenarbeit mit dem EC. Interessanterweise erwarteten die Mitglieder der amerikanischen und englischen Hilfskomitees, dass es sich bei der Unterbringung der Exilanten um eine vorübergehende Lösung handeln würde, und dass die Herrschaft Hitlers nur von kurzer Dauer sein würde. Doch die Welle der Exilanten ebbte nicht ab und die Hilfskomitees mussten sich auf eine dauerhafte Unterbringung der Akademiker in den Lehrkörpern anstatt auf eine finanzielle Überbrückungshilfe einstellen. Fleck stellt die Überlegung an, dass die Vorstellung einer kurzzeitigen Hilfeleistung auf Seiten der Unterstützer geeignet war, die benötigten Ressourcen zu mobilisieren, was möglicherweise nicht möglich gewesen wäre, wenn ihnen bewusst gewesen wäre, dass die Hilfsmaßnahmen ein ganzes Jahrzehnt erforderlich sein würden. Insgesamt finanzierte das EC 613 europäische Professoren, von denen ein Drittel deutsch war. Dazu kam die Unterstützung von 288 weiteren Akademikern.

3. Edgar Zilsel: Exzellente Qualifikationen eines ungeschickten Mannes. Zilsel war Philosoph und Naturwissenschaftler und politisch links orientiert. Fleck stellt Zilsels Werk und seine Person im dritten Kapitel ausführlich vor. Missverständnisse trugen zu Zilsels Enttäuschung bei: Er hatte zwar soziale Unterstützung gefunden, litt jedoch unter untergeordneten Arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Er weigerte sich in „geradezu eigensinniger Weise“ (S. 293) zweitbeste Lösungen zu akzeptieren. Hinzu kamen persönliche Probleme: Erkrankung der Frau, empfundene Isolierung und Probleme mit dem Sohn. Zilsel war in den USA durchaus wissenschaftlich produktiv, aber die von ihm betriebene Wissenschaftsgeschichte gehörte nicht zu den besonders nachgefragten Forschungsgebieten. Zilsel starb durch Suizid wie auch Gustav Ichheiser, wenn auch aus anderen Gründen.

4. „Who is Ichheiser?“- ein an sich und der Welt Gescheiterter. Gustav Ichheiser war Psychologe und Soziologe. Er war Schüler des Psychologen Karl Bühler, aber nie dessen Mitarbeiter. Fleck beschreibt diesen Fall als einen weiteren einer gescheiterten Etablierung im Ausland. Die dafür als relevant betrachteten Faktoren sollen ein Licht auf die allgemeinen Etablierungsprozesse werfen. Ichheiser, der eine Anzahl interessanter Veröffentlichungen aufzuweisen hatte und offenbar auch gute Englischkenntnisse besaß, musste ohne die materielle Hilfe des ECs auskommen. Anders als Zilsel verfügte Ichheiser über die Unterstützung von Mentoren, wie u.a. Gordon W. Allport, allerdings war seine gesamte wissenschaftliche Karriere extrem randständig. Bei Ichheiser stellt Fleck, wie bei allen vier Fallbeschreibungen, einen Zusammenhang zwischen Person, Werk, Umgebungsbedingungen und dem (Miss-)Erfolg der Etablierung im Ausland her. Trotz beachtlicher sozialer Anerkennung und Unterstützung musste sich Ichheiser in den ca. 30 Jahren seines Lebens in den USA durchschlagen. Zunehmende psychische Probleme führten dazu, dass er schließlich in eine Psychiatrische Einrichtung zwangseingewiesen wurde, wo er allein 14 Jahre verbrachte. Trotz bewundernswert intensiver Recherche durch den Autor Fleck gibt in dieser Biographie das Scheitern von Ichheiser weitere Rätsel auf.

5. Paul F. Larzarsfelds amerikanische Anfänge. Larzarsfelds Exilgeschichte ist im Gegensatz zu Zilsels und Ichheisers eine Erfolgsgeschichte. Larzasfeld war Mitarbeiter von Karl und Charlotte Bühler in Wien und hatte dort u.a. die Funktion des Fachmanns für Forschungsmethoden. Er wurde Rockefeller Fellow, reiste ohne viel Geld illegal in die USA ein, fand unterstützende Mentoren, arbeitete hart, und erreichte schließlich eine Stellung an der Columbia University. Dort verschaffte er sich einen Namen als einer der einflussreichen amerikanischen Soziologen.

6. Schumpeter als Helfer. Joseph A. Schumpeter war kein Flüchtling, sondern erhielt 1932 eine Stelle an der Harvard Universität. Anders als bei den meisten Exilanten liegen bei ihm keine Hinweise vor, dass er vor nationalsozialistischen Bedrohungen flüchtete, denn schon vor der „Machtergreifung“ verließ Schumpeter die Universität Bonn. Schumpeter half als Ökonom zeitnah österreichischen und deutschen Kollegen dabei, im Ausland wieder Fuß zu fassen. Er arbeitete als Einzelperson als ein Vermittler zwischen den Exilanten und den kooperierenden Instituten. Schumpeter repräsentiert in den Falldarstellungen eine Person, die die Etablierung im Ausland mithilfe der eigenen Reputation erreichen konnte.

7. Etablierung in der Fremde. Fleck versucht in diesem abschließenden Kapitel aus den Fallgeschichten und vielen anderen, von ihm betrachteten Biographien von Zwangsemigranten so etwas wie eine Typologie der Exilanten. Der im Titel des Buches stehende Begriff der Etablierung wird von ihm als soziologischer Terminus zur Kennzeichnung der beruflichen Weiterentwicklung des Zwangsemigranten genutzt.

Diskussion

Flecks Hauptanliegen in der vorliegenden Studie waren, einerseits die Exil-Forschung durch bisher ungesehene oder wenig beachtete Fälle zu erweitern, die Arbeit der Hilfsorganisationen zu erforschen und relevante Faktoren herauszustellen, die bei dem (Miss-)Erfolg der Etablierung im Exil eine Rolle spielten.

Er stellte einige Faktoren für einen gelungenen Neuanfang im Exil heraus: als ein zentraler Faktor erwies sich die Unterstützung durch einen Mentor. Weitere einflussreiche Faktoren waren die Gelegenheitsstrukturen des Zufluchtslands, der Arbeitsmarkt, die Reputation, die fachliche Spezialisierung, die Vorerfahrungen mit Migration, das Geschlecht des Emigranten.

In der Exilforschung wurde bisher selten über persönliches Unglück im Exil und Fehlschläge berichtet, wie sie hier vor allem in den Fallstudien zu Zilsel und Ichheiser sichtbar werden.

Fleck hat ungewöhnlich intensive Recherche- und Archivarbeit geleistet und stellt seine Befunde systematisch dar.

Fazit

Flecks Studie liefert einen wichtigen Teil zur Exil-Forschung. Das Buch ist zwar sperrig, da Fleck viele Details berichtet, er bemüht sich allerdings darum, einen lebendigen Sprachstil beizubehalten. Die Fülle an Informationen ist systematisch aufgearbeitet und der Autor baut regelmäßig Resümees ein und zieht Schlüsse aus den dargestellten Informationen.

Weniger für interessierte Laien, als besonders für Fachwissenschaftler mag das Buch eine Fundgrube neuer wertvoller Informationen und Details bieten. Da ist an erster Stelle die Exilforschung zu nennen, sicher auch die Forschung zu den Wissenschaften in Österreich, insbesondere die Rolle einzelner wichtiger Emigranten wie Horkheimer oder die der Wiener Schule der Entwicklungspsychologie Karl und Charlotte Bühlers. Schließlich sind die biographischen und institutionengeschichtlichen Befunde für die Soziologie- und Psychologiegeschichte von besonderem Interesse.

Rezension von
Miriam Rothe
B.Sc. Psychologin, Fernuniversität Hagen
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Es gibt 1 Rezension von Miriam Rothe.

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ISSN 2190-9245