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Michael Wendler, Ernst-Ulrich Huster (Hrsg.): Der Körper als Ressource in der sozialen Arbeit

Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Helmert, 16.12.2015

Cover Michael Wendler, Ernst-Ulrich Huster (Hrsg.): Der Körper als Ressource in der sozialen Arbeit ISBN 978-3-658-08777-7

Michael Wendler, Ernst-Ulrich Huster (Hrsg.): Der Körper als Ressource in der sozialen Arbeit. Grundlegungen zur Selbstwirksamkeitserfahrung und Persönlichkeitsbildung. Springer VS (Wiesbaden) 2015. 341 Seiten. ISBN 978-3-658-08777-7. D: 34,99 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 37,00 sFr.

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Thema

In dem Sammelband wird dargestellt, was der Körper für die Soziale Arbeit darstellt. Er ist der Ausgangspunkt einer konsequent lebensweltorientierten Sozialen Arbeit. Der Körper ist eine zentrale, eigenständige Ressource des Menschen, der genetisch mitbestimmt ist, letztlich aber im sozialen Kontext und den dort vorhandenen Verteilungsprozessen gestaltet wird. Dabei spielen auch historisch entstandene soziale Leitbilder eine Rolle. Der Körper prägt das individuelle Entscheidungsverhalten mit, seine Beachtung und Förderung kann also dieses Entscheidungsverhalten verändern.

Herausgeber

Michael Wendler ist Diplom-Motologe und seit 2004 Professor für Bewegungspädagogik und Motopädagogik an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum.

Ernst-Ulrich Huster war von 1989-2011 Professor für Politikwissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum und ist seit 2003 Privatdozent an der Justus-Liebig-Universität Gießen am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften.

Aufbau und ausgewählte Inhalte

Die insgesamt neunzehn Beiträge gliedern sich in zwei Bereiche, einmal den der theoretischen Positionierung, sodann in Beispiele des Umgangs mit Körperlichkeit in der Praxis der Sozialen Arbeit.

Zu Beginn liefert Tobias Staiger eine gründliche empirische Bestandsaufnahme. Bewegung, körperliche Aktivität und Sport stellen bedeutsame Faktoren für die Gesundheit und das Wohlbefinden dar. Ausstattung und Umfang mit dieser Form der Körperlichkeit nehmen über den gesamten Lebenslauf hinweg Einfluss auf die physische Konstitution und besitzen außerdem eine hohe Relevanz für die psychische Gesundheit. Die Befunde werden vor dem Hintergrund sozio-ökonomischer Rahmenbedingungen ausdifferenziert,um die für die Soziale Arbeit relevanten Zielgruppen herauszustellen.

Ernst-Ulrich Huster und Johannes Schütte beschäftigen sich mit sozialen Risiken für Bildung und Gesundheit. Auch der Habitus ist stark sozial vorgeprägt, er ist aber sehr wohl – nicht nur in Extremfällen – veränderbar. Die Autoren entwickeln vier „Armutstypen“ innerhalb der untersten sozialen Schicht: die isolierten Inaktiven, die eingebundenen Hasardeure, die entfremdeten Einzelkämpfer sowie die vernetzten Macher. Für die öffentliche Fürsorge ist es wichtig, sich vor allem darauf zu konzentrieren, was in den differenzierten Armutslagen fehlt: Was braucht es an Veränderungen bei den Rahmendaten? Wo kann die Meso-Ebene (Familie, Schule, Betrieb etc.) hilfreich eingreifen? Und was vermag die Aneignungsfähigkeit beim Einzelnen zu verändern?

Die beiden folgenden Beiträge befassen sich mit der historischen Entwicklung des Körperverständnisses seit der Antike. Richard Hammer beschreibt, dass im Mittelalter insbesondere die Kirche eine leibfeindliches Körperbild durchsetzte. Mit der Neuzeit setzte eine zunehmende Disziplinierung der Leiblichkeit ein, die die Kognition immer stärker hervorhob. Die von Rosseau getragene Gegenbewegung wurde sehr bald von Philantropen eingeordnet in ein Erziehungsgeschehen, das den jungen Menschen für die anstehenden Aufgaben der bürgerlichen Gesellschaft nützlich werden ließ – im Industriebetrieb ebenso wie auf militärischem Gebiet. Ernst-Ulrich Huster stellt dar, dass im 19. Jahrhundert insbesondere über das Spannungsverhältnis zwischen geistiger und körperlicher Entwicklung, zwischen individueller Entwicklung und öffentlich gesetzter Normierung im Bildungswesen debattiert wurde. Die Beziehung zwischen geistiger und körperlicher Entwicklung erfährt vielfältige Modifikationen, vom Faschismus abgesehen wird aber eine einseitige Ausrichtung auf auf den körperlichen Bereich durchgehend abgelehnt. Insgesamt wird das intellektuelle Erziehungsziel immer noch deutlich über das körperliche gestellt. Und schließlich setzen sich immer stärker individuelle Zielsetzungen für die je eigene Entwicklung durch. Dabei kommt zunehmend ein Distiktionsbedürfnis zum Tragen und gleichzeitig werden ökonomische Zugangsbarrieren deutlicher.

Der Beitrag von Hildegard Mogge-Grothjahn geht auf unterschiedliche theoretische Zugänge zu den Begriffen Körper, Geschlecht und Sexualität und mögliche Verknüpfungen dieser Begriffe ein. Die Theorie- und Begriffsgeschichte wird im Kontext der zweiten Frauenbewegung in Deutschland gesellschaftlich verortet und im Hinblick auf soziologische Gegenwartsdiagnosen weiter geführt. Die Autorin gelangt zu folgendem Fazit für die Praxis der Sozialen Arbeit: Zahlreiche Modelle und Projekte, in denen die Bewegungserfahrung und die Vermittlung von leiblich-sinnlichen Ausdrucksmöglichkeiten können dazu beitragen, die „soziale Vererbung“ von benachteiligten Lebenslagen zu überwinden. Ob in Musikprojekten mit jugendlichen Schulverweigerern, in Fotoprojekten mit alleinerziehenden Frauen mit Hartz-IV-Bezug oder in Theaterprojekten mit männlichen Inhaftierten: Diejenigen, die hieran aktiv teilnehmen, erleben, dass ihre tief verinnerlichte Ohnmachts- oder Unterlegenheitserfahrungen einschließlich einengender Geschlechtsrollenzuschreibungen im wahrsten Sinne des Wortes „in Bewegung gebracht“ und dadurch Verhaltens- wie auch Kognitionspotenziale freigelegt werden.

Der zweite Teil des Buches, der die Umsetzung in die soziale Praxis zum Inhalt hat, beginnt mit dem Beitrag von Daniela Engelbracht und Dirk Nüsken, die einen Überblick über die Einbindung des Körpers in die Erziehungshilfen gibt. Der Körper ist dabei Medium der Wahrnehmung, Aneignung uns Auseinandersetzung mit der Umwelt und mit sich selbst. Starke Wandlungen kennzeichneten dabei den Weg von der Zeit der Reformpädagogik, über die NS- und Nachkriegszeit bis zu heutigen Sichtweisen auf die Funktionen des kindlichen und jugendlichen Körpers, der einen Sinn- und Erlebnisraum darstellt. Heute stellen Konzepte wie Erlebnispädagogik, Psychomotorik, Zirkuspädagogik, Gewaltpädagogik oder Sexualpädagogik die Grundlage für zahlreiche Praxiskonzepte der Erziehungshilfen dar. Abschließend wird darauf hingewiesen, dass lediglich in wenigen Fachhochschulen Bewegung, Sport und Abenteuer als systematische Studienelemente vorzufinden sind, diese Inhalte stellen bisher lediglich Nebenschauplätze im Bereich der Sozialen Arbeit dar.

Germo Zimmermann fragt danach, wie der Körper in der offenen Kinder- und Jugendarbeit als Ressource eingesetzt werden kann. Resümierend zeigt sich, dass ein unreflektierter Einsatz oder kurzfristige Highlights in der Regel nicht ausreichen, um nachhaltig Kompetenzen zu fördern oder Veränderungen herbeizuführen. Das Fazit des Autors: Erziehungs- und Bildungsprozesse gelingen nur dann, wenn „Kopf, Hand und Herz“ gemeinsam gebildet werden. Jugendarbeit bietet vielfältige Möglichkeiten, den Körper als Ressource zum Lernen einzusetzen. Nicht immer ist sie sich dieser Chance bewusst, was ihr mitunter den Ruf einer laienhaften Pädagogik, die unreflektiert und unprofessionell agiert, eingebracht hat. Dabei bieten die vielfältigen Zugänge der bewegungsbezogenen Sportpädagogik, der musisch-kulturellen Arbeit und der Erlebnispädagogik Optionen auf eine qualitative Weiterentwicklung, von denen die Adressaten der Jugendarbeit nur profitieren können.

Melanie Behrens und Michael Wendler zeigen in ihrem Beitrag, welche Chancen körper- und bewegungsorientiertes Arbeiten mit zirzensischen Inhalten bietet, um personale, soziale und motorisch-körperliche Ressourcen zu stärken. Gerade für sozial ängstliche Kinder stellt der Aufbau eines positiven Selbstwertgefühls eine wichtige Zielsetzung im Prozess der Entwicklungsbegleitung dar.

Anhand eines persönlichen Erfahrungsberichtes macht Nadja Raszewski am Beispiel eines tanzpädagogischen Projektes in der JVA Heilbronn deutlich, welche Auswirkungen das Laienspiel in Form von kreativen/zeitgenössischen Tanz und Improvisation als körperliches Ausdrucksmittel für die Soziale Arbeit erlangen kann. Dabei werden die Innen-und Außenperspektiven der Projektteilnehmer sorgfältig gegenüber gestellt, ausgewählte Themen begründet und in ein Good-Practice-Beispiel überführt. Reflexiv wird die Wirkung der körperlichen Auseinandersetzung für die Teilnehmenden verdeutlicht, ohne den persönlichen Hintergrund der „strafgefangenen Künstler“ zu vernachlässigen.

Für Marina Schulz gibt es kein Patentrezept gegen Übergewicht. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit Betroffenen empfiehlt es sich aber, Kinder und Jugendliche mit ihren Bedürfnissen ernst zu nehmen. Dazu gehört, ihnen dabei zu helfen, ein positives Körperbild und damit auch ein positives Selbstbild zu entwickeln. Das Erlernen gesundheitsfördernder Verhaltensweisen ist ein individuell geprägter Prozess, der mit den Betroffenen selbst entwickelt werden muss. Durch Motivation, positive Verstärkung und Ermutigung können Kinder und Jugendliche Erfolgserlebnisse bei der sozialen Interaktion sowie in Sport und Bewegung erfahren.

Im abschließenden Beitrag setzt Stefan Schache die beiden scheinbar konträren Felder der Organisation und des Körpers in Beziehung und zwar mittels der Organisationskultur, die gerade in Zeiten der UN-Behindertenrechtskonvention (Influsion) von zentralem Gewicht ist. Die Bedeutung des Körpers und der Leiblichkeit soll in Beratungs-und Begleitungssituationen herausgestellt und methodisch aufbereitet werden, so dass es zu einem potentiellen „Change“ im Sinne einer Organisationsentwicklung kommen kann.

Zielgruppen

Das Buch richtet sich an Lehrende und Studierende der Sozialen Arbeit sowie für das Lehramt, an Praktiker im Feld Soziale Arbeit und im Sport- und Bewegungsunterricht sowie an Praktiker im Bereich der Prävention.

Fazit

Theorie und Praxis reflektieren zwei Seiten ein und derselben Medaille: Der Körper stellt eine Ressource dar, die historisch und aktuell immer wieder externen Zwecken zugeordnet wird, gleichwohl aber immer auch Form und Inhalt der selbstbestimmten Persönlichkeitsentwicklung ist. In diesem Spannungsfeld vollzieht sich Soziale Arbeit – nicht interesselos bzw. wertfrei, sondern interessenreflektiert und offen wertbezogen. So wie das Verständnis von und der Umgang mit Körperlichkeit geschichtlich und sozial vorgeprägt sind, sind diese auch sozial und im konkreten Prozess veränderbar. Dies zeigt der Sammelband anhand theoretischer und empirischer Belege auf und verweist zudem auf Potientiale für Veränderungen.

Rezension von
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe

Es gibt 101 Rezensionen von Uwe Helmert.

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Zitiervorschlag
Uwe Helmert. Rezension vom 16.12.2015 zu: Michael Wendler, Ernst-Ulrich Huster (Hrsg.): Der Körper als Ressource in der sozialen Arbeit. Grundlegungen zur Selbstwirksamkeitserfahrung und Persönlichkeitsbildung. Springer VS (Wiesbaden) 2015. ISBN 978-3-658-08777-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19900.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.


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