Mike Seckinger, Liane Pluto et al.: Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit
Rezensiert von Wolfgang Witte, 14.03.2016
Mike Seckinger, Liane Pluto, Christian Peucker, Eric Santen: Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Eine empirische Bestandsaufnahme.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2015.
300 Seiten.
ISBN 978-3-7799-3381-6.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR,
CH: 40,10 sFr.
Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfeforschung .
Thema
„Die offene Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) steht beständig vor der Aufgabe, auf veränderte Bedingungen zu reagieren. Die an sie gerichteten gesellschaftlichen und institutionellen Erwartungen verändern sich ebenso wie die Lebenslagen und Bedürfnisse ihrer Adressaten. Die OKJA muss die Balance zwischen gesellschaftlichen Aufträgen und den Interessen der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen immer wieder neu herstellen. Die bundesweite Erhebung bei 1.115 Einrichtungen zeigt, wie die OKJA auf diese Anforderungen reagiert und welche Herausforderungen vor ihr liegen. Dies wird u.a. untersucht an ihren strukturellen Bedingungen und Themen wie freiwilligem Engagement, Partizipation und Beratungsbedarfen.“ (Klappentext)
Autoren*in
Mike Seckinger ist Leiter der Fachgruppe „Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe“ am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München. Liane Pluto, Christian Peucker und Eric van Santen sind wissenschaftliche Referenten beim DJI.
Aufbau und Überblick (1. Kapitel)
„Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit“ ist in vier Teile und 18 Kapitel gegliedert.
Das erste Kapitel gibt als Hinführung einen Überblick über „Herausforderungen und Spannungsfelder der offenen Kinder- und Jugendarbeit“, also über zentrale Themen und Befunde der Untersuchung und ist den vier Teilen A bis D vorangestellt. Die Kapitel schließen jeweils mit einem Fazit, das die Befunde zusammenfasst und auch den eiligen Leser über die jeweiligen Ergebnisse informiert. Das letzte Kapitel beinhaltet eine umfangreiche Literaturliste und ein Glossar zu statistischen Begriffen.
Das erste Kapitel gibt einen Überblick über konzeptionelle Ansätze und Methoden der OKJA in bundesweit über 16.000 von Ehrenamtlichen bzw. von Fachkräften betriebenen Einrichtungen. Stichworte sind
- „Subjektorientierung“,
- „sozialpädagogische Arenen“,
- „Gelegenheitsstrukturen“,
- „geringe institutionelle Macht“,
- „Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Indienstnahme und selbst gestaltbaren Freiräumen für Kinder und Jugendliche“ (S. 14 f.).
Es folgt eine Zusammenfassung der Veränderungen des Heranwachsens. Die Autoren*innen nennen hier (S. 16 ff.):
- die „Entgrenzung der Jugendphase und Formen der partiellen Verselbständigung von Jugendlichen“, die es zunehmend schwierig macht, den Beginn und das Ende der Jugendphase altersbezogen eindeutig festzuschreiben,
- die regionale Unterschiedlichkeit der Bedingungen des Aufwachsens,
- die wachsende Anzahl von jungen Menschen mit Migrationsgeschichte,
- die wachsende Institutionalisierung und Verdichtung der Jugendphase durch den Ausbau der Betreuung im Vorschulter und die Entwicklung von Ganztagsschulen, mit einer Zunahme von Belastungen, Erwartungen und Anforderungen, die in der Jugendphase eintreten,
- die Verlagerung von gesellschaftlichen Risiken ins Private, wodurch jungen Menschen vermehrt Verantwortung für die Gestaltung ihres Lebens zugewiesen wird,
- die Verzweckung von privat zu Leistendem zugunsten primär gesellschaftlichen Zielsetzungen, wobei Kinder und Jugendliche zu einseitig als Humankapital betrachtet werden.
Offene Angebote bekommen demnach besondere Bedeutung, weil sie Jugendlichen die Chance bieten, sich selbst zu strukturieren, sich auszuprobieren, sich zu bewähren und sich als gestaltungskompetent erleben zu können. (S. 20)
Die Autoren*innen stellen fest, dass sich Jugendarbeit aufgrund dieser Veränderungen in einem Prozess der Neujustierung befindet, der durch fünf Spannungsfelder gekennzeichnet ist (S. 24ff.):
- Jugendarbeit soll einerseits für alle Kinder und Jugendlichen da sein, andererseits nehmen bestimmte Gruppen junger Menschen die Angebote überproportional wahr. Häufig werden zudem Forderungen erhoben, Angebote für spezielle Zielgruppen zu machen.
- Das Verhältnis von offenem Betrieb und Angebotsorientierung. „Wie sehr vertraut die Erwachsenengesellschaft noch auf Selbstbildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen?“(S. 25)
- Durch vielfältige Kooperationen u.a. mit Schule und Polizei ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen Eigenständigkeit und Anpassung an andere Systeme. Wie sehr beeinflusst die Jugendarbeit andere Systeme und inwiefern verändert sie sich in diesen Kooperationen selbst?
- Sollen Jugendzentren Orte ausschließlich für Kinder und Jugendliche sein oder sollen sich die Angebote auch an Erwachsene, Familien, Senioren u.a. wenden?
- Das fünfte Spannungsfeld bezieht sich auf das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Aufträgen, die an die Jugendarbeit herangetragen werden und der Ausrichtung an den Interessen der Besucher*innen.
Das erste Kapitel endet mit einer Übersicht der zentralen Befunde der vorliegenden Untersuchung (S. 28 ff.):
- Eine Vielzahl der Einrichtungen der OKJA wurde nach dem Jahr 2000 gegründet.
- Das Verständnis von „Selbstverwaltung“ ist bei den Akteuren sehr unterschiedlich.
- Die Unterstützung durch den Träger ist bei größeren Trägern tendenziell größer.
- Der Anteil der finanziellen Mittel für die OKJA an den Ausgaben für Jugendhilfe ist in den letzten beiden Jahrzehnten kontinuierlich gesunken. Viele Einrichtungen haben keine großen finanziellen Spielräume und sind auf Drittmittel angewiesen. Dies betrifft besonders Einrichtungen in Ostdeutschland.
- Die OKJA ist unterschiedlich mit hauptamtlichen pädagogischen Fachkräften ausgestattet. Viele Arbeitsverhältnisse sind befristet. Aufgrund des für sozialpädagogische Fachkräfte günstigen Arbeitsmarktes haben viele Einrichtungen Schwierigkeiten geeignetes Personal zu finden.
- Freiwilliges Engagement und Ehrenamtlichkeit ist in vielen Einrichtungen nicht sichtbar, obwohl es sich um ein besonderes Merkmal der OKJA handelt. Die Autoren stellen fest, dass die Einrichtungen aufgrund dieser Unklarheit Potenzial verschenken.
- Für die Öffnungszeiten stellt die Untersuchung Lücken am Abend und am Wochenende fest.
- Viele Einrichtungen werden auch von anderen Nutzergruppen besucht. Damit sind exklusive Freiräume für Kinder und Jugendliche, die keine Rücksichtnahme auf andere Nutzergruppen verlangen, keine Selbstverständlichkeit.
- Die Angebotsstruktur weist zahlreiche Einrichtungen auf, die keinen Offenen Bereich bieten, sondern ausschließlich strukturierte Angebote machen.
- Die Ergebnisse zur Besucherstruktur zeigen regional und örtlich große Unterschiede. Die Annahme, dass Einrichtungen der OKJA überwiegend von männlichen Jugendlichen mit Migrationsgeschichte besucht werden, trifft häufig, aber nicht durchgehend zu. Die Analysen zeigen weiterhin, dass je kleiner der Wohnort ist, desto mehr Kinder und Jugendliche die Einrichtungen der OKJA besuchen.
- Der Anspruch der Offenheit für alle Kinder und Jugendlichen wird unterschiedlich erreicht. Zugleich bestehen jedoch Zugangsbeschränkungen für einzelne Zielgruppen (u.a. Kinder) und aufgrund von Profilbildungen, die Ausdruck der gemeinsamen Herstellungsleistung von Jugendlichen und Pädagogen sind.
- Nach Auffassung der Autoren*innen wird die Beratungsfunktion in dem alltagsnahen informellen Setting der OKJA unterschätzt.
- Die OKJA versteht sich als integrativ und inklusiv. Allerdings ist ein großer Teil der Einrichtungen nicht barrierefrei und es ist offen, in welchem Maße eine reflektierte und fachlich fundierte inklusive Praxis durchgehend vorhanden ist.
- Die Partizipation der Besucher*innen ist einerseits eine konzeptionelle Grundlage der OKJA. Andererseits sind nicht alle Themen der Mitbestimmung und Mitgestaltung durch die Jugendlichen offen.
- Die Zusammenarbeit mit Schule wird als ambivalent bewertet. Einerseits werden auf diese Weise junge Menschen am Ort Schule erreicht. Andererseits kommt es hier zu einer Einschränkung der Freiwilligkeit und zu einer Senkung des Altersdurchschnitts der Besucher*innen.
Die weiteren 17 Kapitel sind den Teilen A bis D gegliedert. Jedes Kapitel endet mit einem Fazit, das die Befunde zum jeweiligen Thema zusammenfasst:
Zu Teil A: Strukturelle Bedingungen und Angebotsstruktur
Teil A beinhaltet die Kapitel 2 bis 9.
Kapitel 2 „Gründungsjahr – Beständigkeit und Wandel“ (S. 36 ff.)
Die Untersuchung der Gründungsjahre der Einrichtungen zeigt, dass in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends zahlreiche Einrichtungen, besonders im ländlichen Raum, neu entstanden, während es andernorts zu teilweise massiven Kürzungen der Jugendarbeit kam.
Kapitel 3 „Trägerschaft und Unterstützungsleistungen durch die Träger“ (S. 39 ff.)
Der größte Teil der Einrichtungen befindet sich in öffentlicher Trägerschaft, allerdings stellen die Autoren eine Zunahme von Trägerwechseln in Richtung freier Träger fest. Hierbei fällt jedoch auf, dass diesem Trend keine Zunahme der Lobbyarbeit durch die Träger im Bereich der OKJA entspricht.
Kapitel 4 „Finanzielle Ausstattung“ (S. 49 ff)
Seckinger u.a. stellen fest, dass sich die finanzielle Ausstattung „gemessen am Anteil der Ausgaben für die Kinder- und Jugendarbeit … innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe in den letzten Jahren nicht verbessert (hat)“ (S.56). Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit habe eher in den Bereichen Kindertagesbetreuung und Kinderschutz und nicht bei den Jugendlichen und der Kinder- und Jugendarbeit gelegen. Dem entspricht, dass sich die finanzielle Situation vieler Einrichtungen verschlechtert hat, so dass sie u.a. auf das Einwerben von Drittmitteln angewiesen sind. Andererseits wurde jedoch bei einzelnen Einrichtungen eine gute finanzielle Ausstattung festgestellt.
Kapitel 5 „ Personalsituation“ (S. 58 ff)
Die Autoren*innen kommen zu dem Ergebnis, dass sich, bei etwa gleichbleibender Zahl an Einrichtungen die Anzahl der pädagogischen Fachkräfte verringert habe, so dass diese Einrichtungen mit weniger Personal auskommen müssen, was Folgen für Umfang und Qualität der Angebote hat. Auch im Hinblick auf die Personalausstattung werden regionale Unterschiede hervorgehoben. Während etwa westdeutsche kreisfreie Städte vergleichsweise gut mit Personal ausgestattet sind, ist die Situation in den ostdeutschen Landkreisen besonders schwierig. Angesichts der Arbeitsmarktsituation im Bereich der Sozialen Arbeit / Sozialpädagogik stellt sich die Frage nach der Attraktivität der OKJA als Arbeitsfeld. Die öffentlichen und freien Träger, auch die Ausbildungsstätten, sind gefordert, sich stärker für diesen Arbeitsbereich einzusetzen.
Kapitel 6 „Freiwilliges Engagement“ (S. 80 ff)
Die Untersuchung des Umfangs und der Bedeutung von Freiwilligem Engagement und Ehrenamtlichkeit erwies sich als schwierig, weil in der Beantwortung zwischen den Kategorien, teilweise auch hinsichtlich Honorarkräften und Formen von Selbstorganisation, nicht eindeutig unterschieden wurde. Die Autor*innen folgern, dass die Bedeutung des Freiwilligen Engagements und ihre Würdigung in vielen Einrichtungen der OKJA nicht deutlich genug ist und größere Aufmerksamkeit verdienen würde. Darüber hinaus stellen sie fest, dass freiwilliges Engagement regional unterschiedlich ausgeprägt ist und verschiedene Gruppen Jugendlicher unterrepräsentiert sind, insbesondere Mädchen und Jugendliche mit Migrationshintergrund.
Kapitel 7 „Öffnungszeiten“ ( S. 98 ff.)
Die Einrichtungen der OKJA haben häufig an den Wochentagen geöffnet, knapp die Hälfte auch an den Wochenendtagen. Allerdings fällt auf, dass sich die Wochenend-Öffnungszeiten, an denen hauptamtliches Personal anwesend ist, deutlich verringert haben. Ebenso haben nur vergleichsweise wenige Einrichtungen in den Abendstunden nach 20 Uhr geöffnet. Die Autoren*innen nehmen hier einen Zusammenhang u.a. zur ausgeweiteten Ganztagsbetreuung, die teilweise durch die OKJA abgedeckt wird, aber auch zu den persönlichen Interessen der hauptamtlichen Fachkräfte, wahr.
Kapitel 8 „Räumlichkeiten und Nutzung durch andere“ (S.106 ff.)
Die Ergebnisse zeigen, dass Einrichtungen der OKJA räumlich unterschiedlich, abhängig vom örtlichen Kontext, geprägt sind. Bemerkenswert ist u.a., dass ca. ein Drittel der Einrichtungen auch von Erwachsenen, 10% durch Schulen oder in Kooperation mit dem Schulbereich genutzt werden. Immerhin in 8% dienen die Räumlichkeiten auch als Seniorentreff. Zu Recht weisen die Autoren*innen darauf hin, dass der Gestaltungsraum für Jugendliche durch solche zusätzlichen Nutzungen eingeschränkt wird. Es stellt sich die Frage, welche Jugendlichen sich dann noch in den Einrichtungen der OKJA angesprochen fühlen.
Kapitel 9 „Ausstattung und Angebote“ (S. 113 ff.)
Die Untersuchung zeigt eine große Bandbreite an Angeboten und Ausstattungen, so werden in einer Liste der am häufigsten genannten Schwerpunkte allein 31 Angebotsarten genannt. Es hängt dabei von der Anzahl der Personalstellen, von regionalen Faktoren und von der Finanzierung ab, welchen Charakter die Einrichtungen vor Ort haben. Dabei verweisen die Autoren*innen auf ein Kommunikationsproblem in Richtung der örtlichen Jugendpolitik: „Nicht immer ist in der Öffentlichkeit und bei den kommunalen Entscheidungsträgern bekannt, wie umfangreich und breit gefächert die Angebote der offenen Jugendarbeit sind“( S. 132). Das aufgrund der Vielfalt der Angebote mehrdeutige Profil der OKJA führt u.a. dazu, dass unterschiedlichste Ansprüche von außen an sie herangetragen werden, so dass kontinuierlich die Aufgabe besteht, das eigenständige Profil der OKJA zu klären und zu sichern (S. 133).
Die Forscher*innen haben aufgrund ihrer Ergebnisse vier unterschiedliche Angebotstypen gebildet: Typ 1 beinhaltet Angebotsformen der Jugendverbandsarbeit (24%), Typ 2 (25%) umfasst medien- und kulturpädagogische, häufig mit Veranstaltungsprofilen, Partizipation und der Begleitung von ehrenamtlichen Strukturen verbundene Angebote, Typ 3 (19%), der jugendsozialarbeitsorientierte Typ, wird gekennzeichnet durch offene Treffs, die mit Beratungsangeboten und berufsorientierenden Angeboten verbunden sind. Typ 4 (7%) fasst schulbezogene Angebote zusammen. Allerdings waren 51 % keinem Angebotstyp eindeutig zuzuordnen (S. 127). Beabsichtigt ist, durch eine Wiederholungsbefragung zum späteren Zeitpunkt Veränderungen zwischen den Angebotstypen zu identifizieren.
Als bemerkenswert haben die Autoren*innen festgestellt, dass nur 33 % (in den östlichen Bundesländern 25%) den offenen Bereich als Angebotsschwerpunkt nennen. Sie erkennen hierin eine fehlende Aufmerksamkeit im Unterschied zu den strukturierten Angeboten.
Zu Teil B „Wer geht ins Jugendzentrum?“
Teil B umfasst die Kapitel 10 bis 12.
Kapitel 10: „BesucherInnen von Jugendzentren – Befragung von Jugendlichen“ (S. 136 ff.)
Die Autoren*innen werten zur Klärung der Frage, wer Einrichtungen der OKJA nutzt, Ergebnisse der AID:A-Studie des Deutschen Jugendinstituts zum Aufwachsen und Alltag von Jugendlichen aus. Hierbei finden Kontextfaktoren wie vorhandene Alternativen, Peer-Group-Einflüsse, Image von Jugendarbeit, regionale Bedingungen im Unterschied zu individuellen Merkmalen und Merkmalen des Angebots besondere Beachtung, die im Einzelnen detailliert betrachtet werden. Hinsichtlich der Merkmale der Zielgruppe zeigt sich, dass die Nutzung der OKJA altersbezogen bis zum 16. Lebensjahr ansteigt und danach sinkt. Jungen und Jugendliche mit niedrigem Bildungsniveau nutzen besonders häufig die Angebote der OKJA. Die Annahme, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund häufiger Besucher*innen der Einrichtungen sind, wird, im Unterschied zu anderen Untersuchungen, durch die AID:A-Studie nicht unterstützt. Ferner beeinflussen die explizite oder implizite Zielgruppendefinition der Einrichtungen und ihre konkreten Angebote die Nutzung. (S. 141) Die AID:A-Studie zeigte, dass bundesweit ca. ein Fünftel der Personen aus der Altersgruppe der 13- bis 32-Jährigen angegeben hat, in den vergangenen 12 Monaten ein Jugendzentrum besucht zu haben. (S. 142) Allerdings gibt es hier deutliche regionale Unterschiede, u.a. aufgrund der Größe der Wohnorte oder alternativer Freizeitbeschäftigungen.
Kapitel 11: „BesucherInnenstruktur – Befragung von Einrichtungen“ (S.154 ff.)
In diesem Kapitel werden Ergebnisse aus der Befragung der Einrichtungen referiert. Es zeigt sich, dass die Einrichtungen ein sehr breites Altersspektrum aufweisen. Die am häufigsten vertretene Altersgruppe ist diejenige der 13-17-Jährigen (S.156), allerdings zählen in ca. zwei Dritteln der Einrichtungen auch 6- bis 9-Jährige zu den Nutzer*innen. Die Forscher*innen problematisieren die Entwicklung der offenen Jugendarbeit hin zu einer offenen Kinder- und Jugendarbeit, da die Ausrichtung auch auf Kinder zu Einschränkungen jugendtypischer Aktivitäten führen kann, so dass gefragt wird, „inwiefern die Einrichtung noch Gelegenheitsstrukturen auch ausschließlich für Jugendliche bietet.“ (S.157) Darüber hinaus wird die Annahme bestätigt, dass die OKJA hauptsächlich männliche Jugendliche erreicht, wobei der Anteil von Mädchen und jungen Frauen in den östlichen Bundeländern höher als in den westlichen ist. (S. 158)
Kapitel 12: „Wen wollen die Jugendzentren erreichen? Anspruch und Wirklichkeit“ (S. 159 ff.)
Die Autoren*innen gehen von dem für offene Jugendarbeit typischen „doppelten Auftrag“ aus, „nämlich ein freiwilliges und für alle jungen Menschen offenes und partizipatives Angebot vorzuhalten und zugleich Unterstützungsangebot bei spezifischen Problemlagen zu sein.“(S. 159) Aufgrund der im Unterschied zu anderen Leistungsbereichen der Jugendhilfe geringeren gesetzlichen Legitimierung, der vielerorts sinkenden Anzahl von jungen Menschen, der Finanzierungsprobleme vieler Kommunen und zahlreicher jugendpolitischer Problemlagen mit der Tendenz der politischen Indienstnahme der OKJA stellt sich für die Einrichtungen die Frage, was dies für die Grundprinzipien der Offenheit und der Freiwilligkeit der Teilnahme bedeutet.(S. 161) Diese verstärkte Legitimationsanforderung, betrifft besonders größere, mit bezahltem Personal ausgestattete, Einrichtungen in kreisfreien Städten, weniger kleinere tendenziell selbstorganisierte Jugendtreffs (S. 163) Ebenso gelingt es größeren Einrichtungen häufiger, ihr Angebot in einer Weise zu gestalten und zu differenzieren, dass die angestrebten Zielgruppen auch erreicht werden. Von den Jugendämtern fordern die Autoren*innen, eine fachlich fundierte Jugendhilfeplanung zu betreiben und zu klären, welche Zielgruppen erreicht werden sollen. (S. 165) Die Strategien, gezielt Besucher*innen zu gewinnen, bestehen u.a. in Öffentlichkeitsarbeit, gezielten Angeboten, der Zusammenarbeit mit Schulen und weiteren Akteuren. (S. 167). Die Offenheit ist andererseits begrenzt durch Zugangsbeschränkungen wie räumliche Lage, Dominanz bestimmter Cliquen, Altersbegrenzungen, Öffnungszeiten oder inhaltliche Ausrichtungen. Ebenso durch Maßnahmen wie Hausverbote oder das Verbot rechtsextremer Symbole. (S. 169). Je breiter die Angebotspalette der Einrichtungen ist, desto höher liegt der Anteil derjenigen, die durch Restriktionen den Zugang beschränken, was bei kleineren Einrichtungen mit homogener Besucherschaft anscheinend seltener geschieht. (S. 171)
Zu Teil C Auswahl spezifischer Anforderungen an die offene Kinder- und Jugendarbeit
Teil C umfasst Kapitel 13 – 18.
Kapitel 13 „Umgang mit Beratungsbedarfen in Jugendzentren“ ( S. 174 ff.)
Seckinger u.a. betrachten Jugendzentren als Orte, die ein großes Potential für alltags- und lebensweltnahe Beratung durch die hauptamtlichen pädagogischen Fachkräfte, aber auch für Peerberatung bieten. (S.175) Wegen des besonderen Settings der OKJA sind dabei die Grenzen zwischen Alltagsgesprächen und Beratung fließend. Die Untersuchung ergab, dass nahezu alle größeren, mit hauptamtlichem Personal ausgestatteten Einrichtungen Beratung anbieten, dagegen nur 42% der Einrichtungen ohne hauptamtliches Personal. Allerdings haben diese Angaben, wegen der Unschärfe des Beratungsbegriffs sowie der schwierigen Abgrenzung zu Alltagsgesprächen einerseits und Informationsveranstaltungen andererseits nur begrenzte Aussagekraft. Die Themen, zu denen von den Jugendlichen Beratung gesucht wird, umfassen die gesamte Lebenswelt junger Menschen, u.a. werden Konflikte, Beziehungen, Freundschaften, Gewalt, Übergang Schule/Beruf genannt. (S. 179 f.) Über dreiviertel der befragten Jugendzentren stimmen der Aussage zu: „Wir scheinen oft die einzigen Erwachsenen zu sein, an die sich Jugendliche mit ihren Problemen wenden.“ (S. 182) Für die Fachkräfte ergibt sich die Notwendigkeit zu entscheiden, welchen Beratungsbedarf sie selbst decken können und wo sie an andere Institutionen vermitteln oder externe Berater*innen einladen sollten. (S. 185 f.) Offen, weil nicht erfragt, bleibt, inwieweit die hauptamtlichen Beschäftigten über methodische Beratungsqualifikationen verfügen. Die Autoren*innen resümieren, dass „in der (Fach-)Öffentlichkeit bislang viel zu wenig dargestellt (wird), dass Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit in größerem Umfang Beratungsleistungen erbringen (…).“ (S. 189)
Kapitel 14 „Junge Menschen mit Migrationshintergrund in Jugendzentren“ (S. 191 ff.)
Die Annahme, dass Einrichtungen der OKJA besonders häufig von jungen Menschen mit Migrationshintergrund besucht werden, wird von den Autoren*innen aufgrund ihrer Forschungsergebnisse differenziert, wobei sie zu Beginn des Kapitels zu Recht auf die Unschärfe des Begriffes und das Risiko der Stigmatisierung von Jugendlichengruppen hinweisen, ebenso wie im nachfolgenden Text auf die Heterogenität der Besucher*innen mit Migrationshintergrund. Sie gehen vielmehr davon aus, „dass eine konzeptionelle Auseinandersetzung mit solchen Fragen zu migrationssensiblem Handeln beiträgt.“ (S. 192) Insgesamt ist die pädagogisch-konzeptionelle Auseinandersetzung hauptsächlich in Städten ausgeprägt, die einen hohen Anteil von Besucher*innen mit Migrationshintergrund aufweisen. In Landkreisen und in Ostdeutschland sowie in Einrichtungen, die keine Konzepte hinsichtlich der eigenen Klientel haben, findet diese Auseinandersetzung seltener statt. (S. 193) Die Konzeptionen zielen weitgehend darauf ab, offene Jugendarbeit als Ort der Begegnung zwischen Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus zu gestalten, wobei „Kultur“ den bestimmenden Referenzrahmen abgibt im Unterschied zu Nationalität, Sprache u.a. (S. 196). Spezielle Angebote für Besucher*innen mit Migrationshintergrund sind dagegen die Ausnahme.
Kapitel 15 „Offen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung – aber nicht inklusiv“ (S. 209 ff.)
Seckinger u.a. stellen fest: „Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, die Möglichkeiten zu Peergruppen zugehörig zu sein, die Verselbständigung vom Elternhaus kann durch eine gezielte Öffnung der Jugendzentren für Jugendliche mit Beeinträchtigungen gefördert werden. Allerdings gibt es kaum eine fachliche Auseinandersetzung darüber, auf welche Art und Weise es in der offenen Jugendarbeit gelingen kann, die Inklusionsaufgabe zu bewältigen.“ (S.210) 58 % der Jugendzentren werden auch von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen besucht, wobei es einen deutlichen Zusammenhang zum Vorhandensein von finanziertem Personal gibt. Die zahlenmäßig größte Gruppe an Kindern und Jugendlichen mit einer Beeinträchtigung sind junge Menschen mit einer Lernbeeinträchtigung. (S. 213) Grundsätzlich sehen fast alle befragten Jugendzentren es als einfach oder mit Schwierigkeiten als machbar an, mit beeinträchtigten Jugendlichen inklusiv zu arbeiten. Grenzen gibt es insbesondere durch fehlende bauliche Voraussetzungen, wenn Einrichtungen nicht barrierefrei sind. Dabei erhöht bauliche Barrierefreiheit über verschiedene Behinderungsformen hinweg die Wahrscheinlichkeit für eine verstärkte Nutzung durch Besucher*innen mit einer Beeinträchtigung, da hierdurch ein Signal gegeben wird, dass junge Menschen mit Beeinträchtigungen willkommen sind. (S. 219) Insgesamt zeigt sich, dass inklusive Arbeit in Jugendzentren nur selten konzeptionell fundiert und mit entsprechend qualifiziertem Personal ausgestattet ist.
Kapitel 16 „Partizipation im Jugendzentrum – Selbstverständlich und doch häufig nur eine Spielwiese“ (S. 229 ff.)
Zum Selbstverständnis der OKJA gehört, Kindern und Jugendlichen besonders gute Beteiligungsmöglichkeiten, Orte der Demokratiebildung, zu bieten. Wenn Angebote nicht die Interessen und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen treffen, so dass ein „Mindestmaß an Partizipation“ (S. 229) unumgänglich ist, werden Einrichtungen nicht besucht. Die Umfrage zeigt, dass in den Einrichtungen zahlreiche Möglichkeiten bestehen, Kritik und Veränderungswünsche zu äußern, insbesondere Gespräche mit den Hauptamtlichen, Umfragen und Vollversammlungen. (S. 232). Davon, wie offensiv sich Hauptamtliche für Gespräche anbieten und zur Beteiligung ermuntern, hängt wesentlich ab, wie Beteiligung stattfindet und wie sie umgesetzt wird. Die Möglichkeiten zur Mitwirkung hängen jedoch auch von der jeweiligen Thematik ab. So ist die Mitbestimmung über Programm, Raumgestaltung und Anschaffungen häufig gegeben, seltener bei der Entscheidung über Öffnungszeiten und Hausverbote, fast nie bei Entscheidung über die Einstellung neuer Mitarbeiter*innen. Je mehr institutionelle Rahmenbedingungen, über die von der Einrichtung kaum entschieden werden kann, berührt sind, desto seltener findet Beteiligung statt. In ihrem Fazit heben die Autoren*innen hervor, dass die Fachkräfte eine Balance halten müssen, einerseits Freiräume zu schaffen, andererseits selbst Ideengeber zu sein und Anregungen zu bieten. (S. 243)
Kapitel 17 „Offene Kinder- und Jugendarbeit und ihre Bezüge zur Nachmittagsbetreuung von Schulkindern“ (S. 244)
Die Autoren*innen stellen fest, dass sich trotz unterschiedlicher pädagogischer Handlungsprinzipien von Jugendarbeit und Schule in den vergangenen Jahren eine Vielfalt an Modellen der Zusammenarbeit entwickelt hat. Dabei gilt das Interesse besonders der Frage, wie intensiv die Einrichtungen der OKJA in die offene Ganztagsbetreuung involviert sind. Im bundesweiten Vergleich kooperieren in Schleswig-Holstein und Berlin ca. die Hälfe aller Jugendzentren bei der Nachmittagsbetreuung, im Saarland und Sachsen-Anhalt sind es jedes fünfte oder sechste. Hinsichtlich der Entwicklung der Angebote zeigen die Ergebnisse, dass Hausaufgabenbetreuung, Nachhilfe, Sprachförderung und Mittagessen besonders häufig genannt werden. Zu Recht stellt die Studie fest, dass Jugendzentren, besonders in Städten, häufig unmittelbare Unterstützung schulischer Bildung leisten und die für Jugendarbeit typische Freiwilligkeit aufgrund der Anwesenheitspflicht nicht mehr gegeben ist. Seckinger u.a. ziehen ein ambivalentes Fazit. Einerseits wird die Zusammenarbeit mit Schulen für die Jugendlichen und die Jugendarbeit als Chance für die Ansprache von Besucher*innen und für die Entwicklung lebensweltlicher Ansätze im schulischen Raum gewürdigt, andererseits bleibt zu fragen, „wie sich die Besucherschaft verändert und welche Jugendlichen z.B. nicht mehr in die Einrichtung kommen.“ (S. 259)
Kapitel 18 „Methodisches Vorgehen“
In diesem Kapitel geben die Autoren*innen Auskunft über methodische Grundlagen, die Auswahl an Themen und den Verlauf ihrer Untersuchung. Bei einer Rücklaufquote von 41% und nach Abgleich mit den Statistiken wird im Wesentlichen von einer Repräsentativität ausgegangen.
Die Untersuchung schließt mit einer Literaturliste und einem Glossar.
Diskussion
Die offene Kinder- und Jugendarbeit befindet sich in einer merkwürdigen Situation. Einerseits gewinnen ihre pädagogischen Handlungsprinzipien infolge der Bildungsdiskussion der letzten Jahre, der zunehmenden Bedeutung der Beteiligung von jungen Menschen und der Herausforderungen an Integration und Inklusion an Bedeutung. Im Rahmen der Ganztagsbetreuung und im Gewand der Schulsozialarbeit und der schulbezogenen Jugendsozialarbeit finden offene Gestaltungs-, Lern- und Bildungsangebote Eingang in die Schule, ohne dass der konzeptionelle Kern der Jugendarbeit, gekennzeichnet durch Freiwilligkeit der Teilnahme, Eigenverantwortlichkeit und Orientierung an den Interessen der Kinder und Jugendlichen in gleicher Weise zur Geltung käme. Dem entspricht die geringe fachliche und politische Aufmerksamkeit, die der Jugendarbeit, hier der OKJA, zu Teil werden. Seckinger u.a. wirken dieser öffentlichen Unsichtbarkeit entgegen, indem sie mit ihrer Untersuchung ein differenziertes Bild der konzeptionellen Grundlagen, der Rahmenbedingungen und der Wirksamkeit der OKJA geben. Dabei sprechen sie ebenfalls zahlreiche Themen an, die sich an die Akteure des Arbeitsfeldes selbst wenden. Sie fordern u.a. eine größere Beachtung der Möglichkeiten von Ehrenamt und freiwilligem Engagement, eine Klärung der konkreten Anforderungen durch Inklusion, die Überprüfung von Öffnungszeiten und Zielgruppendefinitionen und eine stärkere öffentliche Präsenz, die das eigenständige konzeptionelle Profil der OKJA vermittelt. Hinsichtlich der inhaltlichen Gewichtung fordern sie eine höhere Aufmerksamkeit für den offenen Bereich in Jugendzentren im Verhältnis zu strukturierten Angeboten, u.a. um alltags- und lebensweltnahe Beratung durch die pädagogischen Fachkräfte auszubauen. So berechtigt es ist, auf diese Chancen hinzuweisen, sollte andererseits klar sein, dass OKJA hier in der Regel eine Brückenfunktion zu professionellen Beratungseinrichtungen hat.
Fazit
„Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit“ von Seckinger, Pluto, Peucker und van Santen ist die seit langem erste umfassende Untersuchung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Deutschland. Die Autoren*innen leisten damit einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Wahrnehmung dieses Aufgabenbereiches der Jugendhilfe. Die differenzierten Ergebnisse zu Umfang, Strukturen, Rahmenbedingungen, Angeboten und Methoden sowie zu konzeptionellen Herausforderungen wird die fachliche und die jugendpolitische Diskussion über OKJA anregen. Besonders hervorzuheben ist die besonders gute Les- und Nutzbarkeit des Buches, das u.a. am Ende eines jeden Kapitels eine Zusammenfassung der Ergebnisse bietet. Das erste Kapitel gibt eine gelungene Zusammenfassung der aktuellen Veränderungen der Jugendphase, der Anforderungen an die Jugendarbeit und der zentralen Ergebnisse der vorliegenden Studie.
Rezension von
Wolfgang Witte
Pädagoge M.A., Supervisor und Coach (DGSv/SG)
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Wolfgang Witte. Rezension vom 14.03.2016 zu:
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(Weinheim und Basel) 2015.
ISBN 978-3-7799-3381-6.
Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfeforschung .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19916.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
Urheberrecht
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