Eva-Maria Euchner: Prostitutionspolitik in Deutschland
Rezensiert von Prof. Dr. Richard Utz, 12.08.2016

Eva-Maria Euchner: Prostitutionspolitik in Deutschland. Entwicklung im Kontext europäischer Trends. Springer VS (Wiesbaden) 2015. 38 Seiten. ISBN 978-3-658-09746-2. D: 9,99 EUR, A: 10,27 EUR, CH: 11,00 sFr.
Entstehungshintergrund
Der Springer VS Verlag hat jüngst eine neue Text-Reihe unter dem Titel „essentials“ auf den Buchmarkt geworfen. Damit annonciert der Verlag ein Format, das sich ganz dem ökonomisch-rationalistischen Zeitgeist andient und Wissen als Information im fast-book präsentiert. Leicht und mühelos soll den Lesern komprimierte Sachinformation in großhirngerechten Portionen vorgesetzt werden und das anspruchsvolle Ideal abendländischer Bildung als Aneignung von Wissen und Selbstentwicklung durch Wissenschaft zum McDonaldisierten Bildungskonsum verbilligen. Aus mühe- und lustvoller Aneignung von Wissen wird ein mühe- und lustloses Reinziehen von Information, und die beabsichtigte Wirkung der „essentials“, vulgo fast-books, ist auch so gedacht wie die eines Big Mac: Schnelle Sättigung des Informationshungers durch beschleunigte Konsumierbarkeit der Informationen. Ausgesprochenes Ziel dieser Art „essentials“ ist es, die Leseresser instand zu setzen, auf der Höhe der fachlichen Diskussion schnell mitreden zu können, ohne dass Vorwissen erforderlich ist und ohne dass jemand merken soll, dass es sich um fast-book-Information handelt, leserseits um Eindruck zu schinden und unternehmerseits um Profit zu machen. Geschmack am Wert nachhaltiger Bildung dürfte vom fast-book-Konsum so wenig im Bedürfnis zurück bleiben als wie vom fast-food-Konsum zu viel an Zucker, Fett und Eiweiß im Körper.
Autorin
Aber sehen wir zu, was die Autorin, Dr. Eva-Maria Euchner, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilian-Universität München, ihres Zeichens Politikwissenschaftlerin aus ihrer vom Verlag vorgegebenen Form der „essentials“ tatsächlich macht. Denn: Wenn auch der Schlauch ein dünner und enger ist, muss doch die Qualität des Weines nicht schlecht sein, den die Autorin zu Beginn ihrer wissenschaftlichen Karriere dem Verlag zum Füllen geliefert hat.
Thema
Das Büchlein von Frau Dr. Euchner ist im Wesentlichen die um die aktuelle Debatte in der CDU/CSU-SPD-Koalition ergänzte Version eines 2015 erschienenen Sammelbandes zum Thema „Moralpolitik in Deutschland“, den der Münchner Politikwissenschaftler Christoph Knill verantwortet und heraus gegeben hat.
Unter „Moralpolitik“ wird gewöhnlich eine Seite der spannungsreichen Wechselwirkungsbeziehung zwischen Realpolitik á la Machiavelli und Moralpolitik á la Rousseau verstanden, in der Realpolitik sich von jeglicher Moral losmacht und auf diese Weise skrupellose Machtpolitik betreibt oder Moralpolitik die Realpolitik an ethische Maximen bindet und dadurch den Gebrauch von Macht in der Zielerreichung ineffektiv macht. Im Zentrum der „Prostitutionspolitiken“ steht nun nicht die moralische Beurteilung politischen Handelns in Bezug auf das Feld der Prostitution, sondern vielmehr die Frage, welche moralischen Stellungnahmen zur Prostitution mit welchem parteipolitischen Orientierungen wahlverwandt sind, die sich für je bestimmte gesetzliche Formen der Prostitutionsregulierungen einsetzen und diese sodann im parlamentarischen Prozess durchsetzen. Diese Fragestellung verfolgt Fr. Euchner einmal in einem Überblick für Europa, zum anderen für die Bundesrepublik Deutschland im einzelnen.
Aufbau
Entsprechend dieser Fragestellung gibt das Büchlein
- eine „Übersicht über die Geschichte der Prostitutionsregulierung in Europa von 1960 bis 2010“,
- sodann stellt es die „wichtigsten Reformschritte“ von 1960 bis 2014 dar und bietet einen „Einblick in die aktuelle Debatte in der 18ten Legislaturperiode“.
- Es folgt eine „Einführung in die verschiedenen gesetzlichen Regime der Prostitutionsregulierung“ und
- eine „Ursachenanalyse der deutschen Regulierungstheorie“ sowie
- eine „Systematisierung der vielfältigen Wertkonflikte, welche das Thema Prostitution hervorruft“. (S.V)
Inhalt
Tatsächlich startet die Autorin aber mit einer „groben“ (S.5) Unterscheidung derjenigen „normativen Traditionen“, die nach Htun im Hinblick auf die Prostitutionsregulierung in der Bundesrepublik relevant seien, unversöhnliche Stellungnahmen zur Prostitution formulierten und in der politischen Arena durch ihre jeweiligen Repräsentanten miteinander in Konflikte eintreten: „…die christliche Tradition, die liberale Tradition sowie die feministische Tradition.“(ebd.)
Für das katholische Christentum steht eine Position, die den „Verkauf des menschlichen Körpers für sexuelle Handlungen und die daraus resultierende Gewinnerwirtschaftung durch Dritte (…) als moralisch verwerflich betrachtet“(6), eine Position die durch die protestantische Kirche im Wesentlichen geteilt wird. Der Liberalismus dagegen verteidige Prostitution im Namen individueller Freiheitsrechte und verbiete sich die Einmischung von Staat und Religion. Und bezüglich des Feminismus unterscheidet die Autorin einen sozialistischen von einem liberalen und einem radikalen Flügel. Während letzterer Prostitution in welcher Form auch immer prinzipiell ablehnt, erkennen die Sozialistinnen und Liberalen der politischen Frauenbewegung die Prostitution als solche an und fordern rechtliche Anerkennung von „Prostitution als Beruf“ (8).
Der Überblick über die „Prostitutionsregime in Europa“ (S. 9-12), die sich im Zuge des nation buildings in Europa entwickelt haben, ist in einer anschaulichen Grafik präsentiert.
Deren y-Achse listet vier Prostitutionsregime auf, die hier stichwortartig wiedergegeben seien und folgenermaßen lauten:
- Erlaubnis mit Anerkennung: Prostitution ist gesetzlich erlaubt und geschützt;
- Erlaubnis ohne Anerkennung: Prostitution ist gesetzlich geduldet, aber z.B. hinsichtlich der Orte und hinsichtlich der Einklagbarkeit von Entgelten für sexuelle Dienste diskriminiert;
- abolitionistische Regime: Prostitution wird zwar geduldet, aber die Freier werden strafrechtlich verfolgt;
- und prohibitive Regime: Prostitution wird rundweg verboten und strafrechtlich verfolgt, und zwar sowohl Prostituierte als auch Zuhälter wie Bordellbetreiber und alle im käuflichen Geschäft mit „Sex“-Aktiven wie bis in die Siebziger Jahre Spanien und bis in die achtziger Portugal, allerdings mit der für ein solches Regime charakteristischen Doppelmoral bis hinauf in die Spitzen der „Guten Gesellschaft“ wie das die Regisseure Saura und Aldomovar filmisch zeigten.
Die x-Achse der Grafik ist in Dekaden von 1960 bis 2010 unterteilt so dass die mittel-, süd- und nordeuropäischen Länder jeweils bestimmten Prostitutionsregimen zeitlich zugeordnet werden können. Demnach fahren die BRD, Niederlande, Griechenland, Schweiz und Österreich aktuell das Prostitutionsregime „Erlaubnis mit Anerkennung“, Portugal, Frankreich, Spanien, Dänemark und Belgien das der „Erlaubnis ohne Anerkennung“, Schweden, Norwegen, Italien, Irland, Großbritannien und Finnland ein abolitionistisches Regime, während prohibitive Regime im kerneuropäischen Raum die Prostitutionspolitik nicht mehr steuern.
Die interessantesten Abschnitte des Buches widmen sich dem historischen Zusammenhang zwischen „Hurenbewegung“, vertreten etwa durch die Berliner Fraktion Hydra e.V., Parteipolitik und dem Inkrafttreten des novellierten Prostitutionsgesetzes 2002, das Deutschland neben den Niederlanden an die Spitze einer liberalen Prostitutionspolitik beförderten. Die Initiativen und Einflussnahmen von „Hydra“ hatten vor allem bei den „Grünen“ und der „SPD“ schließlich Erfolg, die gegen die Stimmen von „CDU/CSU“ die Forderungen nach Abschaffung der Sittenwidrigkeit, die auf Straflosigkeit bei freiwilliger Prostitutionsausübung und die auf das Recht durchsetzten, sich durch Einzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen gegen die Wechselfälle des Lebens abzusichern. Dabei wird der enge Zusammenhang sichtbar zwischen öffentlicher Diskussion über Prostitution, Responsivitätsbereitschaft politischer Parteien und der veränderten AnbieterInnen-Struktur auf dem europäischen „Sex-Arbeitsmarkt“ im Zuge der Osterweiterung der EU.
Die abolitionistische Kritik des Feminismus findet mit ihrer deutschen Stimme Alice Schwarzer wieder mehr Gehör als prominente „Huren“-Aktivistinnen, die aus den TV-Talk-Shows verschwunden sind, was das liberale Klima gegenüber Prostitution schwächt. Als politisch responsiv erweisen sich heute „Die Grünen“, während sich die „SPD“-Bundesfamilienministerin Schwesig vor allem für mehr staatliche Kontrolle z.B. der Bordellbetriebe engagiert. Mit der EU-Osterweiterung drängen indessen vermehrt Frauen und Männer aus den osteuropäischen EU-Ländern auf den deutschen „Sex“-Markt, was die Preise für sexuelle Dienstleistungen stark verbilligt und die hiesigen SexarbeiterInnen stark unter Druck setzt, was zu den üblichen Ressentimentgefühlen führt, der Stoff, aus dem sich mittlerweile auch in Deutschland wieder populistisch Kapital schlagen lässt. In diesem Kontext ist auch die Rechtssprechung des EuGH weichenstellend, der dekretiert, dass „die selbständig ausgeübte Prostitution eine gegen Entgelt erbrachte Dienstleistung im Sinne einer Erwerbstätigkeit ist“(26) und diese Auffassung europaweite Geltung hat.
Summa Euchner: In Deutschland herrscht immer noch das liberale Prostitutionsregime „Erlaubnis mit Anerkennung“, aber Tendenz zunehmend einschränkender als etwa noch 15 Jahre zuvor.
Diskussion und Fazit
Der eingangs erwähnte Rousseau meinte, dass, wer Moral und Politik trenne, weder von der einen noch von der anderen etwas verstanden habe. Der Satz macht Sinn, wenn beide, Moral und Politik, in ihrem Wechselwirkungsbezug gesehen werden. Wenn ein Kernelement von „Moral“ in der Fähigkeit zur Übernahme der Perspektive von Alter Ego besteht, dann macht „Politik“ als Erwerb, Aufrechterhaltung und Ausbau von Macht sichtbar, dass Perspektivenübernahme von differenten Hintergrundmoralen abhängen kann, die auch diejenigen sind, mittels der Politik ihrem Machtstreben Legitimität unterbaut.
Die Hintergrundmoral des Christentums, des Liberalismus oder des Feminismus selektiert, in welche Perspektive, also in welche Menschengruppenperspektive sich politische Parteien, Bewegungen oder Akteure überhaupt eindenken und -fühlen wollen und deren Interessen mehr oder weniger identisch, mehr oder weniger unverbogen in die politischen Arenen hineintragen, um sie dort mittels Macht und im Kampf mit ihren Kontrahenten und ihren Gegenstandpunkten durchzusetzen – immer mit Blick auf ihre Wählergruppen und deren Stimmen.
„Die“ Prostitution aber ist ein weites Feld, das sehr unterschiedliche Gruppen und Fraktionen umfasst, die sich hinsichtlich ihrer Interessenlagen und ihrer Artikuliertheit stark unterscheiden. So sind „Call Girls“, „Escort Ladys“ und „Sexdienstleisterinnen“ politisch artikulationsfähig und besonders an einem freien Markt interessiert, auf dem sie ihrem „Beruf“ in Luxusabsteigen und eigenen Appartements ungestört nachgehen und ihre spezialisierten Sextechniken zahlungsfähigen Kunden anbieten wollen. Deren Artikulationsfähigkeit und Interessenlagen treffen bei Liberalen verschiedener politischer Couleur auf Resonanz, während die „Durchschnittsprostitution“ der „abhängig“ beschäftigten Prostituierten kaum ein Gemeinsamkeitsbewusstsein und noch weniger eine Handlungsfähigkeit als Kollektiv entwickeln und artikulieren und deshalb für ihre Perspektive auch keinen politischen Akteur finden dürften, der sie angemessen verstehen und angemessen in der politischen Arena vertreten könnte. Denn anders sind die gravierenden Umsetzungsmängel des 2002er Prostitutionsgesetzes m.E. nicht zu erklären. Und noch schlechter ist die Lage der zur Prostitution gezwungenen und in Schuldsklaverei gehaltenen Frauen, die überhaupt nicht artikulationsfähig sind, kein gemeinsames Bewusstsein ihrer Situation haben und deren Perspektive nahezu unbekannt und deshalb von Politikern jeglicher Couleur moralisch instrumentalisiert werden kann. Ihre Konflikte sind existentiell und wie Schwarze Märkte wirtschaftspolitischen Lösungen nicht einfach zugänglich, da Schlepper und organisierte Kriminalität, einschlägig bekannte Rockerbanden und ethnisch geschlossene Zuhältercliquen die Perspektivenartikulation der betroffenen Frauen massiv unterdrücken. Eine Problemlage, die nur mit Polizeigewalt zu bekämpfen ist.
Dies alles thematisieren die „essentials“ nicht, dafür bieten sie zu wenig Raum, für politische Moral ist im fast-book des Springer VS Verlages kein Platz. Aber hat auch die Autorin dieses „essentials“, mit Rousseau gesprochen, nichts von Politik verstanden, weil sie unausgesprochen lässt, auf Grundlage welcher Hintergrundmoral sie ihre Unterscheidungen trifft und zu ihren Beurteilungen kommt? Nein! Denn im „Subtext“, also zwischen den Zeilen dieses Komprimiendum lässt sich die moralische Urteilsfähigkeit der Autorin bezüglich der jeweiligen Prostitutionspolitik leicht erkennen, so meine ich. Und überdies ist auch unverkennbar, dass die Autorin sicherlich zu weit mehr begabt ist, als es der enge Schlauch der „essentials“ ihr den Lesern zu zeigen erlaubt, das belegen ihre Artikel zur selben Thematik. Diese seien den Lesern hiermit uneingeschränkt empfohlen, dieses „essential“ hingegen sei es nicht!
Rezension von
Prof. Dr. Richard Utz
Hochschule Mannheim, Fakultät für Sozialwesen
Website
Mailformular
Es gibt 34 Rezensionen von Richard Utz.