Markus Porsche-Ludwig (Hrsg.): Sozialpolitik in Entwicklungsländern
Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Helmert, 14.01.2016
Markus Porsche-Ludwig (Hrsg.): Sozialpolitik in Entwicklungsländern. Asien, Afrika, Lateinamerika ; ein Handbuch. Lit Verlag (Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2013. 427 Seiten. ISBN 978-3-643-11772-4.
Thema
Immer noch ist staatliche Sozialpolitik in den meisten Entwicklungsländern wenig ausgeprägt. In Zentralafrika zum Beispiel ist dies in vielen Fällen durch eine fragile Staatlichkeit begründet, aber auch dadurch, dass die traditionalen Großfamilien die Aufgaben der Sozialpolitik übernehmen. Mit der Stabilisierung der politischen Lage in den afrikanischen Staaten wird jedoch auch das Politikfeld Sozialpolitik gestärkt. In dem Sammelband werden die vielfältigen staatlichen und internationalen Interventionen in insgesamt 76 verschiedenen Entwicklungsländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas historisch und aktuell geschildert und analysiert. Staatliche und familiale Unterstützungssysteme haben mittlerweile in Afrika erreicht, dass dort der Hunger abnimmt. In den meisten Fällen ist er nicht mehr bedingt durch Produktionsmängel sondern „nur“ noch durch Kriege.
Herausgeber
- Markus Porsche-Ludwig ist Professor für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht an der Nationalen Dong Hwa Universität in Hualien, Taiwan
- Wolfgang Gieler ist Professor für Intercultural and International Studies an der Universität Istanbul
- Jürgen Bellers ist Professor für Internationale Politik an der Universität Siegen
Aufbau
In dem Handbuch wird für 76 Entwicklungsländer, von Ägypten bis Zimbabwe, eine kurze Darstellung der historischen und aktuellen sozialpolitischen Situation von jeweils 2-10 Seiten präsentiert.
Die Länder im Einzelnen: Ägypten, Algerien, Andenstaaten (Peru, Bolivien, Ekuador), Angola, Antigua und Barbuda, Argentinien, Bangladesch, Barbados, Bhutan, Botswana, Brasilien, China, Demokratische Republik Kongo, Dschibuti, El Salvador, Gabun, Gambia, Guyana, Honduras,Indien, Indonesien, Iran, Jamaika, Jemen, Kambodscha, Kamerun, Kap Verde, Kasachstan, Kirgistan, Kolumbien, Komoren, Kuba, Laos, Libanon, Madagaskar, Malaysia, Malediven, Mali, Marokko, Mauretanien, Mexiko, Mongolei, Mosambik, Myanmar, Nepal, Nigeria, Oman, Osttimor, Pakistan, Panama, Paraguay, Philippinen, Qatar, Sambia,Sao Tomé und Principe, Sierra Leone, Somalia, Sri Lanka, Südafrika, Republik Sudan und Republik Süd-Sudan, Suriname, Swasiland, Syrien, Tansania, Thailand, Tibet, Trinidad und Tobago, Tschad, Tunesien, Turkmenistan, Uganda, Uruguay, Venezuela, Vietnam und Zimbabwe.
Exemplarisch werden im Folgenden die Kapitel zu einem lateinamerikanischen Land (Brasilien), einem nordafrikanischen Land (Marokko), einem afrikanischen Land aus der Sub-Sahara-Zone (Angola) und einem asiatischen Land (Bangladesch) kurz wiedergegeben.
Zu Brasilien
(Rüdiger Zoller)
Die neue demokratische Verfassung von 1988 brachte für die Bürger Brasiliens nicht nur Fortschritte auf den Gebieten der bürgerlichen Freiheiten, sondern auch auf den Gebieten des Rechts- und Sozialstaats. Das progressive Konzept und die „nominalistische Verfassungssemantik“ zeigten in der Praxis kleine Verbesserungen (z.B. Verkürzung der gesetzlichen Arbeitszeit), doch der machtpolitische Status quo blieb letztlich unangetastet (keine Landreform). Traditionell haben nicht die geschriebenen, förmlichen Verfassungen die Verfassungswirklichkeit Brasiliens bestimmt, sondern regelmäßige sogenannte Parallel-Verfassungen, also ungeschriebene Verfassungen der realen Machtausübung. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse waren inzwischen ungleicher denn je: 2009 hatten die untersten 10% der Bevölkerung einen Einkommensanteil von 1,1%, die obersten 10% von 43,1%. Dennoch haben die Transferleistungen des Staates in den letzten Jahren die soziale Ungleichheit leicht abgemildert. Im internationalen Vergleich bleiben die Einkommens- und Vermögensverhältnisse in Brasilien dennoch ein Extrembeispiel für Ungleichheit.
Zentrales Instrument der Sozialpolitik unter den von der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) gestellten Präsidenten Lula da Silva (2003-2010) und Dilma Rousseff (seit 2011) sind soziale Transfers, die schon unter der Präsidentschaft von Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) begann. Die Regierung von Lula da Silva startete 2003 zunächst mit einem Ernährungsprogramm (Fome Zero, Null Hunger). Inzwischen erhalten mit dem Sozialhilfeprogramm Bolsa Familia ca. 13 Millionen Familien mit über 50 Millionen Personen, einem Viertel der Bevölkerung, regelmäßige Zahlungen, meist über die Mütter als Familienoberhaupt. Diese Transfers erfolgen in Verbindung mit Verpflichtungen zur Bildung der Kinder (Schulbesuch) und zur Gesundheitsvorsorge (Impfungen, Zahnpflege). Dadurch haben diese Familien erstmals eine gesicherte, wenn auch geringe Kaufkraft und den Zugang zur Geldwirtschaft (eigenes Bankkonto). Der Umfang dieser Transferleistungen verändert aber letztlich die Vermögensverhältnisse in Brasilien nicht. Im Jahr 2006 entsprachen die Sozialtransfers gerade einmal 0,4% des Bruttoinlandsproduktes.
Zu Marokko
(Bruno Munoz-Pérez)
In Marokko zeigt sich seit der Unabhängigkeit eine große Dominanz des Staates in Bereich der Sozialen Sicherung, der als einzig wirklich bedeutender Akteur auftritt. Kommerzielle Versicherungen, NGOs und Selbsthilfegruppen nehmen nur eine untergeordnete Stellung ein.
Seit 1999 werden unter König Mohammed VI. deren Aktivitäten aber stärker unterstützt und in den Prozess des Weiterausbaus der sozialen Sicherung besser einbezogen. Die heutige Sozialpolitik Marokkos beruht auf historischen Entwicklungen und darauf, dass die Sozialpolitik nicht nur von den finanziellen Ressourcen Marokkos abhängt, sondern vor allem von den Machtstrukturen seines politischen Systems geprägt wird. Während die Indikatoren des wirtschaftlichen Wachstums – durch die seit 1999 vornehmlich durch König Mohammed VI. initiierte liberale Wirtschaftspolitik – in den letzten Jahren positive Kennzahlen für Marokko anzeigen, zeichnet sich aus sozialer Sicht weiterhin das Bild einer prekären Situation für die Mehrzahl der Bevölkerung ab. Um dem entgegenzuwirken, setzen die marokkanischen Behörden gegenwärtig weiter auf verschiedene Programme der von Mohammed VI. initiierten „Nationalen Initiative für menschliche Entwicklung“, INDH. Der Plan soll über weitere fünf Jahre hinweg gezielt Armut und soziale Ausgrenzung in den ärmsten ländlichen Gebieten und den städtischen Armutsvierteln bekämpfen. Auch internationale Geldgeber wie die EU, die Weltbank, Deutschland und Frankreich unterstützen das Programm, das auch vom „Millenium Challenge Account“ gefördert wird. Die vor allem seit dem Machtwechsel unter Mohammed VI. Initiierten, sehr modernen und vom Parlament verabschiedeten Gesetze der sozialpolitischen Reformen beanspruchen aber auch einen quantitativen und qualitativen Ausbau der ausführenden Institutionen und einen entsprechenden modernen Geist der vorherrschenden konservativen Mentalitäten der Dienstleister sowie einer zwischen „Tradition“ und „Moderne“ stehenden Gesellschaft.
Arbeitslosigkeit: In den Städten lag die Arbeitslosenrate bei jungen Menschen bis 25 Jahren 2005 bei 33% gegenüber einer allgemeinen städtischen Arbeitslosenrate von von 18%. Landesweit wird die Arbeitslosenrate junger Menschen auf 50 bis 60% geschätzt. Weiterhin bleiben arbeitslosen Menschen meist nur die informellen Netzwerke, Subsistenzwirtschaft und schlecht bezahlte Gelegenheitsjobs, statt Eingliederung in ein staatliches soziales Sicherungsnetz. Längerfristig gesehen besteht für Marokko die drängende Herausforderung des „Youth Bulge“: Während die demografische Entwicklung in Europa durch einen kleinen Anteil an jungen Menschen und einen großen Anteil an alten Menschen die Bevölkerungspyramide auf den Kopf stellt, entsteht durch die demografische Entwicklung in Marokko eine ganz andere Herausforderung. Durch einen starken andrang junger Menschen wächst der Druck auf den schon überlasteten Arbeitsmarkt enorm. Um mittelfristig die zunehmende Anzahl von Arbeitssuchenden in den Arbeitsmarkt integrieren zu können, müsste nach neueren Schätzungen ein kontinuierliche Wachstum von vor 6 bis 7% erreicht werden.
Gesundheit: Trotz großer Fortschritte im Gesundheitssektor durch Reformen im Gesundheitswesen und dem Ausbau von Krankenhäusern lösen Marokkos Schlüsselindikatoren zur gesundheitlichen Lage nach nationalen und internationalen Berichten weiterhin große Besorgnis aus. So liegt beispielsweise die Kindersterblichkeit bei einer Rate von 40/1000 Geburten und die Sterberate von Müttern bei der Geburt bei 227/100000 Geburten – vornehmlich bei den sozial Schwachen.Der Großteil der Bevölkerung hat nur Zugang zu dem staatlichen Gesundheitsdienst mit langen Wartezeiten, einer schlechten Ausstattung, unzureichenden hygienischen Zuständen und schlecht ausgebildeten Ärzten. Aktuelle Gesundheitsreformen zielen daher auf die qualitativer Verbesserung der öffentlichen Gesundheitsversorgung, eine Dezentralisierung und den Ausbau des Krankenversicherungswesens ab.
Bildung: Bildung hat seit der Unabhängigkeit von Frankreich bei allen marokkanischen Regierungen zwar einen sehr hohen Stellenwert, dennoch besuchen nur etwa drei Viertel der Jungen und etwa die Hälfte der Mädchen regelmäßig die kostenfreien Schulen. Demzufolge liegt die Analphabetenrate der über 15-Jährigen bei etwa 40%.
Armut: Soziale Marginalisierung bis hin zur Obdachlosigkeit ist in Marokko eine verstärkt auftretendes Phänomen, das sich auffallend in der mit den Änderungen im Wertesystem der Solidargemeinschaft hin zu einer modernen Gesellschaft etabliert hat. Des Weiteren ist die soziale Polarisierung in Marokko zu einem großen Teil strukturiert und situiert sich vornehmlich entlang der Geschlechter und im Stadt-Land-Gefüge. Dia am stärksten benachteiligten Menschen sind dabei junge Frauen ohne Schulbildung in ländlichen Gebieten. Widersprüchlich zu dieser sozialen Disparität zwischen Stadt-Land bildet die Landwirtschaft die wichtigste Quelle der wirtschaftlichen Entwicklung in Marokko.
Zu Angola
(Rainer Grajek)
Die Geschichte der Angolaner wurde über Jahrhunderte geprägt von Unterdrückung, Abhängigkeit, Sklaverei, kolonialer Ausbeutung, Krieg und Bürgerkrieg. Dieses Martyrium endete erst im Jahhr 2002. Heute verfügt Angola über eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften in der Welt und über eine in extremer Weise ausgeprägte soziale Ungleichheit. Eine Minderheit profitiert von den gewaltigen Einnahmen aus dem Ölsektor. Das Land fördert bis zu zwei Millionen Barrel Erdöl pro Tag und belegt damit weltweit den 8. Platz. 2007 flossen aus den Ölexporten, vor allem in die USA und nach China 18,8 Milliarden US-Dollar in die Staatskasse, ergänzt durch 1,3 Milliarden US-Dollar aus Diamantenverkäufen. Die Masse der Bevölkerung hat daran kaum Anteil.
Die Analphabetenrate liegt bei den über 15-Jährigen bei 71%. Die Arbeitslosenrate schwankt zwischen 65 und 80%, und die mittlerer Lebenserwartung beträgt lediglich 42 Jahre. Jedes vierte Kind stirbt vor dem erreichen des fünften Lebensjahres. Malaria (28%) und Cholera-Epidemien führen die Liste der Todesursachen an. Drei Viertel der Bevölkerung fristen ein Leben unter der Armutsgrenzen (zwei Dollar am Tag).
Vom Land in die Städte gelangte Flüchtlinge und zurückkehrende Vertriebene hausen in selbst errichteten armseligen Hütten. Frauen erhalten ihre Familien mit Straßenverkauf am Leben. Verdienstmöglichkeiten in anderen Bereichen werden durch Korruption (Bestechungszahlungen) behindert. In Angola gibt es kein System der sozialen Sicherung!
Zu Bangladesch
(Wolfgang-Peter Zingel)
Bangladesch ist der am dichtesten bevölkerte Flächenstaat der Welt.Angaben über die Zahl der Arbeitslosen und Unterbeschäftigten von über 30 Millionen oder 60% der Erwerbsbevölkerung geben eine größenordnungsmäßige Vorstellung von der Dringlichkeit des Problems. Das Problem der doppelten Ausbeutung der Frauen in Wirtschaft und Haushalt tritt in Bangladesch in verschärfter Form auf: Ungeachtet der Tatsache, dass die Verfassung den Frauen gleiche Rechte gibt, die beiden größten Parteien von Frauen geführt werden und diese beiden Frauen an der Spitze der Regierung stehen. Insgesamt zählt Bangladesch im sozialen Bereich zu den Schlusslichtern. Das Bildungswesen wurde jahrzehntelang vernachlässigt. Nur 46% der Bevölkerung konnten 2001 nach amtlichen Angaben lesen und schreiben.
Es besteht in der Bevölkerung eine weit verbreitete Skepsis gegenüber staatlichen Plänen und Programmen. Dies hat seine Ursache in den vielen unerfüllten Versprechungen der Politiker in der Vergangenheit. Bangladesch hat seit Jahrzehnten Entwicklungspläne und -programme aufgestellt. Es ist also eher eine Frage der Umsetzung dieser Programme. Diese wohlgemeinten Programme erreichen die Zielgruppen aber nur zum Teil, weil die Mittel nicht ausreichen, weil Gruppen wie die Armee und Staatsbedienstete bevorzugt werden, wegen einer überbordenden Bürokratie und Korruption. Ein funktionierendes System der Sozialen Sicherung existiert nicht. Letztlich sind arme Menschen in Bangladesh auf ihre Verwandtschaft und NGOs angewiesen.
Diskussion
Bei der Auswahl der 76 Länder handelt es sich nicht, wie vorgeben, durchgängig um „Entwicklungsländer“, denn zum Beispiel Brasilien, China, Indonesien, Mexiko und Thailand können heute wohl kaum noch pauschal als „Entwicklungsländer“ bezeichnet werden.
Zielgruppen
Das Handbuch richtet sich an Forschende, Lehrende und Studierende aus dem Bereich der Sozialpolitik und an Akteure in der Sozialpolitik und der Entwicklungshilfe
Fazit
Das Handbuch eignet sich hervorragend dazu, sich einen Eindruck in die sozialpolitischen Konstellationen und Herausforderungen der insgesamt 76 berücksichtigten Länder zu verschaffen. Es bietet einen instruktiven Überblick über die aktuelle Fortschritte und weiterhin bestehenden Mängel der vielfältigen Sozialpolitiken in „Entwicklungsländern“ und wagt damit eine Blick über den nationalen und europäischen „Tellerrand“ unserer deutschen Diskussionen hinaus.
Rezension von
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe
Es gibt 101 Rezensionen von Uwe Helmert.
Zitiervorschlag
Uwe Helmert. Rezension vom 14.01.2016 zu:
Markus Porsche-Ludwig (Hrsg.): Sozialpolitik in Entwicklungsländern. Asien, Afrika, Lateinamerika ; ein Handbuch. Lit Verlag
(Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2013.
ISBN 978-3-643-11772-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19934.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.