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Monika Alisch, Michael May (Hrsg.): "Das ist doch nicht normal …!" Sozialraum­entwicklung [...]

Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Helmert, 15.12.2015

Cover Monika Alisch, Michael May (Hrsg.): "Das ist doch nicht normal …!" Sozialraum­entwicklung [...] ISBN 978-3-8474-0724-9

Monika Alisch, Michael May (Hrsg.): "Das ist doch nicht normal …!" Sozialraumentwicklung, Inklusion und Konstruktionen von Normalität. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2015. 252 Seiten. ISBN 978-3-8474-0724-9. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR, CH: 38,50 sFr.

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Thema

Wer definiert Normalität in verschiedenen sozialen Kontexten? An Beispielen aus Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit zeigen die AutorInnen, wie die sehr unterschiedlichen Vorstellungen von „normal Sein“, „Normalisierung“ und „abweichendem Verhalten“ zwischen Fachkräften, KlientInnen und deren Bezugspersonen aufeinandertreffen und Vorstellungen von Inklusion auf den Prüfstand stellen.

Herausgeberin und Herausgeber

Monika Alisch, ist Professorin für sozialraumbezogene Soziale Arbeit, Gemeinwesenarbeit und Sozialplanung am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda.

Michael May ist Professor für Theorie und Methoden der Jugend-, Gemeinwesen- und Randgruppenarbeit am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Rhein-Main, Wiesbaden

Aufbau

Der Sammelband ist in die folgenden drei Kapitel unterteilt:

1. Zum herrschenden Diskurs um „Behinderung“ und den Schwierigkeiten, seine (räumlichen) Institutionalisierungsformen zu überwinden

  • Simone Danz: Anerkennungspraktiken – Behinderung und Vollkommenheitsvorstellungen
  • Björn Bätz: Von der juristisch-administrativ-therapeutischen Eingliederung durch Dritte zu Akten der Teilhabe als eigene (An-)Eignung und (An-)Ordnung
  • Marc Fesca: Potenziale sozialräumlicher Konzepte für die Sozialpsychiatrie
  • Michael May: miTleben oder der stumme Zwang der Verhältnisse
  • Julia Brunner: „… das ist hier ganz normal!“ Frühpädagogische Fachkräfte im Spannungsfeld normativer Erwartungen und eigener Normalitätskonstruktion

2. Sozialraumentwicklungen und Erfahrungen von institutionellen Normalitäten

  • Susanne Müller-Forwergk: „Außer professioneller Hilfe gibt es doch nichts…“ Soziale Netzwerke von Menschen mit psychischer Beeinträchtigung
  • Cornelia Meyer-Lentl: Was ich noch vergessen habe…“ Lebensqualität von Menschen mit einer beginnenden Demenz im häuslichen Umfeld
  • Wolfgang Stadel: Inklusion als Enthinderung: Sozialräumliche Deutungsmuster von Erwachsenen mit geistiger Behinderung als Normalitätsrahmen
  • Mario Braun: Sommerferien für alle“ – Die Interessen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung im Kontext formal-organisatorischer Normensetzungen und Ansprüchen von Inklusion

3. Ansätze von Sozialraumorganisation in Arrangements von Inklusion

  • Jens Steinmetz: Partizipation als Basis für einen Diskurs über Normalität – oder: Kampf um Deutungshoheit(en) im Kontext von Inklusion
  • Mario Braun, Jasmin Brück und Wolfgang Stadel: Macht Inklusion! Plädoyer für ein Modell inklusiver Interaktion

Im folgenden werden ausgewählte Inhalte exemplarisch näher vorgestellt.

Zu Kapitel 1

Die Beiträge im ersten Kapitel des Bandes setzen sich mit dem herrschenden Diskurs um Behinderung und den Schwierigkeiten auseinander, seine auch räumlichen Institutionalisierungsformen zu überwinden.

In dem Beitrag „Anerkennungspraktiken – Behinderung und Vollkommenheitsvorstellungen“ greift Simone Danz die Überlegungen in der Einleitung zu Normalität auf. Sie zeigt nicht nur welchen Wandel dieser Begriff seit dem antiken Griechenland genommen hat, sondern verdeutlicht zugleich, dass hinter Diskriminierungsprozessen von behinderten Menschen auch gesellschaftliche Produktionsprozesse von Unbewusstheit stehen, die nicht so einfach durch die in der UN-Behindertenrechtskonvention kodifizierte normative Verpflichtung zur Achtung deren Rechte und Würde zu verändern sein dürften. Sie zeigt am Beispiel der Medizin, wie die empirische Erfahrung von krankheitsbedingten Leiden abgewehrt wird, um darüber auch eine Distanz zu den eigenen, mit jeder Biographie mehr oder weniger verbunden Erfahrungen von Unvollständigkeit und Abhängigkeit zu schaffen. Zwar ist Behinderung nicht gleichzusetzen mit Krankheit, Schmerz und Tod. Dennoch verweist sie in gleicher Weise auf das Ausgeliefert sein, das menschliches Leben kennzeichne. Die Autorin verdeutlicht danach, wie der auch von ihr aufgegriffene Linksche Begriff von Normalismus mit der Inkorporierung sozialer Normen wie Leistungsfähigkeit und Attraktivität einhergeht. Am Beispiel von Axel Honneths Modell reziproker Anerkennung zeigt sie, dass selbst dieses Moralsystem anerkennungsberechtigte und anerkennungsfähige, autonome Individuen voraussetzt, die in der Lage sind, die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten auszuüben.

Demgegenüber sieht sie in Judith Butlers politischen Ethik der Verletzlichkeit einen Anknüpfungspunkt, über die Anerkennung eigener Vulnerablität und Bedürftigkeit auch professionelle Inklusions-Fachchkräfte zu potentiell Betroffenen zu machen und darüber eine Sichtweise auf Behinderung als „Coming out“ des menschlichen Normalfalls der Verletzbarkeit zu etablieren.

Im anschließenden Beitrag Von der juristisch-administrativ-therapeutischen Eingliederung durch Dritte zu Akten der Teilhabe als eigene (An-) Eignung und (An-)Ordnung“ greift Björn Bätz die Gegenüberstellung Nancy Frasers von einem juristisch-administrativ-therapeutischen Management der Bedürfnisbefriedigung und einer dialogisch-partizipativen Politik der Bedürfnisinterpretation auf. Ebenfalls aufgegriffen wird von ihm Henri Lefèbvres Analytik der Produktion des Raumes. Vermittels behinderte Menschen inkludierender Prozessen demokratischer Selbstbestimmung kann dieser so zu einem „Ort der (An-)Eignung und (An-)Ordnung“ werden.

Marc Fesca setzt sich in seinem Beitrag damit auseinander, welche Potenziale sozialräumliche Konzepte für die Sozialpsychiatrie wirklich haben, wenn Teilhabe das Ziel der Sozialpsychiatrie ist. Aus der Erfahrung der Praxis sozialpsychiatrischer Einrichtungen dekonstruiert der Autor die Hinwendung dieses Handlungsfeldes zum Raum und betont, dass hier zwar mit dem Sozialraumbegriff operiert wird, eine eigenständige Auseinandersetzung mit Raumbegriffen, die über den Raum als Planungsraum hinausgehen, jedoch völlig fehle. Marc Fesca diskutiert im Anschluss verschiedene in der Diskussion stehende Raumkonzepte auf ihre Tauglichkeit für eine sozialraumbezogene Sozialpsychiatrie, die das Subjekt in den Mittelpunkt stellt.

Mit den Konstruktionen von Normalität in Kindertagesstätten hat die Autorin Julia Brunner sich einem Praxisfeld zugewandt, das in den Fachdiskursen zu Inklusion vor allen anderen Teilhabebereichen am stärksten im Fokus steht: Dem Bildungssystem, das schon mit einer frühkindlichen Bildung in der Kita beginnen soll, sich „inklusiv“ aufzustellen. Sie knüpft an den Spezialdiskurs der Integrationspädagogik an und entfaltet die dort geführte Normalismus-Diskussion, um im Anschluss die Ergebnisse von Interviews mit pädagogischen Fachkräften in Kitas im Hinblick auf deren Rolle zu interpretieren. Diese Fachkräfte sind zum einen Bezugspersonen, BegleiterInnen und BeobachterInnen der Kinder und gleichzeitig auch diejenigen, die im Gruppengeschehen den Raum gestalten, für die Begegnung der Kinder und Interaktion untereinander. Diese Interaktion bedeutet unumgänglich immer auch eine Auseinandersetzung mit Gemeinsamkeit und Verschiedenheit im Sinne von integrativen Prozessen. Dabei wird insbesondere das Spannungsverhältnis aufgezeigt zwischen den eigenen professionellen pädagogischen Ansprüchen der Fachkräfte an eine bedürfnisorientierte Pädagogik und den hemmenden Rahmensetzungen der Einrichtungen. Dieses Spannungsverhältnis sieht die Autorin nur darin aufzulösen, dass auch die pädagogischen Fachkräfte selbst ihren Anspruch an eine als „inklusiv“ bezeichnete Frühpädagogik gegenüber den Erwartungen der Einrichtung und der Eltern durchzusetzen versuchen.

Zu Kapitel 2

Im zweiten Kapitel finden sich Beiträge, die an den Interessensorientierungen der jeweils als behindert, psychisch krank oder dement kategorisierten Menschen ansetzen und sowohl das Potenzial als auch die Begrenzungen in der Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse aufzeigen.

Susanne Müller-Forwergk untersucht in ihrem Beitrag die Netzwerke psychisch Erkrankter. Dabei steht für die Autorin im Vordergrund, Methoden der personenbezogenen Netzwerkanalyse als Instrument zu erproben und einzusetzen, um so die Aushandlungsprozesse im Rahmen individueller, ganzheitlicher Hilfeplanung zu qualifizieren. Nach einer Reflexion der Befunde der Netzwerkforschung, stellt die Autorin die empirischen Ergebnisse ihrer Gespräche mit psychisch Erkrankten entlang der individuellen Netzwerkkarten dar. Sie arbeitet die Bedeutung sozialer Beziehungen für psychisch Erkrankte heraus und stellt fest, dass weit vor den professionellen HelferInnen, Freundschaftsbeziehungen mit dem Beziehungsmerkmal Vertrauensverhältnis und Gemeinsamkeit und die Nachbarn, mit dem Beziehungsmerkmal der schnellen Hilfe von den Mitforschenden benannt wurden.

BeiCornelia Meyer-Lentls Beitrag geht es um die Frage, wie entsprechende sozialräumliche Qualitäten dazu beitragen können, dieser Zielgruppe Teilhabemöglichkeiten zu eröffnen, in denen sie ihre Kompetenzen trotz beginnender Krankheit weiterhin zur Entfaltung zu bringen vermögen. Im Zentrum ihres Beitrages steht ein kleine, von ihr durchgeführte explorative Studie im Stuttgarter Raum, in der sie in Form sensibler Gesprächshermeneutik sich und den Lesenden einen Zugang zur Lebenswelt dieser Gruppe Demenzkranker eröffnet. Die in Form eines von ihr auf diese Weise induktiv entwickelten Instrumentes zur Rekonstruktion von Kompetenzprofilen, diese Menschen nicht in ihren krankheitsbedingten Defiziten, sondern in ihrer Potenzialen zu entdecken erlaubt. Zugleich arbeitet sie vor diesem Hintergrund Maximen für eine sozialräumlich auf umfassende Teilhabe zielende Perspektive Sozialer Arbeit mit diesen Menschen heraus.

Auch Wolfgang Stadel hat seine Forschung genau so konzipiert. Auf diese Weise hat er in Erfahrung gebracht, dass der Rahmen für das, was im Alltag der in dieser Weise kategorisierten Persönlichkeiten als „normal“ zu gelten hat, weitgehend von Anderen bestimmt wurde und wird. Die Ergebnisse seiner empirischen Forschung analysiert der Autor entsprechend unter dem Aspekt „Inklusion als Enthinderung“. Der Beitrag fragt danach, welche Normalitäten in der Praxis der institutionalisierten Behindertenhilfe von BewohnerInnen der Einrichtungen erlebt werden. Dabei geht es insbesondere um das offenbar normale Machtverhältnis zwischen den professionell Tätigen und den AdressatInnen dieser Sozialen Arbeit, sowie den Umgang der BewohnerInnen mit diesem Machtgefüge. Ziel ist es, konzeptionelle Hinweise für eine „Enthinderungshilfe“ aus der Betroffenenperspektive abzuleiten. Sie ist zu verstehen als die prozesshafte Unterstützungsleistung für bisher auch in dieser Weise behinderte Menschen, welche die Auswirkungen der individuellen körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen zu verringern oder zu überwinden sucht.

Den Zusammenhang von Normensetzungen, Inklusionsansprüchen und Partizipationsrealitäten stellt Mario Braun am Beispiel von behinderten Kindern und Jugendlichen her. Sein Beitrag dokumentiert die Erfahrungen und Ergebnisse einer Zukunftswerkstatt mit Eltern, Lehrkräften und Betreuenden als behindert kategorisierter Kinder und Jugendlicher. Er verweist auf das Orientierungspapier der BAG der Landesjugendämter zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (2012), welches sich mit den alltagstauglichen und praxisnahen Zugängen für behinderte Kinder und Jugendliche zu den Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit

Zu Kapitel 3

Die beiden letzten Beiträge des Bandes enthalten methodisch und konzeptionell lösungsorientierte Überlegungen. Jens Steinmetz geht es darum, die Möglichkeiten der Einflussnahme von Menschen mit Behinderung auf den Diskurs über ihre Bedürfnisse, ihre Mitwirkungsmöglichkeiten zu erweitern und durch ihre Sicht auf den Begriff „Behinderung“ diesen positiv(er) zu besetzen und gleichzeitig die Legitimation der Herrschenden und deren Deutungshoheit infrage zu stellen. Er bezieht sich auf Disability-Studies, macht jedoch gleichzeitig deutlich, dass sein Erkenntnisinteresse aus der partizipativen Forschung heraus entstanden ist. Die Bedeutung des Zusammenhangs von Partizipation und Inklusion wird in diesem Beitrag nicht nur auf der normativen Ebene relevant, sondern es werden konkret solche Organisationsformen vorgeschlagen, in denen die Hindernisse artikuliert, bearbeitet und abgebaut werden können, um so eine tatsächliche Partizipationsstruktur zu schaffen. Seine Konzeption mündet in der Umsetzung einer Zukunftswerkstatt mit der Adressatengruppe als Beispiel für einen dialogischem Prozess auf Augenhöhe als Gegenpol zu einer – wie Freire es genannt hat – „Psydopartizipation“.

Der Beitrag Jasmin Brück et al. ist der aus ihrer Sicht eher diffuse Inklusionsbegriff, der als Programmatik und Handlungsrahmen vielfältig auf die verschiedenen Praxen Sozialer Arbeit trifft. Der von den drei AutorInnen entfaltete Ansatz soll dazu beitragen, Interaktionen im Wirkgefüge des Diskurses und der Umsetzungspraxis von Inklusion auf ihren Wesenskern hin zu überprüfen. Das „Modell inklusiver Interaktion“ soll dabei helfen, laufende und noch zu organisierende Prozesse „inklusiver Praxis“ zu reflektieren und im Hinblick auf Veränderungen zu analysieren. Dazu spannt das Autorenteam die Trias von Herrschaft, Struktur und Handlung auf, welche die grundsätzlichen Parameter des Models sind.

Zielgruppen

Akteure aus dem Bereich der Sozialen Arbeit sowie Lehrende, Forschende und Studierende der Sozialarbeitswissenschaften.

Fazit

Den diskursiven Bogen zu schlagen zwischen Normalitätskonstruktionen, Inklusion und Sozialraumentwicklung ist sicherlich sehr anspruchsvoll. Insbesondere die Verknüpfung zwischen den konzeptionellen Vorstellungen von Inklusion, die in der Praxis als Auftrag ankommen, und der in ähnlicher Weise als Herausforderung für die Praxis Sozialer Arbeit verhandelten Hinwendung zum Sozialraum ist bisher wenig ausformuliert. Die Beiträge in dem Sammelband liefern dazu aus unterschiedlichen Perspektiven interessante theoretische und empirische Befunde.

Rezension von
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe

Es gibt 101 Rezensionen von Uwe Helmert.

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Zitiervorschlag
Uwe Helmert. Rezension vom 15.12.2015 zu: Monika Alisch, Michael May (Hrsg.): "Das ist doch nicht normal …!" Sozialraumentwicklung, Inklusion und Konstruktionen von Normalität. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2015. ISBN 978-3-8474-0724-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19939.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.


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