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Patricia Bell: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Partnergewalt

Rezensiert von Claudia Mehlmann, 03.04.2016

Cover Patricia Bell: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Partnergewalt ISBN 978-3-8474-0756-0

Patricia Bell: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Partnergewalt. Zusammenhänge und Interventionsmöglichkeiten bei häuslicher Gewalt. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2015. 187 Seiten. ISBN 978-3-8474-0756-0. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.

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Autorin

Geschäftsführerin des Forschungszentrums der Evangelischen Hochschule Darmstadt, University of Applied Sciences.

Thema

Partnergewalt gegen Frauen und sexuelle Gewalt gegen Kinder in der Familie – wir haben es mit zwei Formen häuslicher Gewalt zu tun, die oft nicht im Zusammenhang gesehen werden. Wie hängen diese beiden Gewaltformen zusammen? Tauchen sie gehäuft zusammen auf? Wie gehen Mitarbeiterinnen in Frauenhäusern mit betroffenen Kindern und Frauen um?

Ausgehend von Interviews mit Frauenhausmitarbeiterinnen (d.h. Befragungen mit 32 Frauen aus 27 Frauenhäusern in ganz Deutschland zwischen August 2012 und April 2013) untersucht sie den Zusammenhang zwischen zwei Formen häuslicher Gewalt, die sonst nicht im Zusammenhang gesehen werden und präsentiert so neue Erkenntnisse zu diesem Thema. Mitgeliefert werden praxisnahe Hilfen (Leitfaden, Fragebogen als Kopiervorlage u.a.) für Fachkräfte, die mit von Gewalt betroffenen Frauen und ihren Kindern arbeiten.

Entstehungshintergrund

Seit über 50 Jahren ist die Aufdeckung und Benennung hierarchischer Geschlechterverhältnisse in europäischen und US-amerikanischen Gesellschaften ein Thema, dass Frauen in die Öffentlichkeit gebracht haben. Und vor 40 Jahren entstanden erste Frauenhäuser in Europa; in Deutschland gab es das erste autonome Frauenhaus in Berlin im November 1976 – heute sind es 350 in der gesamten Bundesrepublik Deutschland. Zu Beginn waren es acht Feministinnen, die sich seit dem Winter 1975 regelmäßig trafen: Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen, Ärztinnen und Anwältinnen.

Anstoß und Auslöser für die vorliegende Studie war der Unmut der Autorin über einen Bericht des Runden Tisches zu sexuellem Missbrauch an Kindern des BMFSFJ, 2012. Sie benennt zwei Gründe für ihre Frustration: die Konzentration auf sexualisierte Gewalt gegen Kinder im öffentlichen Raum unter Ausblendung der Familie als Ort von Gewalt. Sowie das Ignorieren der Parallelen zu sexualisierter Gewalt gegen Frauen in Partnerschaften. So konnten die TeilnehmerInnen des o.g. Runden Tisches nicht vom umfangreichen Schatz an Wissen und Erfahrung der letzten 40 Jahre Frauenhausbewegung profitieren und dies auch nicht in den Bericht einfließen lassen.

Aufbau und Inhalt

1. In dem Kapitel zur Beziehung zwischen Partnergewalt und sexualisierter Gewalt gegen Kinder in der Familie legt Bell den Grundstein für ihre folgenden Ausführungen. Sie beleuchtet die Korrelation zwischen zwei Formen häuslicher Gewalt, die meist von unterschiedlichen Betreuungsstellen abgedeckt werden und in der Theorie als voneinander abgrenzbar gelten. Zuerst gibt sie einen Überblick über empirische Belege für die Verbindung zwischen beiden Aspekten, gefolgt von der Evaluation von Ursachentheorien, um dann Anzeichen und Symptome sexualisierter Gewalt und deren Aufdeckung näher zu beleuchten.

Hierfür zieht sie Ergebnisse aus Forschungsprojekten und Studien von renommierten WissenschaftlerInnen aus den 80er Jahren bis heute heran: aus Deutschland (Brückner; Braun & Kavemann; Hagemann-White; Müller, Schröttle et al.; Jungnitz; Breitenbach u.a.), England (Liz Kelly; Hooper; Phillips), den USA (Johnson; Russell; McGee), Kanada (Cunningham; Baker), Australien (Goddard), Skandinavien (Eriksson, Hester, Keskinen).

Anhand der aufgefundenen Daten und Ergebnisse stellt Bell fest, dass männliche Gewalt eine Komponente weiblicher Unterdrückung vor 40 Jahren war und heute weiter ist. Weiterhin, dass Männer, die ihren Partnerinnen gegenüber gewalttätig sind, weniger Hemmungen und eine erhöhte Motivation haben, im häuslichen Umfeld sexuelle Übergriffe auf Kinder auszuüben. Wenn nun ein Zusammenhang zwischen Partnergewalt und sexualisierter Gewalt gegen Kinder nicht ins Auge springt, dann weil man ihn nicht sucht. Und da hinein möchte sie etwas mehr Licht resp. Aufklärung bringen. Letztlich um Mütter wie Kinder zu stärken, beiden zu ihrem Recht auf Unversehrtheit und einem Leben in Gewaltfreiheit zu verhelfen sowie eine ungestörte, verlässliche, vertrauensvolle Mutter-Kind-Beziehung und Kommunikation zu ermöglichen.

2. Im anschließenden Kapitel über Interventionen gegenüber Frauen und Kindern in Verbindung mit häuslicher Gewalt plädiert die Autorin stark dafür, dass die bei Partnergewalt intervenierenden Stellen das Thema Gewalt gegen Kinder auch ganz konkret mit angehen sollten. Dabei ist zweifellos klar, dass nicht jedes Kind, das sexuelle Gewalt erlebt hat, eine von Partnergewalt betroffene Mutter hat. Und nicht jede von Partnergewalt betroffene Frau hat ein Kind, das sexuelle Gewalt erlebt. Trotzdem kommen beide Formen von Gewalt häufiger gemeinsam vor als gedacht. Die getrennte Entwicklung von Unterstützungsangeboten für gewaltbetroffene Frauen und Kinder verschleiert diesen komplexen Zusammenhang. Und um dies besser zu erkennen, ist eine gut begleitete Verdachtsabklärung vonnöten. So bricht Bell eine Lanze für die Implementierung der Kinderarbeit innerhalb der autonomen Frauenhäuser, da sich dort die gesammelte hohe Kompetenz von 40 Jahren findet und spezifiziert, wie sexualisierte Gewalt gegen Kinder in Frauenhäusern Thema sein kann und muss anhand der folgenden Punkte:

  • das Schweigen brechen
  • das Beenden der Isolation
  • Verurteilung von Gewalt
  • niederschwellige Hilfsangebote
  • wie Frauenhäuser mit Gewalt gegen Kinder konfrontiert sind
  • Kinderbereichs-Mitarbeiterinnen als Expertinnen in Sachen sexualisierte Gewalt gegen Kinder
  • mit Kindern über sexuelle Gewalt reden

3. Um die konkrete Arbeit der Verdachtsabklärung sexualisierter Gewalt gegen Kinder in Frauenhäusern geht es im nächsten Kapitel. Es werden vorbildliche Beispiele für verschieden große Frauenhäuser vorgestellt, die aufzeigen, wie eine Verdachtsabklärung bei Kindern optimal begleitet und wie das Fundament für eine frauen- und kinderfreundliche Arbeitspraxis gelegt werden kann. Auch hier anhand ineinandergreifender Phasen:

  • das Ansprechen von Gewalt
  • Präventionsarbeit mit Kindern
  • Raum zum Reden zur Verfügung stellen
  • Gelegenheit zur Umdeutung von Erfahrungen bieten
  • Ambivalenz zulassen
  • Teamarbeit befördern
  • Hinzuziehen von Expertinnen
  • Aufdeckung – interaktive Auseinandersetzung mit Ambiguität
  • Zeit für die Verdachtsabklärung geben
  • Hinzuziehen anderer Stellen

Parallel zur Arbeit mit den Kindern muss die Arbeit mit den von Partnergewalt betroffenen Frauen geleistet werden.

4. Im folgenden Kapitel die Arbeit mit den Frauen nach der Aufdeckung sexualisierter Gewalt gegen ihr Kind widmet sich Bell nun den diversen Balanceakten beim Aufspüren der unterschiedlichen Bedürfnisse in der Arbeit mit betroffenen Frauen und ihren Kindern. Mit dem Ziel: Stärkung, Autonomie und Gewaltfreiheit für die Betroffenen. Hierfür erachtet sie als notwendig:

  • den Balanceakt zwischen den Bedürfnissen der Frauen und der Kinder zu bestehen
  • den Umgang mit Schuldgefühlen
  • das Erkennen unangemessenen Verhaltens seitens der Täter
  • den Mythos vom Zyklus der Gewalt zu durchbrechen
  • den Umgang mit Verdrängung

5. Im Anschluss hieran erörtert die Autorin den Komplex Muttersein nach erfahrener Partnergewalt mit den Aspekten:

  • Auswirkung von Partnergewalt auf die Erziehungskompetenz der Mutter
  • Partnergewalt als Aspekt der Fürsorge für Kinder
  • Konflikte mit Jugendämtern
  • Frauenhäuser und Jugendämter: zwei konträre Philosophien
  • der Weg nach vorne

Mit diesem Aspekt der Zusammenarbeit zwischen autonomen Frauenhausmitarbeiterinnen und Fachkräften in Jugendämtern, Fürsorgeeinrichtungen, Familienhilfestellen oder bei Familiengerichten fasst sie durchaus ein heißes Eisen an. Denn hier herrschen in der Tat noch oder wieder Geschlechtsstereotype vor, die elterliche Kompetenz weitgehend nach zweierlei Maß messen, Frauen häufig die Schuld an Partnergewalt zuschieben und die Vater-Kind-Beziehung idealisieren. So bleiben die Handlungen der Täter gegen Kinder im häuslichen Umfeld großenteils unsichtbar – und dies alles konstatiert aufgrund der Aussagen der befragten Sozialarbeiterinnen in den Frauenhäusern, die längst auf Basis geschlechtsspezifischer Kritik zu anderen Ergebnissen gekommen sind.

6. Das letzte Kapitel widmet sich den Unterstützungsangeboten für Frauenhausmitarbeiterinnen. Unabdingbar für fundierte, kompetente und kontinuierliche Angebote sind:

  • ständige Weiterbildung
  • Austauschprogramme für Mitarbeiterinnen
  • klare Verhaltensweisen für den Umgang mit Kindern bei Verdacht auf sexualisierte Gewalt
  • Einzel- und Teamsupervisionen
  • ausreichend finanzielle Mittel für Übersetzungs- und Dolmetschleistungen
  • bessere längerfristige Unterstützungsangebote für Bewohnerinnen
  • mehr Finanzen für den Kinderbereich in den Frauenhäusern

In ihrem Schlusswort betont die Autorin die Notwendigkeit, das Delikt sexualisierte Gewalt gegen Kinder wieder zu dem Delikt sexualisierte Gewalt gegen Frauen in Verbindung zu setzen, um so von jahrzehntelangen praktischen wie theoretischen Fortschritten profitieren zu können, die beim Umgang mit dem Problem männlicher Gewalt bereits erzielt wurden.

Zielgruppe

Die vorliegende Studie richtet sich nicht nur an Lehrende und Studierende der Sozialen Arbeit und Erziehungswissenschaft, sie bringt vor allem neue Erkenntnisse und praxisnahe Hilfen für Personen, die beruflich mit von familiärer Gewalt betroffenen Frauen und Kindern arbeiten. Und natürlich an alle, die interessiert sind an den Standpunkten, Ergebnissen und Positionen feministischer Anti-Gewalt-Analysen zum vorliegenden Thema.

Fazit

Dies ist ein wichtiges Buch zu einem wichtigen Jubiläum: 40 Jahre Frauenhausbewegung! Die Autorin untersucht anhand von Interviews mit Frauenhausmitarbeiterinnen in ganz Deutschland den Zusammenhang zwischen zwei Formen häuslicher Gewalt, die sonst nicht im Zusammenhang gesehen werden. Seit Anfang der Frauenhausbewegung, die Teil eines Netzwerks von Frauennotrufen, Beratungsstellen und Frauenzentren in den 70er Jahren war, ist das häusliche Umfeld als Haupttatort für Gewalt gegen Frauen anerkannt. Seitdem ist die Familie, sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft, auch als Haupttatort für sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen belegt. Während der letzten 40 Jahre haben Fachkräfte und WissenschaftlerInnen viel über die Probleme gelernt. Allerdings ist das Hauptziel der Frauenhausbewegung, nämlich der Gewalt gegen Frauen und Kinder im häuslichen Bereich eine Ende zu setzen, nicht erreicht und unklar bleibt, ob das Problem geringer wird.

Rezension von
Claudia Mehlmann
Germanistin u. Anglistin, Lektorin, Übersetzerin
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Es gibt 4 Rezensionen von Claudia Mehlmann.

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Zitiervorschlag
Claudia Mehlmann. Rezension vom 03.04.2016 zu: Patricia Bell: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Partnergewalt. Zusammenhänge und Interventionsmöglichkeiten bei häuslicher Gewalt. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2015. ISBN 978-3-8474-0756-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19947.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.


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