Christian Schwarzenegger, Rolf Nägeli (Hrsg.): Häusliche Gewalt
Rezensiert von Dr. Dirk Baier, 09.02.2016

Christian Schwarzenegger, Rolf Nägeli (Hrsg.): Häusliche Gewalt. Schulthess Juristische Medien AG (Zürich) 2015. 304 Seiten. ISBN 978-3-7255-7327-1. CH: 89,00 sFr.
Entstehungshintergrund und Thema
Das Zürcher Präventionsforum wird seit 2008 jährlich zu aktuellen Themen der Kriminologie und Kriminalprävention veranstaltet. Das Forum wird von Prof. Dr. Christian Schwarzenegger von der Universität Zürich (Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie) organisiert. Namhafte Referenten beschäftigten sich in der Vergangenheit u.a. mit der Videoüberwachung, mit Rasern oder mit älteren Kriminalitätsopfern. Als Thema für die Veranstaltung im Jahr 2014 wurde die Häusliche Gewalt gewählt. Der Sammelband fasst zehn Beiträge dieses Forums zusammen, die mit einem kurzen Vorwort und einer Autorenvorstellung eingeleitet werden.
Aufbau und Inhalt
Die Relevanz des Themas verdeutlicht der erste umfangreiche Beitrag von Schwarzenegger, Fischbacher, Loewe-Baur und Stössel, der einerseits die Verbreitung häuslicher Gewalt untersucht und anderseits die bestehenden Massnahmen gegen häusliche Gewalt auf rechtlicher Ebene referiert. Hinsichtlich der Verbreitung zeigen die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik, dass seit 2009 pro Jahr zwischen 15.000 und 16.000 Fälle von häuslicher Gewalt registriert wurden. Hierbei handelt es sich meist um Tätlichkeiten, Drohungen, einfache Körperverletzungen und Beschimpfungen. Schwere Gewalt im Sinne von schweren Körperverletzungen oder Tötungsdelikten stellt die Ausnahme dar. Im Zeitverlauf ergibt sich ein Anstieg im Bereich der Beschimpfungen und der schweren Körperverletzungen; Entführungen und (versuchte) Tötungsdelikte haben hingegen abgenommen. Die Täter sind mehrheitlich Männer, die Opfer mehrheitlich Frauen. Bei etwa jedem vierten registrierten Fall kommt es zu einer Massnahme wie dem Kontaktverbot, der Wegweisung oder dem Rayonverbot. In den allermeisten dieser Fälle (92 %) wird zudem ein Strafverfahren eingeleitet. Schweizweit repräsentative Opferbefragungen zu diesem Deliktsbereich sind älteren Datums und berücksichtigen bislang nur die Opferkonstellation des Mannes als Täter und der Frau als Opfer. Trotz dieser Einschränkung belegen sie, dass physische Gewalt von etwa jeder zehnten Frau, sexuelle Gewalt von jeder 33. Frau im bisherigen Leben mindestens einmal von Seiten eines (ehemaligen) Partners widerfahren ist, wobei es eher die Regel als die Ausnahme ist, dass diese Erfahrungen wiederholt gemacht werden. Die Opferbefragungen belegen zudem, dass die Opfer unter physischen wie psychischen Beschwerden leiden, sich aber nur selten der Polizei oder anderen Institutionen offenbaren. Die Ausführungen zu den bestehenden rechtlichen Massnahmen, die bspw. mit Bezug zum Polizeirecht kantonsvergleichend dargestellt werden, führen zu dem Schluss, dass wichtige gesetzliche Rahmenbedingungen implementiert sind. Handlungsbedarf sehen die Autoren u.a. hinsichtlich der einheitlichen Ausgestaltung der kantonalen Interventionsmöglichkeiten. Wünschenswert wäre bei diesem Beitrag gewesen, dass die Ausführungen zur Verbreitung und zu den rechtlichen Rahmenbedingungen noch einmal aufeinander bezogen worden wären. Mögliche Fragen wären bspw. gewesen, ob rechtliche Entwicklung und Fallzahl-Entwicklung in einem Verhältnis stehen oder warum trotz des guten rechtlichen Rahmens noch immer viele Opfer den Schritt der Offenbarung ihres Leidens nicht gehen.
Einen besonderen Weg, die Relevanz des Themas häusliche Gewalt zu verdeutlichen, schlägt der Beitrag von Stern, Fliedner, Schwab und Iten ein, die eine gekürzte Version ihrer Studie zu Kosten von Gewalt in Paarbeziehungen vorstellen. Geschätzt werden direkte tangible Kosten (z.B. Kosten bei Polizei und Justiz, Kosten der gesundheitliche Folgen), indirekte tangible Kosten (z.B. entgangene Einkünfte, Steuerausfälle) und intangible Kosten (z.B. Verlust an Lebensqualität). Für einige der Kostenpunkte liegen keine ausreichenden Daten für die Schätzung vor, für andere Bereiche gibt es gute Anhaltspunkte für die Kalkulation. Insbesondere für den letztgenannten Kostenbereich sind nur sehr grobe Schätzungen möglich. Im Bereich der tangiblen Kosten entstehen laut Autoren Aufwendungen von 164 bis 287 Mio. CHF, im Bereich der intangiblen Kosten von 2 Mrd. CHF. Bei dieser Kalkulation, die sich nur auf Frauen bezieht, wird davon ausgegangen, dass in der Schweiz aufgrund von Gewalt in Paarbeziehungen 20.000 Lebensjahre verloren gehen und jedes Lebensjahr einen Wert von 100.000 CHF hat. Obwohl sich über solche Annahmen und auch andere Kostenansätze sicherlich immer gut streiten lässt, ist eine ökonomische Perspektive auf die Kriminalität u.a. deshalb hilfreich, weil sie es möglich macht, die Aufwendungen für deren Prävention ins Verhältnis zu setzen; und i.d.R. dürfte solch ein Vergleich zu der Folgerung führen, dass sich die z.T. als teuer erscheinende Prävention lohnt.
Mit Fragen der Prävention häuslicher Gewalt beschäftigen sich entsprechend drei Beiträge des Sammelbandes. Greuel geht der Frage nach, ob Tötungsdelikte in Intimbeziehungen präventabel sind. Anhand ihrer eigenen empirischen Forschungsarbeiten kann sie aufzeigen, dass diese spezifische Gewaltform nicht als stufenweise Eskalation zu begreifen ist, an deren Ende dann die Tötung eines (ehemaligen) Partners steht. Vielmehr ist es eher der Fall, dass das Tötungsdelikt die erste Gewalthandlung überhaupt ist bzw. dass im Vorfeld der Tat ein relativ konstantes Ausmass von Beziehungsgewalt besteht. Wer solche Taten verhindern möchte, sollte damit weniger die Gewaltgeschichte einer Beziehung betrachten, sondern vielmehr die gesamte Vorgeschichte der Beteiligten. Für Greuel sind die Tötungsdelikte als „finale Bankrottreaktion“ aufzufassen. Dies bedeutet, dass eine Person aufgrund von selbstwerterschütternden Kränkungen zunehmend labilisiert wird; die Hemmungen, (schwere) Gewalt auszuführen, fallen. Prävention muss sich insofern darauf konzentrieren, Indikatoren für eine „finale Bankrottreaktion“ zu identifizieren. Dieser Ansatz steht in einem gewissen Widerspruch zu den Ansätzen, die Müller sowie Boess und Elmiger präsentieren. Müller stellt verschiedene Risikoeinschätzungsinstrumente vor, die bei der Stadtpolizei Zürich eingesetzt werden und die dabei helfen sollen, die Gefährlichkeit einer familiären Konfliktsituation einzuschätzen. Diese Instrumente fokussieren zumindest teilweise intensiv die Gewaltgeschichte einer Beziehung, die ja laut Greuel ein zukünftiges Tötungsdelikt unzureichend prädiziert. Boess und Elmiger gehen auf das Konzept des Bedrohungsmanagements ein, das ebenfalls davon ausgeht, dass häusliche Gewalt von Gewaltdynamiken gekennzeichnet ist (Frauen, die von Partner geschlagen werden, haben das höchste Risiko, umgebracht zu werden). Die Autoren sehen einerseits Handlungsbedarf darin, dass die Kantone bislang unterschiedliche Konzepte bzgl. des Bedrohungsmanagements verfolgen. Andererseits diskutieren sie den „Knackpunkt Datenschutz“. Für ein effektives Bedrohungsmanagement ist es wichtig, dass die verschiedenen Akteure der Prävention Informationen zu Familien bzw. Personen austauschen können, bspw. innerhalb von Fallkonferenzen. Hierfür ist eine rechtliche Grundlage zu schaffen, die zugleich die Freiheitsrechte des Einzelnen garantiert.
Drei weitere Beiträge des Herausgeberbandes stellen die Arbeit einzelner Institutionen im Bereich der Prävention von häuslicher Gewalt vor. Rohr berichten vom Modell des Kantons Solothurn, Brunner aus der Kantonspolizei Zürich und Läubli von vergangenen und aktuellen Initiativen des Bundesamts der Justiz. In Solothurn wird seit 2009 an einem Bedrohungsmanagement-Netzwerk gearbeitet. Die Erfahrungen zeigen hier, dass zum Aufbau eines Netzwerks in einem ersten Schritt eine umfassende Identifikation möglicher Netzwerkpartner nötig ist, Polizei und psychiatrische/psychologische Dienste mithin nur einen Teil dieses Netzwerks bilden. In einem zweiten Schritt ist eine umfassende Weiterbildung der Netzwerkpartner notwendig, bestenfalls anhand von gemeinsamen Fallübungen. Zuletzt muss das gemeinsame Wissen in regelmässigen Abständen aufgefrischt werden wie eine Supervision erfolgen sollte. Brunner berichtet, wie sich die Arbeit im Kanton Zürich seit einem einzelnen Ereignis, einem Doppelmord, seit 2011 verändert hat. So wurde bspw. eine eigene Präventionsabteilung geschaffen, die eng mit der Wissenschaft zusammen arbeitet. Das Beispiel Solothurn und Zürich verdeutlichen, dass für die Präventionsarbeit die Zusammenarbeit mit Hochschulen, die Weiterbildung organisieren und zugleich neues Wissen auf Basis von Forschung generieren, wichtig ist. Diese Öffnung insbesondere der Polizei für eine solche Zusammenarbeit stellt eine positive Entwicklung dar.
Die beiden letzten Beiträge des Buches fokussieren einen spezifischen Bereich der häuslichen Gewalt, die Kindesmisshandlung. Wopmann stellt dabei zunächst nationale Zahlen zu diesem Phänomen vor und diskutiert daran anschliessend das Thema der Meldepflicht für Ärzte. Hinsichtlich der quantitativen Dimension kann auf eine seit 2009 bestehende Datengrundlage der schweizerischen Kinderkliniken zurückgegriffen werden, die stationär oder ambulant behandelte Fälle erfassen. Zwischen 2009 und 2012 wurden 4.024 Fälle registriert, wobei es eine ansteigende Tendenz gibt. Jeweils ein Viertel der Fälle betreffen körperliche Misshandlungen, Vernachlässigungen, sexuellen Missbrauch und psychische Misshandlungen. Mit Ausnahme des sexuellen Missbrauchs erfahren Jungen und Mädchen etwa gleich häufig diese verschiedenen Gewaltformen. Zu beachten ist bei diesen Zahlen, dass bei einem Drittel der Fälle nicht klar ist, ob der Verdacht auf Kindesmisshandlung korrekt ist. Es werden ärztliche Verdachtsfälle registriert, die durchaus fehlerbehaftet sein können. Mit Blick auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Meldung von Verdachtsfällen führt Wopmann aus, dass im Schweizer Gesetz ein Melderecht festgehalten ist (Ärzte sind „berechtigt“, Beobachtungen der Kinderschutzbehörde zu melden. Nur in spezifischen Fällen, vor allem Todesfällen, gibt es eine Meldepflicht.
Dem Thema der Schweigepflicht bzw. Meldepflicht bei Kindesmisshandlung widmet sich auch der Beitrag von Schwarzenegger, Fuchs und Ege. Ihre Betrachtungen sind dabei als Rechtsvergleich zwischen der Schweiz, Österreich und Deutschland angelegt. Die Autoren arbeiten dabei u.a. den wichtigen Punkt heraus, dass Anzeige erstattende Ärzte nicht wegen Verletzung des Berufsgeheimnisses bestraft werden können, selbst dann nicht, wenn sich herausstellt, dass keine Misshandlung vorgelegen hat. Dies gilt auch, wenn ein Arzt es unterlässt, nach sogfältiger Erwägung eine Anzeige zu erstatten, obwohl es eine Misshandlung gab. „Weder das Unterlassen einer Meldung noch das fälschlicherweise Erstatten einer solchen kann ihm vorgeworfen werden“ (S. 273.).
Fazit
Der Herausgeberband von Schwarzenegger und Nägeli vereinigt sowohl Erkenntnisse empirischer Untersuchungen als auch profunde juristische Darlegungen und Berichte aus der Praxis. Es handelt sich um eine multidisziplinäre Auseinandersetzung mit einem Kriminalitätsbereich, zu dem noch immer recht wenig bekannt ist und bei dem davon auszugehen ist, dass es auch in Zukunft schwierig sein wird, weiter Licht ins Dunkel zu bringen. Auch wenn insbesondere die juristischen Beiträge recht umfangreich geworden sind und sich – in einem Sammelband nicht immer vermeidbar – Wiederholungen bspw. hinsichtlich der Nennung des vorhandenen Zahlenmaterials finden, handelt es um einen Band, der einen sehr guten Überblick zur Lage in der Schweiz gibt. Verzichtet haben die Herausgeber darauf, ein abschliessendes Kapitel zu verfassen, in dem sie einige Quintessenzen der Einzelbeiträge zusammenfassen und diskutieren. Einige Folgerungen mit Blick auf den praktischen Umgang mit häuslicher Gewalt als auch seine wissenschaftliche Untersuchung hätten den Band sicherlich abgerundet.
Rezension von
Dr. Dirk Baier
Leiter Institut Delinquenz und Kriminalprävention, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Departement Soziale Arbeit
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