Ulrich Schneider (Hrsg.): Kampf um die Armut
Rezensiert von Oliver Käch, 01.03.2016

Ulrich Schneider (Hrsg.): Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen Mythen. Westend Verlag GmbH (Frankfurt) 2015. ISBN 978-3-86489-114-4. D: 14,99 EUR, A: 15,50 EUR, CH: 21,90 sFr.
Thema und Entstehungskontext
Im unerbittlichen Kampf um die Deutungshoheit über den Armutsbegriff wirkt die neoliberale Politik mittels Umdeutungs- und Verleugnungsstrategie daraufhin, die Armut, die nicht zuletzt auch Interessen und Privilegien zur Disposition stellt, wegzureden. Vor diesem Hintergrund versammelte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Berlin, vier etablierte Wissenschaftler auf dem Gebiet der Armuts- und Sozialpolitik, um diesen emotional geführten Kampf um die Armut unter politischen, ökonomischen und ethischen Gesichtspunkten zu beleuchten.
Aufbau und Inhalt
Der hier rezensierte Sammelband setzt sich aus Beiträgen von Christoph Butterwegge, Stefan Sell, Friedhelm Hengsbach, Rudolf Martens sowie dem Eröffnungsbeitrag vom Herausgeber selbst zusammen.
Zu: Armut kann man nicht skandalisieren, Armut ist der Skandal! Vom Kampf um die Deutungshoheit über den Armutsbegriff (Ulrich Schneider). Schneider argumentiert in seinem Beitrag gegen den der Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze zugrunde liegenden absoluten Armutsbegriff, an dem die konservativ-liberalen und neoliberalen Kräfte festhalten. Der absolute Armutsbegriff trage einerseits dem gesellschaftlichen Wandel nur unzureichend Rechnung und berücksichtige andererseits den gesellschaftlichen Reichtum bei der Bestimmung von Armut ungenügend. Schneiders Plädoyer gilt dem Konzept der relativen Einkommensarmut, welches Armut in Relation zum gesellschaftlichen Wohlstand (Median-Einkommen) definiert. Durch den Anbindungsmechanismus an die Mitte der Gesellschaft verhindere es am konsequentesten die Abkoppelung der Armen resp. ermögliche Teilhabe und sichere so die soziale Kohäsion. Das Konzept der relativen Armut bildet auch die Basis für den Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Mit seinen Befunden – eine Armutsquote in der Höhe von 15,5 Prozent als Rekordhoch sowie eine Aufwärtstendenz seit 2006 – sorgte der im Frühjahr 2015 vorgestellte Bericht für Furore in Politik und Presse. Der Autor stellt sich der heftigen öffentlich-medialen Kritik, in deren Rahmen auf der einen Seite konzeptionell-methodische Aspekte zur Diskussion gestellt werden, auf der anderen Seite aber auch emotional geladene Polemik betrieben wird; er arbeitet sich an den mehr oder – meist – weniger begründeten Einwänden ab und entkräftet diese schrittweise.
Zu: Armut – sozialpolitischer Kampfbegriff oder ideologisches Minenfeld? Verdrängungsmechanismen, Beschönigungsversuche, Entsorgungstechniken (Christoph Butterwegge). Vorab führt Butterwegge soziologisch in den Armutsbegriff ein und betont die Relativität sowie die soziale Konstruiertheit der Armut. Auf dieser Folie nimmt der Autor eine Analyse des politisch-medialen und teilweise fachlichen Diskurses vor und verdeutlicht, dass sich das Armutsbild in der Bundesrepublik vorwiegend an der dritten Welt orientiert. Entlang von den neoliberalen Diskurs prägenden Akteuren wie etwa dem Statistikprofessor Krämer, Guido Westerwelle oder auch Thilo Sarrazin illustriert der Autor, wie Armut in Deutschland bagatellisiert und verleugnet wird – beispielsweise indem relative Armut als schlechtes Mass für Ungleichheit abgetan wird; Armut nicht im Vergleich zu den spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern in Relation zur dritten Welt definiert und an ein physisches Existenzminimum gebunden wird; das Problem der Armut von strukturellen Ursachen abgekoppelt resp. individualisiert wird. Als Kernproblematik im armutspolitischen Kampf identifiziert Butterwegge die Umverteilungsfrage und verweist darauf, dass absolute Armut karitativ bearbeitet werden kann, mit relativer Armut hingegen Umverteilung einhergeht. Die neoliberale Politiklinie rekonstruiert der Autor zu guter Letzt auch bei den Grosskoalitionären, die die Armutsproblematik durch die Befolgung vom „Merkel-Mantra ‚Keine Steuererhöhungen – für niemand!‘“ (83) und dem gleichzeitigen Verweis auf den funktionierenden Sozialstaat negieren.
Zu: Das ist keine Armut, sondern „nur“ Ungleichheit? Plädoyer für eine „erweiterte Armutsforschung“ durch eine explizit ökonomische Kritik der Ungleichheit (Stefan Sell). Im Rückgriff auf den ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vom Jahr 2001 macht Sell auf die „irritierende[.] Vielfalt an ‚Armutsquoten‘“ (92) aufmerksam, die aus einer fehlenden Einigung auf eine Definition von Armut resultiert. Die Bundesregierung bezog sich dabei auf das mehrdimensionale Lebenslagenkonzept, um die Armutssituation in Deutschland umfassend zu analysieren resp. sich nicht auf die Ausweisung von Einkommensarmut zu beschränken. In diesem Zusammenhang plausibilisiert Sell das Konzept der relativen Einkommensarmut als State of the Art in der Armutsforschung, indem er auf die bisher nur unbefriedigend gelöste methodische Schwierigkeit einer kohärenten messtechnischen Abbildung der Mehrdimensionalität des Lebenslagenkonzepts verweist. Um das mancherorts im politisch-medialen Umfeld, vor allem aber von Ökonom(inn)en immer noch beklagte Konzept der relativen Einkommensarmut zu verteidigen, nimmt Sell eine explizit ökonomische Perspektive ein: Auf der Grundlage aktueller wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse zeigt er auf, dass hohe Ungleichheit sich negativ auf die Stabilität der Wirtschaft auswirkt.
Zu Friedhelm Hengsbach: Armut wird gemacht. Das Versagen der politischen Klasse, den gesellschaftlichen Reichtum gerecht zu verteilen (Friedhelm Hengsbach). Entlang von Ungleichheitskategorien wie z.B. Arbeit, Einkommen, Vermögen, Geschlecht, Bildungszugang veranschaulicht Hengsbach das in Deutschland vorherrschende und wachsende Ungleichheitsverhältnis. Er zeigt auf, wie die von gesellschaftlichen und räumlichen Polarisierungsprozessen durchzogene „zerklüftete Republik“ (120) durch die einseitige Rechtfertigungsmacht in der Gesellschaft legitimiert wird: Die bürgerliche Mitte, die die wachsende Armut mit Hilfe eines absoluten Armutsbegriffs beschönigt, mittels Mobilisierung von Leistungsmythen individualisiert und moralisiert und dem Eigentum eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Funktion zuweist; die politischen Eliten, die die gesellschaftliche Polarisierung normativ und politisch rechtfertigen, indem sie die Verteilungsgerechtigkeit durch Leistungsgerechtigkeit ersetzen und diese mittels entsprechenden finanz- und steuerpolitischen sowie arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Massnahmen absichern; die Klasse der Kapitaleigner, die die wachsende Ungleichheit mit der kapitalistischen Verteilungsregel rechtfertigen, wonach die Ressourcen Arbeit, Umwelt und Gesellschaft mit möglichst niedrigem Entgelt (Lohn, Abgaben und Steuern) abgefunden werden. Vor dem Hintergrund, dass die Gerechtigkeitsfrage der politischen Gestaltungsmacht unterliegt und die gesellschaftliche Rechtfertigungsmacht somit den Kern der Gerechtigkeitsfrage ausmacht, weist der Autor das allgemein und wechselseitig zugestandene Recht auf Rechtfertigung als Gerechtigkeit aus. So gesehen sind gerechte Verhältnisse dadurch bestimmt, dass sie nicht nur von einer einseitigen gesellschaftlichen Rechtfertigungsmacht, sondern wechselseitig von den Betroffenen gerechtfertigt werden können. Auf dieser Folie plädiert Hengsbach für faire Arbeitsverhältnisse (durch Teilhabe der Arbeitnehmenden an Unternehmensentscheidungen und eine trilateralen Tarifpartnerschaft), faire Vermögensverhältnisse (durch Vermögenssteuer und veränderte Erbschaftssteuer), faire Geschlechterverhältnisse (durch das Ablegen einer Männlichkeit im Sinne des Ernährer- und Beschützermodells) und faire Zeitverhältnisse (durch Arbeitszeitumverteilung).
Zu: Armut im Überfluss. Was uns das Wachsen der Tafeln über Armut in Deutschland verrät (Rudolf Martens). Im abschliessenden Beitrag geht Martens der Frage nach, in welcher Weise die Zunahme von Tafeln (Verteilung überschüssiger Lebensmittel an Obdachlose) mit der Entwicklung der Armut zusammenhängt. Dazu zeichnet der Autor einerseits das explosionsartige Wachstum der Tafeln und andererseits die Armutsentwicklungen in Deutschland nach, um auf dieser Grundlage aufzuzeigen, dass sich der Adressatenkreis der Tafeln markant ausgeweitet hat: neben den Obdachlosen zählen heute Empfänger/innen von Hartz IV, Erwerbstätige im Niedriglohnsektor, Rentner/innen (Grundsicherung im Rahmen des SGB XI), armutsbetroffene Kinder und Jugendliche sowie junge Erwachsene zu ihrer Klientel. Martens macht auf die Bedarfslücken aufmerksam, die aus den zu niedrig angesetzten Regelsätzen der gesetzlichen Grundsicherung insbesondere bei langer Bezugsdauer entstehen. In den Bedarfslücken ist zugleich die Funktion der Tafel begründet: Verminderung eben dieser zur Sicherstellung des Existenzminimums – ein unverzichtbares Element oder „notwendiges Übel“ (174) im sozialstaatlichen System.
Diskussion
Die Beiträge ähneln sich zwar vorwiegend hinsichtlich des inhaltlichen Gegenstands – die Armutsdebatte im politisch-medialen Diskurs –, unterscheiden sich jedoch in ihren Perspektiven: Schneider tritt in der Rolle des sozialpolitischen Akteurs auf, Butterwegge legt einen diskursanalytischen Fokus, Sell wirft einen ökonomischen Blick und Hengsbach rückt ethische Überlegungen ins Zentrum. Über die einzelnen Beiträge hinweg wird das Konzept der relativen Einkommensarmut verteidigt, das sich in der Armutsforschung zu Recht auch durchgesetzt hat. Auf dieser Basis werden die Dimensionen des Armutsproblems in Deutschland verdeutlicht; stellenweise wird auf aussichtsreiche politische Lösungsansätze aufmerksam gemacht oder es werden gar welche vorgeschlagen – besonders hervorzuheben in diesem Zusammenhang ist der Artikel von Hengsbach, ferner jener von Martens. Die einzelnen Beiträge überzeugen durch Sachlichkeit, Fachlichkeit und Differenziertheit in dieser mit hoher Emotionalität geführten, moralisch aufgeladenen Debatte um die Armut.
Wünschenswert wäre eine theoretische Annäherung an den Neoliberalismus gewesen – nicht zuletzt weil dieses Machtphänomen in adjektivierter Form im Buchtitel figuriert. Hengsbach skizziert in seiner Abhandlung zwar den neoliberalen Diskurs in seinen Absichten und Inhalten, seiner Verbreitung und seinen realpolitischen Auswirkungen und reichert diesen auch aus (neo-)marxistischer Perspektive theoretisch an, er weist den umrissenen Diskurs aber nicht ausdrücklich als neoliberal aus, geschweige denn führt er gezielt in den Neoliberalismus als Theoriebegriff ein. Während Butterwegge den Armuts- und Sell den Lebenslagenbegriff als soziologische Begriffe explizit aufgreifen, wird an keiner Stelle im Band systematisch auf den Neoliberalismus als theoretische Kategorie eingegangen. Eine Annäherung etwa aus governancetheoretischer Perspektive ermöglichte aber einerseits den Neoliberalismus als Regierungsrationalität und regierungsförmigen Machttypus zu fassen und ihn dadurch in seiner Tragweite zu verdeutlichen, andererseits seine Intentionen und Zielsetzungen offenzulegen, um vor diesem Hintergrund die im Band problematisierten politischen Strategien und Taktiken als sinnlogische Konsequenz hervorzuheben. Da der Sammelband aber keine theoretische Aufarbeitung vom Konnex zwischen Armut und Neoliberalismus beabsichtigt, ist diese Kritik bis zu einem gewissen Grad vernachlässigbar. Der Fokus des Bandes liegt vielmehr auf den sozialpolitischen, öffentlich-medialen, ökonomischen und ethischen Aspekten, die mit der Armut im Zusammenhang stehen. Durch dieses Augenmerk adressiert der Band nicht nur ein akademisches Publikum, sondern vor allem auch kritische Geister mit einem Interesse am sozialpolitischen Geschehen.
Fazit
Der nahe an der sozialpolitischen Aktualität verortete Sammelband überzeugt durch sachliche und differenzierte Argumentation im emotional geführten Kampf um die Armut. Durch die Lektüre werden nicht nur die Ausmasse der Armutsproblematik deutlich, sondern auch die Bagatellisierungs- und Negierungsmuster im konservativ-liberal und neoliberal gefärbten politisch-medialen Diskurs. Die Autoren verzichten dabei nicht darauf, stellenweise auf politische Lösungsansätze hinzuweisen oder auch selbst welche vorzuschlagen.
Rezension von
Oliver Käch
Wissenschaftlicher Assistent an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz
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Zitiervorschlag
Oliver Käch. Rezension vom 01.03.2016 zu:
Ulrich Schneider (Hrsg.): Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen Mythen. Westend Verlag GmbH
(Frankfurt) 2015.
ISBN 978-3-86489-114-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20011.php, Datum des Zugriffs 27.03.2023.
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