Ruth Warger: Der plötzliche Todesfall Jugendlicher
Rezensiert von Dipl. Päd. Martin Zauner, 10.03.2016
Ruth Warger: Der plötzliche Todesfall Jugendlicher - Unterstützungsmöglichkeiten in der Schule. Ein Handbuch für Schulleitung, Lehrpersonal, Krisenteams an Schulen sowie schulexterne psychosoziale und psychologische Fachkräfte.
Studia Verlag
(Innsbruck) 2015.
96 Seiten.
ISBN 978-3-903030-12-1.
D: 19,90 EUR,
A: 19,90 EUR.
Band 3 der Reihe Krisenintervention und Notfallpsychologie; herausgegeben von Barbara Juen und Dietmar Kratzer.
Thema
Die Ausgangslage ist schrecklich. Eine Schülerin, ein Schüler ist gestorben. Vielleicht hat das Herz einfach aufgehört zu schlagen, vielleicht gab es einen Unfall. Vielleicht ist das in der Schule passiert, oder auf dem Schulweg? Die Anderen sind schockiert, verstehen nicht, suchen und finden keine Antworten auf unendliche Fragen.
Die allerwenigsten Schülerinnen und Schüler (das Buch fokussiert das aus entwicklungspsychologischer Sicht generell schwierige Jugendalter) verfügen über ein adäquates Reaktionsrepertoire auf solche potentiell traumatisierenden Ereignisse. Und nicht nur die! Niemand ist in beschriebenen Situationen „routiniert“, auch Schulleitungen und Lehrkräfte nicht. Die wenigsten haben Gott sei Dank entsprechende persönliche Erfahrungen … und jetzt ist es doch geschehen. Und die Schule, die ganz konkrete Schule vor Ort, muss reagieren, besser: sie muss trotz dieser schrecklichen Situation oder gerade deswegen funktionieren. Dazu benötigt insbesondere die Schulleitung als zentral zuständig für die Koordination des Krisenmanagements, dazu brauchen Lehrkräfte und alle anderen Personen im Helfersystem Unterstützung: Informationen über Bedürfnisse und (psychische) Reaktionen der Jugendlichen, über regelungs- beziehungsweise lösungsorientierte Strategien und Prozesse und anderes mehr. Das klingt „technokratisch“? Ja, genau. Die Funktionsfähigkeit darf in solchen Extremsituationen nicht verloren gehen, obwohl man selbst psychisch höchst angespannt ist. Die Schülerinnen und Schüler brauchen eine angemessene Unterstützung auf ihrem Weg aus dieser Krise zurück in die Normalität. Daraus ergibt sich, so die Ansicht des Rezensenten, die Erwartungshaltung an das vorliegende Buch.
Autorin
Mag.a Dr.in Ruth Warger ist Klinische und Gesundheitspsychologin, Notfallpsychologin. Sie arbeitet als Projektmitarbeiterin am Institut für Notfallpsychologie der Universität Innsbruck und ist Mitglied der Arbeitsgruppe Notfallpsychologie. Zudem ist sie stellvertretende fachliche Leiterin der Krisenintervention (KI) und Einsatzkräftenachsorge (SvE) im Österreichischen Roten Kreuz (ÖRK) Tirol und Trainerin in diesen Bereichen. Ferner ist sie auch in freier Praxis tätig (so wörtlich dem Umschlagstext des Buches entnommen). Weitere Informationen finden sich auf der leicht aufzufindenden Homepage der Autorin.
Entstehungshintergrund
Das Thema brennt und es ist sehr sinnvoll, dass sich Experten damit auseinander setzen. Es gibt noch nicht allzu viel dazu. Frau Dr. Ruth Warger befasst sich offensichtlich seit längerem mit Kriseninterventionen. Ihre (unveröffentlichte) Dissertation (2014/Universität Innsbruck) „Der plötzliche Todesfall im schulischen Kontext“, die sich mit der zentralen Fragestellung nach Bedürfnissen und Reaktionen der beteiligten Personengruppen und nach sinnvollen psychosozialen Interventionen beschäftigt, ist daher konsequent. Das hier zu diskutierende Buch scheint wiederum eine Konsequenz aus der Dissertation zu sein, aus dieser abgeleitet, gekürzt und für die Praxis aufbereitet.
Aufbau
„Das Handbuch beschäftigt sich mit plötzlichen Todesfällen jugendlicher Schüler/innen, aus unterschiedlichen Perspektiven und verfolgt einen systemischen Ansatz“ (S.15). Dazu befasst sich die Autorin in einer überwiegend sehr komprimierten Form mit den Themenfeldern
- das System Schule und die Rolle im Krisenmanagement
- entwicklungspsychologische Besonderheiten des Jugendalters
- Trauma und Trauer
- plötzlicher Todesfall im schulischen Kontext
- Reaktionen und Bedürfnisse der beteiligten als relevant definierten Personen beziehungsweise Personengruppen
- Interventionsmöglichkeiten
Im Anhang finden sich einige Checklisten.
Inhalt
Das Buch folgt einer einleuchtenden „deduktiven“ Logik, indem einige wesentliche Aspekte vor dem eigentlichen Thema „Tod und Umgang damit“ kurz beschrieben werden.
Somit geht es in Kapitel 1 zunächst eher definitorisch um „Krise“ als situations- wie personenabhängiger Überforderungsreaktion und um deren Differenzierung in psychosozial oder traumatisch.
Kapitel 2 beleuchtet die Rolle der Schule im Umgang mit Krisen. Es wird die Wichtigkeit eines übersituativ guten Schulklimas betont sowie gute Strukturen des Zusammenwirkens von beteiligten Personen und Gruppen im Krisenfall. Die Autorin verweist daneben auf die zunehmende Bedeutung von außerfamiliären Unterstützungssystemen im Jugendalter und führt wissenschaftliche Belege für die potentielle Schutzwirkung der Schule in Krisensituationen an: das soziale Umfeld insgesamt, im Konkreteren die Struktur einer Schule, gute und vertrauensvolle Beziehungen zu den Lehrerinnen und Lehrern könnten die Resilienz der Schülerinnen und Schüler im Vorfeld der Krise positiv entwickeln. Dafür gelte es den Boden zu bereiten.
Die Tatsache, dass in den Jugendlichen sehr spezielle Menschen begleitet werden sollen, ist Thema des Kapitels 3. Vor dem Hintergrund der großen körperlichen, kognitiven und psychisch-emotionalen Veränderungen – hier verweist das Buch kurz auf klassische Eckpfeiler der Entwicklungspsychologie – kann die Zielgruppe (auch) in der Stressregulierung extrem reagieren: extrem sensibel, extrem egozentrisch, extrem risikobereit. Das muss zweifelsohne bedacht und berücksichtigt werden.
Im Blick des Kapitels 4 stehen traumatische Stressreaktionen, die sich auf verschiedenen Ebenen manifestieren und individuell höchst unterschiedlich ausfallen können. Funktional sind sie dabei eher als problemfokussierend (Intrusion, Flashbacks) oder aber emotionsregulierend (Vermeidung, Verleugnung) einzuordnen. Beides gelte für die Traumaverarbeitung als notwendig, es komme aber auf die günstige Balance an. Um die jeweiligen Anpassungs- bzw. Bewältigungsstrategien der Schülerinnen und Schüler zu verstehen und um angemessen unterstützen zu können, müssen deren Bedürfnisse erkannt werden. Diese sind natürlich in erster Linie individuell. Die Autorin weist aber darauf hin, dass es auch Alterseffekte gibt: jüngere Schülerinnen und Schüler neigen zu emotionsregulierendem Coping, d.h. sie sprechen über ihre Gefühle, ältere eher zu problemfokussierenden Strategien, d.h. sie denken verstärkt über Erklärungen und Lösungen nach. Ein Todesfall könne dabei, so die Autorin, eine große, alles hinterfragende Sinnkrise auslösen, die auch zu negativen, riskanten und extremen Reaktionsformen verleite.
Kapitel 5 „Trauer“ definiert zunächst diese als immer an ein Verlusterlebnis gebunden, welches per se im Sinne von Bowlbys Bindungstheorie „genotypisch“ hochstressend und traumatisierend wirken kann. „Phänotypisch“ zeigt sich Trauer sehr unterschiedlich. Die Autorin verweist zur Orientierung kurz auf einige deskriptiv-phasenorientierte bzw. auf der anderen Seite eher aufgabenfokussierende Trauermodelle und listet potentielle Einflussfaktoren auf das individuelle Trauerempfinden auf. Zum Kapitelende finden sich Aspekte zur Differenzierung zwischen einer Trauerarbeit, die als „normal“ zu betrachten ist, und einer solchen, die als kontraproduktiv beziehungsweise auch pathologisch anzusehen wäre.
Das mit „der plötzliche Todesfall im schulischen Kontext“ überschriebene Kapitel 6 nennt mögliche Einflussfaktoren auf die als zentral erachteten Bedürfnisse und Reaktionsweisen von Jugendlichen, Eltern, Lehrkräften und Schulleitung. Die Autorin beschreibt hier eher spotartig Erkenntnisse aus ihrer Dissertation.
Kapitel 7 nimmt den Ball auf und kümmert sich konkreter um Betroffenheiten, Bedürfnisse, Reaktionen und je nach dem auch Rollen, Aufgaben und Kompetenzen der einzelnen von der Autorin als relevant erachteten Personen und Gruppen im System Schule. Diese werden der Reihe nach aus ihrer jeweiligen Perspektive heraus beleuchtet:
- die Schulleitung: als in der Konsequenz hauptverantwortlich in der Krisensituation
- das Lehrerkollegium: eigene Reaktionen, Haltungen und Verhalten den Schülern/innen gegenüber …
- (jugendliche) Schülerinnen und Schüler (auch in der Rolle als Zeug/in)
- Eltern und ihre Reaktionen und Erwartungen (das Buch nimmt hier eine Differenzierung zwischen direkt vom Todesfall betroffenen Eltern und denen der Mitschülerinnen und -schüler vor).
Zum besseren Überblick finden sich im Kapitel 7 (und ein zweites Mal am Buchende) für jede genannte Gruppe Übersichtstafeln zu den zu erwartenden Reaktionen und Bedürfnissen.
Haben die bisherigen Kapitel etliche Aspekte diskutiert, die die Situation nach einem Todesfall an oder im Umfeld der konkreten Schule bestimmen können, so stellt sich jetzt definitiv die Frage, wie damit von verantwortlicher Seite umgegangen werden sollte.
Damit befasst sich Kapitel 8. Im ersten eher allgemeinen Teil werden beispielsweise Wirkfaktoren als Zielorientierung möglicher konkreter Interventionen beschrieben. Des Weiteren finden sich Hinweise auf Richt- und Leitlinien verschiedener Organisationen, aus denen „… allgemeine Erkenntnisse für die Unterstützung von Schulen in Krisensituationen gewonnen werden können …“ (S.63). Der zweite Teil des Kapitels fokussiert konkreter und angekündigt überblicksweise Handlungs- und psychosoziale Unterstützungsmöglichkeiten im System Schule. Die Autorin bezieht sich hierfür auf schulspezifische Richtlinien und konkrete Notfallpläne aus dem deutschsprachigen Raum, die sie im Rahmen ihrer Dissertation gesammelt und ausgewertet hat. Nach ihren Angaben fänden sich dabei konsensfähig folgende Interventionsformen:
- Informationsmanagement (wer, was, wie, wann, wem/n)
- Umgang mit Medien (wer, wie)
- Gruppenangebote für Schülerinnen und Schüler (warum/wozu, wie, wer)
- Rituale (wozu, wie, was)
- Besonderheiten für schulexterne Helfer/innen (wozu, was).
Ohne Zweifel ist es zur Vermeidung von chaotische Szenen, Handlungslähmungen und Überforderungsgefühlen günstig, wenn die Schule vorbereitet ist, d.h. wenn sie auf bereits existierende Strukturen, Materialien, Netzwerke zurückgreifen kann und diese im akuten Krisenfall nicht erst erarbeiten muss. Die Autorin verweist im dritten Teil des Kapitels auf entsprechende Möglichkeiten: in erster Linie die Institutionalisierung eines Krisenteams, des Weiteren etwa Materialkisten mit konkreten Prozessbeschreibungen, Checklisten und wichtigen Netzwerkadressen, im Vorfeld geklärte Zuständigkeiten z.B. für den Umgang mit Medien.
Im Anhang befinden sich einige Checklisten für die allgemeine Orientierung und, spezifischer, zur Unterstützung der Schulleitung, des Lehrpersonals, zur Durchführung einer ersten Gruppenintervention.
Diskussion
Das ist jetzt der schwierige Teil dieser Rezension. Es soll die Qualität des zu besprechenden Handbuches diskutiert werden, die sich, wenn die Ausgangserwartung des Rezensenten richtig ist, am konkreten Nutzen für die Leserschaft misst. Unverkennbar möchte die Autorin ihren Beitrag dazu leisten, Schulen beziehungsweise das System Schule für den Umgang mit plötzlichen Todesfällen von Schülerinnen oder Schülern kompetenter aufzustellen. Das ist ein sehr wichtiger Ansatz.
Laut Umschlagtext richtet sich das Buch an Schulleitungen, an Lehrerinnen und Lehrer, an Krisenteams der Schulen und an schulexterne psychosoziale und psychologische Fachkräfte. Das ist bei genauerer Betrachtung eine ziemlich bunte Gruppe, die potentiell das komplette Kontinuum zwischen „richtig naiv“ und „sehr kompetent“ abdeckt. Dass ein zu erwartender Nutzen hier recht ungleich verteilt sein dürfte, liegt auf der Hand.
Nun, was ist festzustellen? „Handbuch“ ist zunächst ein ungeschützter Begriff. Aber es besteht nach Meinung des Rezensenten doch irgendwie die Erwartungshaltung, tendenziell umfassend aus verschiedenen Perspektiven heraus mit einer Thematik vertraut gemacht zu werden. Dieses Handbuch ist knapp 80 Textseiten dünn. Es soll an dieser Stelle zwar nicht das Format per se hinterfragt werden, aber es zeichnet sich natürlich ab, dass auf begrenztem Raum schwerlich umfassende Information Platz findet.
Die Leserschaft wird definitiv mit vielen wesentlichen Gesichtspunkten befasst. Diese präsentieren sich aber eher andiskutiert. Als Belege dienen an ungezählten Stellen Namen von Verfassern anderer Publikationen. Das sind irgendwie schon Argumente, Erklärungen sind es aber nicht. Das Buch erklärt wenig. Es deutet Situationen und Szenarien an, die sich im Krisenfall ergeben können und dann wieder nicht oder ganz anders. Das ist manchmal sehr interessant, manchmal auch eher belanglos, sicher alles richtig, das wird überhaupt nicht bestritten. Aber es darf die Frage nach dem konkreten Nutzen für oben genannte Zielgruppen gestellt werden, vor allem für die „naiven“. Es erschließen sich durchaus Interventions- bzw. Reaktionsorientierungen, mehr aber eher nicht. Konkreteres Handlungswissen bietet sich nicht wirklich, vielleicht geht das auch nicht.
Es drängt sich etwas der Eindruck auf, dass dieses Handbuch eine verkürzte Ausgabe der Dissertation der Verfasserin ist. Es tritt wissenschaftlich auf, (be-)nennt Zusammenhänge, dies auch mehrperspektivisch, belegt das wissenschaftlich seriös mit vielen Quellenangaben, vertieft oder erklärt aber wenig. Ein weiterer Hinweis auf diese Vermutung findet sich auch in der doch unüblichen Gliederungslogik: ein Punkt 7.1.1 kommt ohne folgenden 7.1.2 aus, bei 7.2.1 und 7.3.1 verhält es sich ebenso. Ist hier also einfach etwas (aus der Diss.) weggelassen worden?
Fazit
Wer könnte einen Nutzen aus dem Buch ziehen? Das hängt sicher mit der jeweiligen Erwartungshaltung zusammen. Ein Praxishandbuch ist das nach Auffassung des Rezensenten nicht und deshalb sollte man sich gegebenenfalls von einer solchen Erwartung verabschieden.
Die Autorin benennt aber überblicksweise und komprimiert wichtige Aspekte, die im Falle dass … in die Situation einwirken können und daher bedacht werden sollten.
Der Nutzen liegt genau darin: Das Buch ist schnell gelesen, es eröffnet das Problemfeld, kann eine erste Orientierung, einen ersten Überblick bieten. Zur thematischen Vertiefung eignet es sich als Exklusivquelle aber weniger.
Rezension von
Dipl. Päd. Martin Zauner
Dipl.Päd.(univ), Dipl.Sozialpäd.(FH), Mediator (BM), AkadOR an der Fakultät Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg (Lehrgebiete: Gruppenarbeit, Teamführung /-entwicklung, Mediation, Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, Schulsozialarbeit)
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Zitiervorschlag
Martin Zauner. Rezension vom 10.03.2016 zu:
Ruth Warger: Der plötzliche Todesfall Jugendlicher - Unterstützungsmöglichkeiten in der Schule. Ein Handbuch für Schulleitung, Lehrpersonal, Krisenteams an Schulen sowie schulexterne psychosoziale und psychologische Fachkräfte. Studia Verlag
(Innsbruck) 2015.
ISBN 978-3-903030-12-1.
Band 3 der Reihe Krisenintervention und Notfallpsychologie; herausgegeben von Barbara Juen und Dietmar Kratzer.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20029.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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