Nico Stehr, Marian Adolf: Ist Wissen Macht?
Rezensiert von Dr. Peter A. Schmid, 29.09.2016
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Nico Stehr, Marian Adolf: Ist Wissen Macht? Erkenntnisse über Wissen. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2015. 275 Seiten. ISBN 978-3-95832-074-1. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.
Thema
Die moderne Gesellschaft kann mit Fug und Recht als Wissensgesellschaft bezeichnet werden. Wissen spielt für das „soziale, wirtschaftliche und politische Leben“ (S 220) eine vielfältige und zentrale Rolle, die noch weiter wächst. Erstaunlich ist dabei, dass der Begriff des Wissens alles andere als eindeutig ist. Er kommt in vielen Komposita vor und erfährt vielfältige Interpretationen. Die Autoren unternehmen im vorliegenden Buch den Versuch, diesen vielfältigen Aspekten des Wissens nachzugehen und die Rolle des Wissens in verschiedene Gesellschaftsbereiche aufzuzeigen. Dabei stellen sie vielfältige Fragen, die kenntnisreich und ausführlich beantwortet werden: Wo und von wem wird Wissen produziert, wie unterscheiden sich Wissensarten, und welche soziale Auswirkungen zeitigt es? Kann man Wissen als Ware begreifen, braucht es so etwas wie eine Wissenspolitik, und leben wir nicht längst in einer Wissensgesellschaft?
Die Autoren wählen für ihre Untersuchungen einen soziologischen Ausgangspunkt und verstehen Wissen nicht als philosophische oder wissenschaftstheoretische Problematik, sondern konsequenterweise als soziales Geschehen. Wissen wird für sie damit zu einer „Fähigkeit des Handeln“ (S. 65), eröffnet also vornehmlich Handlungsmöglichkeiten für die Wissenden oder, um mit dem Titel der Untersuchung zu sprechen, Möglichkeiten des Handelns im Sinne der Macht, verstanden als Vermögen etwas zu tun (potentia). Wissen verweist also auf Möglichkeiten etwas zu tun, wobei das Tun zumindest beim expliziten Wissen vom faktischen Handeln unterschieden ist. Aufgrund dieses Gedankens widmen die Autoren einen gewichtigen Teil der Studie auch der Frage nach der „Transformation von Handlungswissen in praktisches Wissen“ (S. 180). In diesem Zusammenhang thematisieren Sie auch die wichtige Frage des Verhältnisses von Wissen und Demokratie (Teil 8) bzw. zwischen Demokratie und Expertenwissen.
Autoren
Nico Stehr, PhD, Prof., Inhaber des Karl Mannheim-Lehrstuhls für Kulturwissenschaften an der Zeppelin Universität Friedrichshafen.
Marian Adolf, Prof. Dr., Kommunikationswissenschaftler, Professor für Medienkultur an der Zeppelin Universität Friedrichshafen.
Aufbau und Inhalt
Im ersten und zweiten Teil des Buches gehen die Autoren den klassischen Begriffen des Wissens nach und klären mit vielen historischen Bezügen das Wissen über Wissen. Mit den Bezügen auf dieses Wissen über das Wissen entwickeln sie ihren eigenen soziologischen Begriff des Wissens. Dieser Wissensbegriff ist „gesellschaftlich konstruktiv“ und geht konsequent davon aus, dass Wissen als „Handlungsvermögen“, also als „Möglichkeit, etwas in Gang zu setzen“ (S. 32) verstanden werden muss. Insofern wird dann der Begriff der Erkenntnis, der ja demjenigen des Wissens nahe steht, nicht im klassischen Sinne als Transformation von Unbekanntem in Bekanntes verstanden, sondern als Erweiterung des Volumens existierender Handlungsmöglichkeiten.
Der dritte Teil wehrt in der Konsequenz verschiedene Konzepte des Nichtwissens ab. Die Vorstellung vom Nichtwissen wird dabei von den Autoren als ungenau und mithin als mythisch abgewiesen. Für sie gibt es nur mehr oder weniger Wissen, aber kein Nichtwissen. Entscheidend ist nun, dass das Wissen ungleich verteilt sein kann, dass es also asymmetrisch streut, dass es Gruppen gibt, die mehr oder anderes wissen als andere. Niemand kann alles wissen und auch in Hinblick des Wissens kann von einer arbeitsteiligen Gesellschaft gesprochen werden. Wissenslücken sind konstitutiv für solche Gesellschaften.
Eine der klassischen Fragen, der im vierten Teil aber auch an anderer Stelle nachgegangen wird, ist das Verhältnis von Theorie und Praxis. Wird jedes Wissen automatisch umgesetzt oder, in der soziologischen Diktion der Autoren, wird jede Handlungsmöglichkeit zu einer Handlungswirklichkeit? Dem ist nicht so, vielmehr bedarf es der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, um den Transfer in die Praxis zu ermöglichen. Dazu bedarf es einer Politik des Wissens.
Nachdem die Autoren im fünften und sechsten Teil verschiedene Formen des Wissens diskutiert haben und dabei auch das Konzept der Globalisierung des Wissens kritisch beleuchtet haben, wenden sie sich in den Teilen sieben, acht und neun einer Reflexion über Expertenwissen und Demokratie und Wissen zu. Bemerkenswert ist dabei, dass sie gerade in Zeiten der Verwissenschaftlichung der Lebenswelt dem Expertenwissen gegenüber skeptisch eingestellt sind und der demokratischen Steuerung von Wissen und Umsetzung von Wissen – trotz aller Hindernisse – das Wort sprechen. Nur durch mehr Demokratie kann die gerechtere Verteilung des Wissens gesichert werden. Auch wenn es seit jeher verführerisch ist, den wissenden Experten mehr Macht zu geben, so ist es für die Autoren zentral, dass die Politik hier die Steuerung behält. Nur eine demokratische Wissenspolitik kann jene Rahmenbedingungen schaffen, die eine Verteilung von Wissen als Handlungsmöglichkeit erlaubt, an der möglichst viele partizipieren können. Die Herstellung solcher Rahmenbedingungen ist für die Autoren zwingend, da das Praktisch-werden von Wissen nicht automatisch erfolgt und Wissen nicht „widerstandslos“ überzeugt (S. 204). Welches Wissen umgesetzt wird, ist also durchaus eine politische Machtfrage. Hier braucht es die „Interaktion zwischen der Zivilgesellschaft und den Trägern der wissenschaftlichen Expertise“ (S. 218). Nur einer solchen Wissenspolitik wird es gelingen, die Bedingungen herzustellen, um zukünftiges Wissen als zukünftige Handlungsmöglichkeit zu antizipieren und damit das Wissen zukunftsorientiertes Handeln zu sichern.
Zielgruppe
Das Buch richtet sich an Fachleute der Soziologie und der Sozialphilosophie.
Fazit
Das Buch leistet einen wichtigen Beitrag zur Wissenssoziologie, indem konsequent untersucht wird, was es bedeutet, wenn Wissen als soziales Geschehen verstanden wird. Die Überlegungen zum Spannungsverhältnis von Expertenwissen und demokratischer Steuerung von Wissen, sind sehr erhellend und überzeugen in ihrem Festhalten an der Demokratie. Wissen ist im Sinne der Autoren Macht nur im Sinne der Handlungsmöglichkeit (potentia). Um diese Handlungsmöglichkeiten nutzbringend in Wirklichkeit zu überführen, bedarf es einer demokratischen und aufgeklärten Wissenspolitik, die ernst nimmt, dass die „Entwicklung moderner Gesellschaften zu Wissensgesellschaften … zur Demokratisierung von Wissensansprüchen, die zunehmend disponibel und verhandelbar werden“ (S. 219), führt.
Grundsätzlich ist das Buch sehr gut lesbar. Phasenweise hätten eine stärkere Fokussierung und eine Reduktion der vielfältigen Bezüge nicht geschadet. Schade ist zudem, dass die englischsprachige Literatur in den Zitaten von den Autoren durchwegs übersetzt worden ist.
Rezension von
Dr. Peter A. Schmid
Dozent an der Hochschule für Soziale Arbeit in Luzern
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Zitiervorschlag
Peter A. Schmid. Rezension vom 29.09.2016 zu:
Nico Stehr, Marian Adolf: Ist Wissen Macht? Erkenntnisse über Wissen. Velbrück GmbH Bücher & Medien
(Weilerswist) 2015.
ISBN 978-3-95832-074-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20037.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
Urheberrecht
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