Massimo Livi Bacci: Kurze Geschichte der Migration
Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut M. Griese, 09.03.2016
Massimo Livi Bacci: Kurze Geschichte der Migration. Wagenbach Verlag (Berlin) 2015. 164 Seiten. ISBN 978-3-8031-2743-3. D: 10,90 EUR, A: 11,30 EUR, CH: 16,50 sFr.
Thema und Aktualität
Migration und Integration als Begriffspaar sind aktuelle Schlüsselworte im politisch-öffentlich-medialen und wissenschaftlichen Diskurs um das und im Einwanderungsland Deutschland. Die aktuelle Debatte um die (2015 die Millionengrenze erreichende) Zuwanderung durch Migranten, vornehmlich Flüchtlinge und Asylbewerber aus den Kriegsgebieten Syrien, Irak und Afghanistan sowie Nord- und Schwarzafrika, negiert oftmals die Jahrhunderte alten Wanderungsbewegungen in der Geschichte der Menschheit bzw. die Tatsache, dass „homo sapiens“ immer auch „homo migrans“ ist und war. Von daher lohnt, gerade angesichts des Aufkommens fremdenfeindlicher – und das heißt menschenfeindlich-rassistischer – Parolen und populistischer Gruppen, Bewegungen und Parteien wie Pegida oder die AfD, ein Blick auf die „Geschichte der Migration“ als Menschheitsgeschichte.
Autor und Entstehungshintergrund
„Massimo Livi Bacci, geboren 1936, war Professor für Demographie an der Universität in Florenz und Abgeordneter des Partito Democratico Italiens. Er hat zahlreiche Studien zur globalen Bevölkerungswanderung verfasst“ (Umschlagtext). Die vorliegende Studie erschien 2010 in italienischer Originalausgabe und wurde für die deutsche Ausgabe 2014 um das letzte Kapitel ergänzt bzw. aktualisiert.
Aufbau und Inhalt
Der Autor beginnt, nach einem Vorwort (S. 7ff) plus einem „Post scriptum“ von 2014 (S. 11f), mit drei eher allgemein und theoretisch gehaltenen Kapiteln (1-3), denen chronologisch gegliedert weitere fünf Kapitel (4-8) sowie das aktualisierte Schlusskapitel (9) folgen.
Sein Credo im Themenzusammenhang gibt der Demograph Bacci bereits im Vorwort kund: „Das vorliegende Buch will eine Überzeugung, die sowohl die Methode der Untersuchung als auch die Substanz des Phänomens betrifft, präzisieren, darlegen und beweisen: Sich räumlich zu bewegen ist eine ‚Wesenseigenheit‘ des Menschen, ein Bestandteil seines ‚Kapitals‘, eine zusätzliche Fähigkeit, um seine Lebensumstände zu verbessern“ (S. 8). Und er schließt sein Vorwort mit einem ähnlichen inhaltlich-programmatischen Statement: „Diese Seiten beruhen auf Überlegungen, Denkanstößen und Schriften, denen ich eine Einheit zu geben versuchte, ausgehend von der Annahme, dass die Migration eine grundlegende menschliche Eigenschaft und ein konstitutives Element einer jeden Gesellschaft ist“ (S. 10). Damit ist eigentlich alles über Ziel und Intention gesagt.
Im „Post scriptum“ spricht Bacci in prognostischer Hinsicht (2014) genau jenes Problem an, vor dem Europa und die EU gegenwärtig (zum Jahresbeginn 2015) stehen: Das für das Selbstverständnis von Europa fundamentale „Prinzip des freien Personenverkehrs“ ist angesichts der konfliktreichen und unsolidarischen EU-Flüchtlingspolitik aufs höchste gefährdet. Ich ergänze: Der drohende Verlust dieser Errungenschaft wird wahrscheinlich weitreichende ökonomische Folgen haben oder gar das Ende der europäischen Idee bedeuten!? Weiter glaubt Bacci nicht, dass Migrationen international zu lenken seien, da die Nationalstaaten nicht bereit sind, „auch nur einen kleinen Bruchteil ihrer Souveränität an eine supranationale Institution abzugeben“ (S. 12), was wohl nichts anderes als das Ende der europäischen Solidarität impliziert – falls diese jemals real existierte.
In den Theoriekapiteln orientiert sich der Autor an Erkenntnissen der Demographie und liefert dazu grundlegende Thesen, z.B.: Die Besiedlung der Welt beruht auf „zwei Kräften“, der „Fähigkeit zur Fortpflanzung und des demographischen Wachstums“ sowie die „Fähigkeit, den Lebensort zu wechseln, das heißt zu migrieren“ (S. 13f); „Migration ist dem Menschengeschlecht angeboren“ (S. 14); „Migrationsprozesse erzeugen Konflikte, Konfrontationen, Mischungen und Hybridisierungen – kultureller, bio-demographischer und sozialer Natur“ (S. 16); Migranten sind „eine Auswahl, die sich durch bestimmte Merkmale auszeichnet … das Alter, den Gesundheitszustand, die Körperkraft, die Widerstandsfähigkeit und die Neigung, etwas Neues auszuprobieren“ (S. 25); die Geburtenrate bzw. der „Fortpflanzungsvorteil“ der Einwanderer geht von Generation zu Generation zurück (S. 37). All diese Erkenntnisse der Demographie werden mit Zahlen und Fakten aus Altertum, Mittelalter und vor allem der frühen Neuzeit, z.B. die Besiedlung des amerikanischen Kontinents durch Europäer und Sklaven, akribisch belegt.
Ab Kapitel 4 beginnt die chronologische Abhandlung der „Geschichte der Migration“ in der Neuzeit mit den Abschnitten „1500 – 1800“ (S. 51ff), „1800 – 1913“ (S. 64ff), „1914 – 2010“ (S. 78ff), einer Art Exkurs über „Drei Globalisierungen, die Migrationen und der Durchbruch Amerikas“ (S. 92ff) sowie „2010 – 2050“ (S. 114-135) und das aktualisierte Endkapitel „Unterwegs – einer Ordnung folgend“ (S. 136ff). Dabei konstatiert Bacci zusammenfassend (S. 62f): „Mobilität über geringe, mittlere, große oder sogar sehr große Entfernungen stellt eine bedeutende Kraft in der neuzeitlichen europäischen Gesellschaft dar, mit komplexen Implikationen für Demographie, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Migrationen sind keine Begleiterscheinungen, sondern eine strukturelle Komponente des sozialen Lebens … diese hohe Mobilität kann als eine Folge des gestärkten Humankapitals gedeutet werden, dessen grundlegende Fähigkeit darin besteht, den Wohnort zu wechseln. Die erhöhte Mobilität wird von technologischen Neuerungen (Schifffahrt, Eisenbahn, Flugzeug, H.G.) unterstützt und gespeist“.
Weiter befasst sich Bacci mit dem „Massenphänomen“ der „europäischen Auswanderung ab den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts“ und nennt dazu Zahlen (z.B. 34,2 Millionen Einwanderer in die USA und ca. 17 Millionen nach Südamerika zwischen 1840 und 1932, S. 72f). „Die Auswanderung erreichte ihren Gipfel in den ersten fünfzehn Jahren des 20. Jahrhunderts, als jährlich eine bis anderthalb Millionen Europäer ihren Kontinent verließen“ (ebd.) – das entspricht, ich ergänze, in etwa der Zahl der 2015 nach Europa kommenden Migranten! Bei all den Zahlen und Beschreibungen von Migrationsprozessen wird deutlich: „Historisch betrachtet sind Migrationen ein Instrument zur Verbesserung der Lebensumstände, was ein viel weiterer Begriff ist als nur die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage“ oder „um einer Verschlechterung der Lebensumstände zu entkommen, wie der Verfolgung aus politischen oder religiösen Gründen, einer Umweltverschlechterung oder Kriegswirren“ (S. 74/ 75).
Mit Blick auf die Gegenwart kann mit Bacci festgehalten werden, dass Europa zwischen 1990 bis 2010 einen „migratorischen Netto-Gewinn von 28 Millionen verzeichnet“, so dass nunmehr von einer „Umkehrung des Zyklus“ und einer „Wende“ gesprochen werden kann, die „beinahe fünfhundert Jahre Migrationsgeschichte abschließt und den Kontinent aufs Neue in einen Importeur von Humanressourcen verwandelt, nachdem er zum Wachstum der Bevölkerung Amerikas, Ozeaniens, Südafrikas und Sibirien beigetragen hat“ (S. 81). In anderen Worten: „Der historische Rollenwechsel Europas vom Exporteur zum Importeur von Humanressourcen vollzieht sich also seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts“ (S. 88). Die Gegenwart in (West-)Europa ist charakterisiert durch einen Rückgang der Bevölkerung, geringe Auswanderungsquoten, starke ökonomische Unterschiede, eine „wachsende Einwanderung aus der armen Welt“, restriktive politische Maßnahmen und Zunahme von regionalen und globalen Konflikten, was insgesamt zu „starken demographischen Auswirkungen der Migrationen“ führt und geführt hat (S. 90).
Das Amerika-Kapitel (S. 92-113) wird hier vernachlässigt und soll nur in seiner (m.E.) Quintessenz für das Migrationsgeschehen der Gegenwart erwähnt werden: „Die reicheren Länder streben auch tendenziell danach, sich Einwanderer mit hohen Kompetenzen und innovativen Fähigkeiten zu sichern, wozu sie sich einer selektiven Einwanderungspolitik bedienen“ (S. 113). „Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“ oder wie ca. 150 Jahre zuvor Wilhelm Busch in einem seiner unvergleichlichen Zweizeilen die aktuelle Einwanderungspolitik prognostizierte und typisierte: „Recht gern empfängt die Musenstadt den Fremdling, welcher etwas hat“.
Was die Gegenwart und nahe Zukunft betrifft (vgl. Kapitel 8 zu „Qualvolle Gegenwart, unsichere Zukunft: 2010-2015“), spricht Bacci immer mehr von der „Globalisierung“ und ihren Etappen und Folgen, von der Vertiefung der „Kluft zwischen der reichen Welt und der armen Welt“ sowie die zunehmende „Knappheit der Humanressourcen“ in Europa. Dabei zeigt sich für Europa der Widerspruch zwischen dem Modell der „offenen Gesellschaft“ und der „geschlossenen Gesellschaft“ (Festung Europa). „Die Gesellschaft soll ‚geschlossen‘ sein, ‚aber nicht zu sehr‘, und die Gesellschaft soll ‚offen‘ sein, ‚aber nicht zu sehr‘“ (S. 121), was zur Folge hat, dass Europa „Gefahr läuft, die schlimmste und schizophrenste aller Entscheidungen zu treffen, das heißt eine de facto offene Gesellschaft mit einer Politik zu verwalten, die für eine geschlossene Gesellschaft entworfen wurde“ (S. 121) – genau dies scheint m. E. gegenwärtig in der Migrationspolitik Deutschlands der Fall zu sein (vgl. dazu Schrader et al. 2015)!
Bacci fordert als Konsequenz aus der aktuellen Migrationssituation und -debatte ein „Umdenken in Europa – von der Einwanderung als ‚Prothese‘ hin zur Einwanderung als ‚Transplantation‘“ (S. 134), d.h. Einwanderung ist ein fester, unabdingbarer und verwurzelter Bestandteil unserer Gesellschaft, der nicht mehr abgelegt oder geleugnet werden kann und der die Hauptfunktion hat, „nämlich die Stärkung des ausgedünnten demographischen und sozialen Gewebes“ (S. 135).
Im Schlusskapitel kritisiert der Autor , dass über die „Anzahl und die Eigenschaften der Menschen“, die Grenzen überschreiten, weit weniger bekannt ist als über den „Strom der Waren – deren Quantität, Qualität und Preise “ in die gleiche Richtung, obwohl „Migrationen … eine wesentliche strukturelle Komponente des demographischen, sozialen und ökonomischen Wandels“ darstellen (S. 137/139). Gegenwärtig werden dagegen „Barrieren – metaphorische wie physische – errichtet, mit der Absicht, die internationalen Flüsse zu regulieren und zu verringern“, werden die „politischen Maßnahmen restriktiver“, Quoten und Maximalwerte verhandelt, Familienzusammenführungen eingeschränkt, sinkt die Sensibilisierung gegenüber Diskriminierung von Migranten, werden „rassistische Umtriebe“ häufiger und wird parteipolitisch „Stellung gegen die Einwanderung bezogen“ (S. 139ff) und werden, wie ich im Februar 2016 ergänzen will, wieder Zäune und Mauern in Europa errichtet, „sichere Drittstaaten“ definiert und „Höchstwerte“ gefordert.
Fazit: „Opfer sind die Migranten selbst, verloren im Labyrinth der Gesetzgebungen“ (S. 149). Die Gräben innerhalb der EU werden tiefer, eine gerechte Verteilung der Lasten der Massenmigrationen ist nicht zu sehen, die Menschenrechte werden mit Füßen getreten, Solidarität, Koordinierung und Kooperation in der Flüchtlingspolitik bleiben Fremdwörter, die Ursachen der Massenflucht werden wenig bedacht und bekämpft, die Zahl der Toten im Mittelmeer und auf der Balkanroute werden nicht wesentlich geringer. All diese menschenfeindlichen und unrühmlichen Phänomene beschreibt Bacci und liefert jede Menge Daten und Fakten dazu. Quo vadis, Europa?
Diskussion
Das Buch liefert eindrucksvolle Erkenntnisse aus der historischen Demographie über Ursachen, Phänomene und Folgen der Migration, vor allem in der Neuzeit, aber auch im Blick auf ahistorische Dimensionen der Migration als Wesensmerkmal des „homo sapiens“. Gerade in Bezug auf die aktuelle politisch-mediale Debatte um die (Folgen der) Masseneinwanderung nach Deutschland liefert der Autor unschätzbare Erkenntnisse, welche die Komplexität der Wanderungsprozesse verständlicher machen. Allerdings ist die Studie überwiegend deskriptiv, d.h. ohne tiefere theoretische Durchdringung des Themas, vor allem hinsichtlich der Ursachen der Migrationen in der Gegenwart bzw. seit der „industriellen Revolution“ oder sagen wir besser: seit dem Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise. So lauten z. B. bei Bacci die letzten (!) Sätze: „Globale Kräfte treiben die Migrationen an. Die Interessenkonflikte steigern sich. Und so steigert sich auch die Notwendigkeit einer Kooperation und einer globalen Regierung“ (S. 157). Wer heute über „Globalisierung“ und „Interessenkonflikte“ als Ursachen für Massenmigrationen schreibt, aber über den globalen neo-liberalen Markt-Kapitalismus sowie über energie- und militärstrategische (Stellvertreter-) Kriege und Rüstungsexporte schweigt, hat die aktuellen Migrationsströme nicht verstanden – trotz aller humanen und gutgemeinten Absichten und Vorschläge.
Allein in einem Zitat am Ende des 5. Kapitels (1800 – 1913) werden Aspekte eines Turbo-Kapitalismus zur Erklärung von Flucht und Migration nach der industriellen Revolution aufgegriffen (S. 76/ 77): „Die ökonomische Entwicklung zerstört die Stabilität der ökonomischen und sozialen Systeme unvermeidlich durch drei Prozesse, die sich gegenseitig verstärken: die Ersetzung der Arbeit durch das Kapital, die Privatisierung und Konsolidierung des Agrarbesitztums und die Schaffung der Märkte“ mit der Folge der „Zerstörung der bäuerlichen Wirtschaft … Diese abgedrängten Bauern sind die Reserve für die inneren und die internationalen Migrationen“.
Fazit
Bacci referiert etliches historisch-demographisches Anschauungsmaterial und liefert Argumente für den Beweis, dass „homo sapiens“ immer und überall auch „homo migrans“ ist und war, dass der „Fortschritt“ der Menschheit (wenn man davon sprechen will – was ist Fortschritt?) aufs engste mit Wanderungsprozessen verbunden ist, dass Migrationen zum Wesen des Menschen gehören und in der Regel, d.h. in der Geschichte der Menschheit, ein Gewinn, nicht nur in demographischer Hinsicht, für die aufnehmenden Gesellschaften waren. Diese Erkenntnisse können auch die aktuell (vor allem medial und populistisch geförderten) grassierenden Ängste vor dem Fremden, den Einwanderern bzw. Flüchtlingen mindern und sollten stärker in die TV-Talk-Show-Runden eingehen und dort zur Sprache kommen. Doch wer dahin eingeladen wird, hält sich sicher für so wissend, dass er das Buch nicht zur Hand nehmen wird – er oder sie werden auch sicher nicht diese Rezension lesen. Cui bono?
Literatur
Schrader, Irmhild/ Joskowski, Anna/ Diaby, Karamba/ Griese, Hartmut M. (Hrsg.) (2015): Vielheit und Einheit im neuen Deutschland. Leerstellen in Migrationsforschung und Erinnerungspolitik. Frankfurt: Brandes & Apsel
Rezension von
Prof. Dr. Hartmut M. Griese
Leibniz Universität Hannover, Philosophische Fakultät, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie.
ISEF-Institut (Institut für sozial- und erziehungswissenschaftliche Fortbildung
Mailformular
Es gibt 85 Rezensionen von Hartmut M. Griese.
Zitiervorschlag
Hartmut M. Griese. Rezension vom 09.03.2016 zu:
Massimo Livi Bacci: Kurze Geschichte der Migration. Wagenbach Verlag
(Berlin) 2015.
ISBN 978-3-8031-2743-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20038.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.