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Michael Winterhoff: Mythos Überforderung

Rezensiert von Prof. Dr. phil. Barbara Wedler, 01.08.2016

Cover Michael Winterhoff: Mythos Überforderung ISBN 978-3-579-06620-2

Michael Winterhoff: Mythos Überforderung. Was wir gewinnen, wenn wir uns erwachsen verhalten. Gütersloher Verlagshaus Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH (Gütersloh) 2015. 255 Seiten. ISBN 978-3-579-06620-2. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 26,90 sFr.

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Thema

Der Autor möchte den LeserInnen den Blick auf verhängnisvolle Mechanismen lenken, die am Erwachsenwerden/ -sein hindern und dadurch nicht nur einzelne Biographien sondern auch die Gesellschaft belasten.

Autor

Als Buchautor hat sich M. Winterhoff bereits einen Namen gemacht und erlebt als Kinder- und Jugendpsychiater sowie Psychotherapeut die Facetten der kindlichen Entwicklung. Besonders intensiv setzt er sich kritisch mit veränderten Eltern-Kind-Beziehungen auseinander.

Aufbau und Inhalt

Im Prolog führt der Autor diverse Symptome auf, die der Überforderung zugeordnet werden. Winterhoff begründet seine Position zur Überforderung: sie ist ein Mythos und beruht auf Selbstbetrug.

Der Verfasser konfrontiert die LeserInnen gleich in Kapitel 1 (ASAP) mit Phänomenen, die einzelne Bürger, Familien, Unternehmen etc. belasten. Ihnen gemeinsam liegen Fehleinschätzungen zugrunde, die zu Fehlentscheidungen und letztendlich zu Fehlverhalten führen. Beispielgebend wird an einer Situation junger Eltern näher erläutert, wie sich Eltern aufgrund eigener hoher Anforderungen den Blick auf das Wesentliche, das Wohl der Kinder verstellen. Der Kreislauf Überforderung – Überreaktion – noch mehr Überforderung gerät in Gang. Und dieser Kreislauf spiegelt sich nicht nur in der Praxis des Autors, sondern in der gesamten Gesellschaft wieder. Die gesamtgesellschaftliche Problematik findet sich u.a. in einer eingeschränkten Zusammenarbeit des Autors, als Kinderpsychiater, mit den Jugendämtern. Das Verhalten der jungen Patienten soll angepasst werden, das Wesentliche wird nicht mehr gesucht und gesehen. Die Folgen sind mitunter blinder Aktionismus. In diese Kategorie gehören u.a. „absolut wichtige“ Mails. Aus der Überforderung durch Anforderungen entwickeln sich Belanglosigkeit und/ oder Ineffektivität. Der Blick für das Wesentliche, die Fragen nachdem „Wozu“ gehen verloren. Die Menschen erleben „Polytraumen“. Am Ende dieser Entwicklung steht die Unfähigkeit Entscheidungen zu treffen.

In diesem Prozess entstehen Defizite auf dem Weg zum Erwachsenwerden, deren Folgen bis in die Gesellschaft reichen. In Kapitel 2 (Der Spiegel des Narziss) beschreibt der Autor, wie das ständige Bemühen um das perfekte Images die Persönlichkeit beeinflusst. Der Kampf um das Dazugehören ist fatal. Selbstvertrauen geht verloren, Angst macht sich breit. Keine eigene Meinung, keine Entscheidungsfähigkeit, keine Verantwortung für das eigene Handeln – das sind erlebbare Folgen. Besteht eine Gesellschaft nur noch aus Personen, die ausschließlich auf sich fixiert sind, gibt es kaum noch Entscheidungen, keine inhaltlichen Auseinandersetzungen und keine Zivilcourage mehr – wie exemplarisch belegt wird.

Bitte erpress mich deutet bereits im Titel an, dass im Kapitel 3 die Freiheiten des „Do it yoursels“ Trends kontrovers diskutiert werden. Winterhoff weist sehr anschaulich nach, dass das (Über)Angebot an Möglichkeiten überfordert. Das Zuviel an erwarteten Entscheidungen führt letztendlich zur Resignation. Entscheidungen werden nicht getroffen und/ oder abgegeben. Die Menschen verlieren letztendlich ihre Willenskraft und werden manipulierbar.

Gekoppelt an die totale Selbstverweigerung setzt sich der Autor im Kapitel 4 mit dem irrealen Anspruchsdenken „moderner“ Menschen auseinander. „Die Abschaffung des nächsten Jahres“ als Titel steht sinnbildlich für irreale Bedürfnisse und vor allem die möglichst sofortige Befriedigung derer. Winterhoff stellt theoretisch wie auch exemplarisch die Notwendigkeit der Anstrengung dar und erweitert mit der Beschreibung des „Kurzfristdenkens“ einen weiteren Aspekt des nicht Erwachsenseins.

Love Machine“ symbolisiert im Kapitel 5 die Fortsetzung der Anstrengungsvermeidung: von Mitmenschen, Kindern etc. wird auch nichts mehr verlangt. Der Autor belegt gerade an Familiensituationen, wie sehr sich Rollen von Eltern und Kindern verschieben und partnerschaftlich Aufgaben diskutiert werden. Doch Helikopter-Eltern und Curling-Chefs erzeugen mit ihren Beziehungen auf Augenhöhe noch mehr Konflikte. Der Autor warnt nachdrücklich vor der Erziehung zur Faulheit und dem Absinken des Leistungsniveaus allgemein.

All die erarbeiteten Aspekte der Überforderung durch nicht Erwachsensein mündet im Kapitel 6 in der Aussage: Ich war´s nicht. Winterhoff untersucht auf verschiedenen Ebenen des privaten sowie beruflichen Lebens die Ursachen und Folgen der Vermeidung von Verantwortungsübernahme. Zusammenhänge zwischen Teamfähigkeit und einer angestrebten Fehlerkultur im Team werden systematisch analysiert.

In Kapitel 7 setzt sich der Verfasser mit dem Drang nach Selbstoptimierung auseinander, die scheinbar Kontrolle über den Körper, die Psyche und Ängste verschafft. Doch, so der Autor, die Diktatur der Angst führt Menschen in der Endkonsequenz in den Zusammenbruch.

Die bewusste Auseinandersetzung mit der Realität hilft nicht nur beim Umgang mit Ängsten, sie ist auch Merkmal des Reifungsprozesses. Erwachsensein ist kein Alter – es ist der Entwicklungsprozess, den die Persönlichkeit durchläuft. Unterstützend, so belegt in Kapitel 8, braucht es jedoch erwachsene Eltern, die sich ihrer Rolle bewusst stellen.

Die Kunst des Schnürsenkelbindens steht symbolisch für Rollenklarheit. Winterhoff setzt sich mit diversen Absurditäten auseinander wie z. Bsp. der Instrumentalisierung der Emanzipierung der Frau. Kapitel 9 endet mit einem quasi Manifest, indem Winterhoff zusammenträgt, was zum Erwachsenwerden beiträgt.

Winterhoff plädiert in Kapitel 10 für Souveränität und Selbstbestimmung. Er stellt die Frage „Was brauchst du wirklich?“ und zeigt, wie ein „Waldspaziergang“ hilft, die Antwort darauf zu finden.

Jedes begründete „Nein“ ist ein „Ja“ zum besseren Miteinander. Mit diesem optimistischen Ausblick im 11. Kapitel führt Winterhoff seine analytischen Anteile der vorherigen Kapitel zu der Erkenntnis zusammen, dass Erwachsenwerden möglich ist. Denn Nein sagen heißt ja sagen.

Die Basis für das Erwachsenwerden, die Überwindung diffuser Angst und dem Schutz vor Überforderung bildet das Vertrauen, so im 12. Kapitel. Und Vertrauen als Gegenpol zu diffuser Angst wirkt stärkend, und damit schließt der Autor den Rahmen, auf die Arbeitswelt, die Gesellschaft zurück. Und als Prozessbegleiter ist in jedem Fall in irgendeiner Form Der Bergführer richtungsgebend.

Fazit

Winterhoff begibt sich mit seinem Buch an die Schnittstelle zwischen Entwicklung der Persönlichkeit und Entwicklung der Gesellschaft. Der „rote Faden“ heißt „Nicht Erwachsensein“ mit weitreichenden Folgen bis in die Staatspolitik. Auch wenn dies nicht nach wissenschaftlichen Standards analysiert wurde, so zeichnet Winterhoff doch ein sehr deutliches Bild beobachtbarer gesellschaftlicher Phänomene. Der Bezug zu ökonomischen Zusammenhängen wirkt jedoch weniger tiefgründig. Dieses Buch kann durch eine breite Leserschaft rezipiert werden.

Winterhoff verdeutlicht mit seinem Buch, dass zum Erwachsenwerden vor allem auch die kritische Auseinandersetzung mit der Realität gehört. Jedes aufgeführte Beispiel, jede Aussage fordert zum Nachdenken und Überprüfen heraus. Dieses quasi „geistige Mitmachbuch“ macht Freude und bietet allerhand Diskussionsstoff. Unbedingt lesenswert!

Rezension von
Prof. Dr. phil. Barbara Wedler
Professur für klinische Sozialarbeit und Gesundheitswissenschaften
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Es gibt 82 Rezensionen von Barbara Wedler.

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ISSN 2190-9245