Jürgen L. Müller, Peer Briken u.a.: EFPPP Jahrbuch 2015 (Forensik)
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 17.03.2016

Jürgen L. Müller, Peer Briken, Michael Rösler, Reinhard Eher: EFPPP Jahrbuch 2015. Empirische Forschung in der forensischen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (Berlin) 2015. 191 Seiten. ISBN 978-3-95466-215-9. 49,95 EUR.
Thema
Wissenschaft und Praxis Forensischer Psychiatrie, Psychotherapie und Psychologie sind, wie andere Disziplinen auch, auf empirische Erkenntnisse, auf eine lebendige Forschungslandschaft und die Zugänglichkeit der Befunde angewiesen. Das jährliche Symposium zur „Empirischen Forschung in der forensischen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie“ ermöglicht einen wesentlichen Beitrag zum Theorie-Praxistransfer. Die in Anlehnung an das Symposium publizierte Jahrbuchreiche ist ein mittlerweile (vgl. https://www.socialnet.de/rezensionen/14377.php) etabliertes Kompendium der aktuellen Forschungstätigkeiten der forensischen Wissenschaftsdisziplinen im deutschsprachigen Raum. Die Jahrbücher protokollieren neueste empirische Erkenntnisse aus den Bereichen Risikoeinschätzung und Vollzugsplanung, Schizophrenie und Delinquenz, Mechanismen der Psychopathie, ADHS und Delinquenz, sowie Pädophilie und sexueller Missbrauch.
Herausgeber und AutorInnen
Die Herausgeber arbeiten als Lehrende und Forschende im Institut für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie der Georg-August-Universität Göttingen (Müller), im Institut für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie am Uniklinikum Homburg (Rösler), dem Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg (Briken) und in der Begutachtungs- und Evaluationsstelle für Gewalt- und Sexualstraftäter des Bundesjustizministeriums in Wien/Österreich (Eher).
Die VerfasserInnen der Einzelbeiträge arbeiten als Hochschullehrende, bzw. wissenschaftlich Mitarbeitende an Universitäten und Fachinstituten in Deutschland, der Schweiz und Österreich.
Aufbau
Das Jahrbuch 2015 behandelt in fünf Abschnitten die Aspekte
- Schizophrenie und Gewalt
- Behandlung, Lockerungsentscheidungen und Prognose
- Aktuelle Ansätze in der forensischen Forschung und Diagnostik
- Recht und Vollzug
- Forschung zur Diagnostik der Pädophilie.
Ein zusätzlicher Abschnitt erläutert die Preisnamenstifter und Preisträger der von den Fachgesellschaften vergebenen Forschungspreise.
Zu 1. Schizophrenie und Gewalt
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Schizophrenie und Gewalt? Zahlreiche Studien belegen, dass die Mehrzahl an Schizophrenie erkrankter Personen nicht strafrechtlich in Erscheinung tritt. Allerdings erscheint eine Subgruppe psychisch kranker Straftäter besonders belastet und weist ein erhöhtes Risikopotential für schwere Straftaten auf. Der erste Abschnitt gibt einen Einblick in zwei Forschungsprojekte, die diese Thematik aufgreifen. Pia Hollerbach untersuchte dazu eine Stichprobe von aus dem Schweizerischen Maßregelvollzug (N=54) entlassenen Patienten und fußt auf der Analyse der in den Gerichts- und Unterbringungsverfahren erstellten Patientenakten, Gutachten und Gerichtsurteile. Als Auswertungsraster kam ein in der forensischen Forschung bewährter Kriterienkatalog für schizophrene Rechtsbrecher zur Anwendung. Als vorläufiges Ergebnis berichtet die Autorin zwei Subtypen von schizophrenen Straftätern, die sich vorwiegend im Hinblick auf das Alter bei Erstdelinquenz, soziale und strafrechtliche Vorgeschichte sowie Delikttypus und Opferwahl unterscheiden. Die beide Gruppen werden als „early starters“ (früher Beginn antisozialer Merkmale, frühe Straffälligkeit) und „late starters“ (kaum/keine Vordelinquenz, schwere Verbrechen in engem zeitlichen Zusammenhang mit Ausbruch der Erkrankung vorwiegend gegen enge Bezugspersonen) klassifiziert, was unterschiedliche Behandlungsinhalte und -strategien (verhaltensorientierte Strategien die auf antisoziale Merkmale zielen, bzw. gezielte Behandlung der akuten psychotischen Symptomatik) impliziert.
In einer weiteren Studie (N=102) zeigt Nikolaos Miserlis auf, dass spezifische zusätzliche Risikofaktoren (Alkohol- und Drogenkonsum, Psychopathie) die Wahrscheinlichkeit von Straftaten erhöhen. Er leitet daraus ebenfalls ein differenziertes therapeutisches Vorgehen ab, das vor allem auf die kriminogenen Faktoren abzielt, bzw. Kompetenzen im Umgang mit der Psychoseerkrankung vermittelt.
Zu 2. Behandlung, Prognose und Vollzugslockerungen
In fünf Beiträgen werden aktuelle Fragestellungen aus dem Bereich Behandlung, Prognose und Vollzugslockerungen behandelt. Jan Bulla fragt beispielsweise „Behandeln forensische Ambulanzen die ‚Falschen‘“? Der Beitrag basiert auf einer Studie der Arbeitsgruppe Prozessoptimierung und Qualitätssicherung im MRV Baden-Württemberg und beschäftigt sich mit den Wirkeffekten ambulanter forensischer Versorgung. Das Datenmaterial gibt Hinweise darauf, dass die dort behandelten Patienten nicht „gefährlicher“ als eine Vergleichsgruppe sind, die Patienten mit einer diagnostizierten Persönlichkeitsstörung dort unterrepräsentiert seien, woraus der Autor den Schluss zieht, dass in solchen Spezialambulanzen verstärkt solche Patientengruppen berücksichtigt werden sollten. Eine weitere Studie, vorgelegt von Sven Hartenstein erhebt den Bedarf von Behandlungsmaßnahmen im Jugendstrafvollzug in Sachsen. Die Erhebung gibt einen ersten Überblick zum spezifischen Bedarf in diesem Bereich, z. B. hinsichtlich Sprach- und Integrationskursen, schulbildende Maßnahmen, oder delikt- und störungsbezogenen Angeboten. Dem Themenkomplex Lockerungsentscheidungen im Maßregelvollzug widmet sich eine Studie von Kristina Wedler und anderen. Die Studie dient zur Identifizierung standardisierter und operationalisierter Faktoren zur Verbesserung der Zuverlässigkeit von kurz- und mittelfristigen Prognose- und Lockerungsentscheidung. Die vorgelegte Checkliste enthält Angaben zu soziodemografischen Variablen, psychopathologischen Aspekten und erfasst Merkmale des Behandlungsverlaufs. Erste Validierungsmaßnahmen wurden durchgeführt, eine abschließende Prüfung der erarbeiteten Checkliste steht derzeit noch aus.
Eine Autorengruppe um Dahlnym Yoon, Mitarbeiterin am Institut für Forensische Psychiatrie der Charité Berlin berichtet erste Ergebnisse der Evaluation der Sozialtherapeutischen Anstalt Hamburg. Die Studie erfasst durch den Einsatz prognostischer und testpsychologischer Instrumente dynamische und protektive Faktoren Prä-Postveränderungen im Zuge der sozialtherapeutischen Intervention und gibt erste Hinweise darauf, dass der Einfluss risikorelevanter Merkmale durch die sozialtherapeutische Behandlung substantiell reduziert werden konnte.
Ein weiterer Beitrag befasst sich mit ersten Ergebnissen zur prädiktiven Validität der deutschen Version der „Violence Risk Scale: Sex Offener Version – VRS:SO“, einem Beurteilungsinstrument zur Erfassung dynamischer Merkmale im Zusammenhang von pädophiler Orientierung und Deliktrisiko. Die Studienergebnisse, welche im Überblick vorgestellt werden, weisen darauf hin, dass die VRS:SO eine gute Vorhersagegüte für sexuelle Rückfalltaten von pädosexuellen Kindesmissbrauchern aufweist.
Zu 3. Aktuelle Ansätze
In vier Beiträgen werden aktuelle Ansätze der forensischen Forschung und Diagnostik vorgestellt. Die Frage nach einem Zusammenhang zwischen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und der Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung wird hier in zwei Beiträgen aufgegriffen. Lisa Giesen u. a. fragen nach einem solchen Zusammenhang in Bezug auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die untersuchte Stichprobe, 110 inhaftierte Straftäterinnen im Regelvollzug weist mit dem zur Anwendung gekommenen Studiendesign keinen sicheren Zusammenhang zwischen den beiden Störungsbildern auf, allerdings werden differenzialtherapeutische Überlegungen diskutiert, welche für Behandlungsfragen und -planung relevant sein können.
Lisa Jacob u. a. fokussieren in ihrem Aufsatz auf den Zusammenhang von ADHS und Psychopathie. Die durch eine Sekundäranalyse forensisch-psychiatrischer Gutachten gewonnenen Daten beschreiben einen mäßig signifikanten Zusammenhang zwischen den Störungsbildern.
Zwei weitere Beiträge befassen sich in einem Überblicksartikel mit der Funktionsweise, den Wirkmechanismen und klinischen Anwendungsmöglichkeiten von Neurofeedback bei der Behandlung forensischer Patienten und der Relevanz neuropsychologischer Testverfahren für die forensische Diagnostik, einem Ansatz der untermauert durch die vorliegende Studie, eine größere Bedeutung in der forensischen Diagnostik zukommen könnte.
Zu 4. Recht und Vollzug
In diesem Abschnitt werden zwei Studien zur Strafrechts- und Vollzugspraxis im deutschsprachigen Raum zusammengefasst. Johannes Fuß, Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, berichtet über eine aktuell abgeschlossene Studie, in der geprüft wurde, inwieweit neurobiologische Störungsmodelle sich auf die richterliche Urteilsfindung auswirken können. Die mit dem „Hermann-Witter-Preis“ ausgezeichnete Studie zeigt anhand einer in Deutschland durchgeführten Onlinebefragung mit 372 Richtern, dass die Verurteilung von Straftätern mit einer Psychopathie in Deutschland viel geringer durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse zur Biologie der Erkrankung beeinflusst wird als im europäischen Ausland, insbesondere keine Auswirkungen auf das Strafmaß bestehen.
Trends im österreichischen Maßnahmenvollzug berichten Martin Kitzberger und Kollegen auf Grundlage einer qualitativ-empirischen Erhebung. Die Daten stützen sich auf psychiatrische Stellungnahmen zur Entlassung und zeigen, dass die Empfehlungen für eine Fortdauer der Unterbringung wenig oder uneinheitlich mit der systematischen Erfassung der spezifischen Gefährlichkeit der Untergebrachten verknüpft sind und Defizite im Übergangsmanagement und in der Gestaltung sozialer Entlasssettings bestehen.
Zu 5. Diagnostik der Pädophilie
Der umfangreiche Abschnitt stellt unterschiedliche diagnostische Strategien zur Erfassung einer pädophilen Ausrichtung bei Sexualstraftätern vor. Die Beiträge geben einen Einblick in ein Verfahren zur Erfassung sexueller Präferenzen mithilfe der Viewing-Time-Methode, der Differenzierung pädophiler und nicht-pädophiler Missbrauchstäter durch eine Screenings-Skala pädophilen Tatverhaltens, berichteten über Zusammenhänge zwischen Gehirnstruktur und -Funktion bei pädophilen Maßregelpatienten, Problemen der diagnostischen Differenzierungen im DSM-IV und der Schuldfähigkeitsbeurteilung bei paraphiler Störung anhand operationalisierter Kriterien welche im Rahmen einer Pilotstudie erprobt wurden.
Im letzten Abschnitt werden die Preisnamenstifter und Preisträger von Forschungspreisen der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, der Südwestdeutschen Akademie für Forensische Psychiatrie und der Asklepios Niedersachsen GmbH vorgestellt. Die Texte würdigen die wissenschaftliche Bedeutung der Namenstifter Eberhard Schorsch, Herrmann Witter und Ludwig Meyer, sowie den Forschungsbeitrag der letztjährigen Preisträger.
Zielgruppe
Als Zielgruppen werden von den Herausgebern alle im Feld der Forensischen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie und dem weiteren beruflichen Umfeld (Strafvollzug, Bewährungshilfe, Verwaltung, Politik und Justiz) tätigen ExpertInnen aus den Bereichen Psychiatrie, Psychologie, (Straf)recht, Soziale Arbeit benannt.
Diskussion
Der Bedarf empirischer Forschungserkenntnisse im Bereich der Forensischen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie ist enorm. Die Praxis benötigt weiterhin verlässliche Grundlagen für Diagnostik, Kriminalprognose, Behandlungsplanung und -evaluation. Diese Aspekte werden mit dem aktuellen Jahrbuch aufgegriffen und bieten z. T. neue praktische Ansatzpunkte. Auch wenn es sich bei den hier vorgestellten wissenschaftlichen Ergebnissen teilweise um vorläufige Zwischenberichte oder auch explorative Studien zur Erfassung eines Aspekts handelt, ist der Ertrag für die Praxis forensischer Psychiatrie erheblich, ringt die Disziplin doch nach wie vor um Glaubwürdigkeit und Transparenz, welche durch eine konsequente Theorie-Praxis-Verschränkung am ehesten erreicht werden kann.
Für die wissenschaftliche Forschung besteht zudem die Möglichkeit, ihre Leistungsfähigkeit einem breiteren Publikum, jenseits von rein universitär interessierten Fachkreisen zu präsentieren. Dies geschieht hier in durchweg gut lesbarer Form, so dass auch wissenschaftlich weniger vorgebildete Praktiker profitieren werden. Durch die regelmäßige Auslobung der hier versammelten Forschungspreise erfolgt gleichzeitig eine nachhaltige Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, ein Umstand der den nachhaltigen Ausbau der wissenschaftlichen Bemühungen in der Forensischen Psychiatrie befördern wird, auch unter dem Aspekt von Wettbewerb zwischen den Forschungsinstitutionen.
Ein besonderer Schwerpunkt des aktuellen Jahrbuchs liegt in der Behandlungsforschung. Fragen nach Wirkeffekten, Therapiestrategien und sicherheitsrelevanten Interventionen stehen hier im Vordergrund; Fragestellungen welche direkt mit der Praxis der Straftäterbehandlung verknüpft sind und deren Beantwortung dazu beitragen wird, eben diese Praxis Schritt für Schritt weiter zu optimieren. Erstmals werden dabei auch Fragen sozialer Wirkfaktoren, z. B. im Übergangsmanagement oder bei der Planung sozialer Empfangsräume für Patienten im Übergang von stationärer in ambulante Behandlung bearbeitet. Ein für die Zukunft der Forensischen Psychiatrie wesentliches Thema, das noch weitgehend unerforscht ist.
Fazit
Die Jahrbuchreihe stellt ein wichtiges und mittlerweile bewährtes Projekt zur wissenschaftlichen Fundierung der Forensischen Psychiatrie dar. Der aktuelle Band behandelt Fragen der forensischen Diagnostik, Behandlungsplanung, Veränderungen im Bereich der Rechtsprechung und Vollzugsgestaltung und in einem umfassenden Abschnitt Aspekte der Diagnostik paraphiler Störungen. Für wissenschaftliche orientierte PraktikerInnen in diesem Feld sind die Jahrbuchreihe und besonders der aktuelle Band ein Muss, wenn der Transfer empirischer Forschungsergebnisse in die Praxis der Straftäterbehandlung gelingen soll.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 171 Rezensionen von Gernot Hahn.
Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 17.03.2016 zu:
Jürgen L. Müller, Peer Briken, Michael Rösler, Reinhard Eher: EFPPP Jahrbuch 2015. Empirische Forschung in der forensischen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
(Berlin) 2015.
ISBN 978-3-95466-215-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20050.php, Datum des Zugriffs 09.12.2023.
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