Christian Philipp Nixdorf: Gekonnte Beliebigkeit – (professionelles Handeln in der Schulsozialarbeit)
Rezensiert von Dipl.Päd. Werner Glanzer, 13.02.2017

Christian Philipp Nixdorf: Gekonnte Beliebigkeit – Möglichkeiten und Herausforderungen des professionellen Handelns in der Schulsozialarbeit. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2015. 607 Seiten. ISBN 978-3-8300-8629-1. D: 139,80 EUR, A: 143,80 EUR, CH: 188,00 sFr.
Autor und Entstehungshintergrund
Christian Philipp Nixdorf legt mit seiner Dissertationsschrift an der Universität Hildesheim einen Beitrag zur Schulsozialarbeit vor. Veröffentlicht wurde sie im Verlag Dr. Kovač, einem Fachverlag zur Veröffentlichung von Dissertationen, Habilitionen, Festschriften und Tagungsbänden.
Thema
Anhand geführter und ausgewerteter Interviews diskutiert und analysiert der Autor die Praxis der Schulsozialarbeit. Dazu wurden 29 Schulsozialarbeitende in Niedersachsen im Rahmen einer qualitativen Erhebung mittels leitfadengestützter Interviews befragt. Die Altersspanne der Befragten, die er als Schulsozialarbeitende bezeichnet, liegt zwischen Anfang 20 bis Mitte 60 Jahren.
Die dafür ausgewählten Schulen befanden sich ausschließlich in Niedersachsen, sowohl in Großstädten als auch in Städten mit weniger als 5000 Einwohnern. Die Schularten waren gestreut: Berufsschulzentren, Grund- und Hauptschulen, Förderschulen, Realschulen sowie Gymnasien. Die gestellten Fragen bezogen sich auf Autonomie, Zuständigkeit, Kooperation, Selbstbild, Zufriedenheit und Professionalität. Der Autor legt seine wissenschaftliche Vorgehensweise genau dar (Transkribieren, Code-System).
Schulsozialarbeitende in anderen Bundesländern hätten sich wahrscheinlich ähnlich geäußert, so der Autor. Die Bezeichnung ‚Schulsozialarbeitende‘ ist mit Absicht gewählt, da der Autor nicht wissen will, wer Schulsozialarbeit machen sollte, sondern wer sie macht. Er fasst die unterschiedlichen beruflichen Zugänge daher unter diesem Begriff zusammen.
Seine Forschungsziele definiert er in vier Punkten (S.21):
- Was sind vor- und nachteilige Arbeitsbedingungen,
- wie zufrieden sind die Schulsozialarbeitenden mit sich und ihrer Arbeit,
- welches Verständnis von Professionalität haben sie,
- welche Rückschlüsse auf schulsozialarbeiterische Professionalität lassen sich aus dem Ganzen ziehen.
Aufbau
- Kapitel 1 soll eine Art Vorspiel sein mit der Einordnung von Schulsozialarbeitenden als tragikomischen Figuren,
- Kapitel 2 zeigt das methodische Vorgehen,
- Kapitel 3 beleuchtet die Arbeitsbedingungen der Schulsozialarbeitenden,
- Kapitel 4 relativiert die eindeutige Akzentuierung der Arbeitsbedingungen als ‚gut oder ‚schlecht‘,
- Kapitel 5 zeigt die arbeitserleichternden und positiven Aspekte auf,
- Kapitel 6 thematisiert, dass Schulsozialarbeitende einen Balanceakt im Dazwischen zu vollziehen haben.
- Im Kapitel 7 geht es um das professionelle Selbstverständnis, also welches Verständnis von Professionalität haben die Schulsozialarbeitenden selbst und schließlich wird im
- Kapitel 8 ein Fazit gezogen: „Metaphorisch gesagt, werden im Fazit die Fäden, die das Gewebe aus Vermutungen bilden, das in dieser Arbeit gewoben wurde, verknüpft….Ich erschaffe in der vorliegenden Forschungsarbeit ein Gewebe aus Vermutungen. Die Webstruktur hat sich so, wie sie hier verschriftlicht ist, nach sorgsamer Analyse des Datenmaterials im Laufe von gut 4 Jahren entwickelt.“ (S. 21)
Inhalt
Die vorliegende Forschungsarbeit wird laut Nixdorf mittels Dramatik und Theatralik strukturiert, die Analysen sollen aber gleichwohl rational und nicht emotional sein. Nahe dran sein am Forschungsgegenstand heißt für ihn: 29 Schulsozialarbeitende aus Niedersachsen wurden interviewt und spitzten selbst dramatisch zu, schilderten Dinge, die theatralische Assoziationen wecken, und führten im Rahmen ihrer professionellen Selbstdarstellung ein Schauspiel auf.
Den Leser erwarten dann von Seite 90 bis zur Seite 520 eingestreute und ausgewählte Aussagen der befragten Schulsozialarbeitenden zu Facetten der täglichen Arbeit, deren Einordnung und Bewältigung. Den Schilderungen der Schulsozialarbeitenden und ihren Zitationen wird viel Platz eingeräumt. Ich als Autor, so Nixdorf, beschränke mich darauf, das gesagte zu schildern, es hinsichtlich der Relevanz zu beurteilen, es zu kontextualisieren, so dass Übereinstimmungen, Widersprüche und auch Rätsel sichtbar werden. Ich bringe das Gesagte in Form und informiere die Leser darüber, was Schulsozialarbeitende zu sagen haben, andeuten oder was sie im vagen lassen. Meine Informationen basieren auf Analysen, die nicht durch meine Beobachtung, sondern primär durch meine Interpretation des mir berichteten zustande kamen. Zum großen Teil reflektiere ich die von Schulsozialarbeitenden geschilderten Selbstdarstellungen. Salopp gesagt ist es mein Ansinnen, so der Autor, zu schildern, welchen Reim man sich aus der Aufführung machen kann, die die Schulsozialarbeitenden präsentieren. Diese nehmen aber nicht nur die Befragten selbst vor sondern auch der Autor, der, wie angekündigt, jeweils Überthemen und Konnotation herstellt sowie Deutung anbietet. Deswegen werden vom Autor auch theatralische Konnotierungen vorgenommen.
Trotzdem soll Wissenschaftlichkeit nicht ausgeschlossen sein. Die selbst gestellte Frage: „Was bedeutet es, sachlich zu sein?“ wird dahingehend beantwortet, dass der nach Erkenntnis strebende Forscher allein der Sache verpflichtet ist. Es bedeutet, dass der Forscher sich bei der Erforschung nicht mehr als unbedingt nötig durch Konventionen einschränken lässt. Ein Rekurs auf Goethes „Faust“ wird vom Autor aus Spaß an der Freude und aus wortspielerischen Gründen vorgenommen. Was hat Schulsozialarbeit mit Goethes Werk zu tun? Sowohl von Faust als auch von Schulsozialarbeitenden kann nach Nixdorf als jeweils tragikomischen Figuren gesprochen werden. Der Rekurs auf das Faust‘sche oder eben auch schulsozialarbeiterische: Nur Veränderung ist beständig; dazu wird munter gesprungen z.B. zwischen Faust und Luhmann. Die Faktizität der Umwelt zwingt dazu, sich in Antizipation ständig mit zu verändern. Die Interviewten rekurrieren auf ihr Tun, ihr Tun ist es, was sie mit Professionalität assoziieren. Ihr Tun ist es, worüber sie sich als Fachkräfte definieren. Nicht ohne Grund wollen manche Autoren Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft verstanden wissen, so Nixdorf, also als Wissenschaft vom rechten Tun. Theatralisch gesprochen: Der Worte sind genug gewechselt, also lasst mich auch endlich Taten sehen. Das Goethe-Zitat sei das schulsozialarbeiterische Paradigma par excellence, so der Autor.
Wie ein Moderator führt Nixdorf durch die Themen. Die Bewältigung des Alltags mit den Herausforderungen, reflektiert methodisch zu handeln, Statusunsicherheit in der Schule, persönliche und professionelle Ausrichtung bilden hierbei die Kernpunkte. Um diese herum thematisiert der Autor allgemeine Fragen wie z.B. „was ist Professionalität“. Bei den Befragten bleibend nennt er 17 Punkte, die ihn beeindruckt haben und die er als Exzerpt von Professionalität anführt (S. 524-525). Er reflektiert und vergleicht wissenschaftliche Erkenntnisse dazu mit der vorgefundenen Praxis. Dies konkludiert er zum Ende der Arbeit zusammenfassend und einordnend. Er versteht Schulsozialarbeit als eine Sammelstelle höchst unterschiedlicher Dinge, sie ist für ihn Serendipität, entsteht aus gesammeltem Nichts und entwickelt daraus Etwas. Das Uneindeutige, mehrfache, nicht fassbare und doch vorhandene. Schulsozialarbeit ist ein Mülleimer voller umgesetzter, halbumgesetzter, verworfener und kreativ adaptierter Ideen, in ihr lässt sich rumwühlen. „Der Müll arbeitet, er gärt vor sich hin, aus ihm entsteht Neues.“ (S.561) Im Kapitel 8.7 zieht der Autor ein Fazit mit der Überschrift: „Schulsozialarbeit – Ein tragikomisches Schauspiel“ (S.563).
Die diffuse Disziplinlosigkeit der Schulsozialarbeit bringt nach Nixdorf den professionellen Dilettanten hervor, dessen Berufung Agieren ist. Dieser Pragmatismus sei Trumpf und Fluch zugleich. Er weist auf die prekäre Lage, die dadurch entsteht, dass bisher rechtlich nur Kooperationsangebote von Schule an Jugendhilfe diskutiert werden aber kein Kooperationsangebot von Schule und Schulsozialarbeit. „Die Sozialarbeitenden müssen sich paradoxerweise zu Nicht-Professionellen erklären, um Professionelle werden zu können.“ (S.567) Die aus der Praxis erkannten Notwendigkeiten (feste Etablierung an allen Schulen, angemessen dotiert, Anerkennung eines eigenen Expertisebereiches) liegen in ihrer Umsetzung nicht in der Macht der Schulsozialarbeitenden. Aber trotzdem erkennt der Autor eine hohe Gesamtzufriedenheit bei den befragten Schulsozialarbeitenden im Arbeitsfeld.
Diskussion
Das Buch ist vor allem eine Praxisschau, eine Safari mit Reiseführer, die individuelle Lösungen und Bewältigungen im handelnden Alltag aufzeigt. Schulsozialarbeit von unten her definiert: Die Praxis sagt, was es ist. Die Frage, die der Autor sich in Anlehnung an Faust stellt: Was ist hinsichtlich sozialarbeiterischer Professionalität des Pudels Kern?. Gleichzeitig warnt er davor, sich an best-practice zu orientieren, da diese nichts über Professionalität aussagt und es zudem eine Vielzahl von good practice gibt, die nicht standardisiert werden kann. Schulsozialarbeit bezeichnet er als ein handlungsstarkes Kompetenzschauspiel. „Die Frage, was Schulsozialarbeit ist, wurde aber nicht gestellt. Das zu tun schien mir nicht nötig, denn ich habe wie selbstverständlich vorausgesetzt, dass schon irgendwie klar sei, was Schulsozialarbeit ist.“ (S. 539) und auf Seite 549: „Nochmals auf den Punkt gebracht gilt: Schulsozialarbeit ist irgendwie alles, was Schulsozialarbeitende tun.“ Dieser Zugang, über die Beschreibung der Praxis Schulsozialarbeit zu definieren, nimmt einiges in Kauf: Es bleibt gleich, wer es tut, es kommt darauf an, was er wie tut, dann leiten wir daraus den Sinn ab. Die vom Autor getroffene Allgemeinaussage, Schulsozialarbeit sei alles, was Schulsozialarbeitende tun, offenbart auch die Grenzen des Beitrags. Schulsozialarbeitende bringen durch ihre Vorbildung und durch ihr Wissen unterschiedlichste Grade der Reflexion und des beruflichen Selbstverständnisses und des beruflichen Könnens mit. Sie haben auch unterschiedliche Berufsaufträge. Dass sich in der Praxis all dies auf unterschiedlichen Niveaus abspielt, so wie der Autor es authentisch dokumentiert und erforscht hat, ist ein Ergebnis der mangelnden Auseinandersetzung damit, was sich hinter dem Kunstbegriff „Schulsozialarbeit“ und seiner Funktion verbirgt. Der Autor konzentriert sich vor dieser Lücke darauf, wie professionelles Handeln in der Schulsozialarbeit mit dem von ihm gewählten Zugang beschrieben werden kann.
Fazit
Die vorliegende kunstvolle und auch künstliche Inszenierung einer Forschungsarbeit zur Schulsozialarbeit stellt weniger das Theater, das Bühnenbild, die Regie in den Vordergrund, stattdessen mehr die Kostüme der Protagonisten in den einzelnen Szenen, um im Sprachbild des Autors zu bleiben. Über Schulsozialarbeit sagt sie aus, dass es da etwas gibt, was sich vor allem in der Praxis zeigt, aber eben auch nicht genau. Über Akteure in einem Feld sagt sie aus, wie diese sich alltäglich darstellen und definieren.
Die undifferenzierte Zusammenfassung unterschiedlicher Berufe zu Schulsozialarbeitenden folgt dem Weg, aus der Praxis die Theorie abzuleiten. Die damit verbundene kunterbunte Akzentuierung der Arbeitsinhalte wird so lediglich abgebildet. Allen Unentschlossenen und Voyeuren, die einen Praxisblick wollen, zeigt das Buch die verborgenen Seiten des Alltags von handelnden Nicht-LehrerInnen in niedersächsischen Schulen. Strukturelle Fragen werden eher nicht behandelt, wenn, dann oft auch in Fußnoten. Diese sind aber durchaus interessant. Ist das ein neuer Beitrag zur Schulsozialarbeit? Irritierend ist die Verflachung, die teilwiese entsteht. Wenn der Autor Schulsozialarbeit als die Kunst des gelebten Pragmatismus einordnet (S.42), gleichzeitig fragt: ‚Wie wirklich ist die Wirklichkeit von Schulsozialarbeit‘, werden die Grenzen der Arbeit deutlich. Wenn Schulsozialarbeit Kunst wäre, wären Schulsozialarbeitende Künstler, Künstler leben von ihrem Talent, ihren Eingebungen. Damit aber sagt er das aus, was er nicht vorgibt aussagen zu wollen, die Beantwortung der Frage „Was ist Schulsozialarbeit?“. Dies liegt danach allein bei den Schulsozialarbeitenden und darin, wie sie den Alltag gestalten und bewältigen. Dies war auch sein Erkenntnisinteresse.
Mir scheint das Buch vor allem ein Selbstfindungsprozess auch für den Autor, der über den intimen Einblick in Praxis und die unterschiedlichen Verhaltensoptionen durch Berufsrollenvorbilder in dieser Praxis für sich selbst entscheidet: Ich bin Sozialarbeiter. Ich bin ein sozial Arbeitender. Also eine Selbstvergewisserung über eine sinnhafte Berufswahl, auch wenn dieser Beruf (der ja letztlich von ihm nicht näher definiert wird), durchaus erschwerte und herausfordernde Praxisbedingungen vorfindet. Erstaunt hat mich auch in der vielfältigen Literaturangabe zur Schulsozialarbeit doch Autoren wie z.B. H.G. Holtappels oder Piotr Salustowicz nicht zu finden. Die Gliederung zu Beginn des Buches ist fast undurchdringlich und wenig strukturierend, eher eine fortlaufende Aufzählung.
Rezension von
Dipl.Päd. Werner Glanzer
Dipl.Soz.päd./Sozialarbeiter, Supervisor, Lehrbeauftragter an der ASH Berlin, Arbeitsfeld Schulsozialarbeit
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Zitiervorschlag
Werner Glanzer. Rezension vom 13.02.2017 zu:
Christian Philipp Nixdorf: Gekonnte Beliebigkeit – Möglichkeiten und Herausforderungen des professionellen Handelns in der Schulsozialarbeit. Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2015.
ISBN 978-3-8300-8629-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/20076.php, Datum des Zugriffs 04.12.2023.
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